Die Literaturkritik liebte ihn nicht, dafür Millionen Leser rund um die Welt. Werke wie Demian, Siddartha, oder Der Steppenwolf wurden Kult und Hermann Hesse zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren überhaupt. Der Erhalt des Literaturnobelpreises 1946 – obschon umstritten – zementierte sein Vermächtnis endgültig. Ein Autor dieses Formats darf selbstverständlich in keiner gut sortierten Bibliothek deutschsprachiger Klassiker fehlen. Genau darum bilden zwei Werke Hesses Anfang und Ende einer kleinen, feinen Schweizer Publikationsreihe, herausgegeben von Bücherliebhabern aus Olten.
Artikeltext:
Moderne Bibliophilie
Olten, 1936. In der beschaulichen Schweizer Kleinstadt, fernab von jeglicher weltliterarischer Bedeutung, wird eine Vereinigung gegründet. Die VOB, Vereinigung Oltner Bücherfreunde. Der kaufmännische Angestellte William Matheson und sieben weitere Bücherfreunde wollen große Literatur in die kleine Stadt holen. Sie nehmen sich vor, „die Liebe und das Verständnis für das Buch mit wertvollem Inhalt in schöner Form“ zu fördern und „mustergültige Drucke unter Berücksichtigung der Einbandkunst“ herauszugeben. Der Kleinverlag, geführt aus einer 4-Zimmer-Wohung, bringt zwischen 1936 und 1965 genau 100 Werke heraus, dazu 22 Sonderausgaben und „Liebhaberdrucke“. Der Herausgeber Matheson baut außerdem im Laufe seines Lebens eine beeindruckende Autographensammlung auf.
Eher ungewöhnlich an dem Oltner Bücherprojekt ist, dass sich das bibliophile Interesse ganz der modernen Literatur widmet. Mathesons Sammlung beginnt mit dem Barock relativ spät und führt über Klassik und Romantik bis hin zu den zeitgenössischen Schriftstellern, dem sein besonderes Augenmerk gilt. Der Verlag macht es sich zur Aufgabe, das Schönste und Beste der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur abzubilden. So lauten die Auswahlkriterien für die Aufnahme ins Programm wie folgt: Die Autoren müssen noch leben, sie müssen auf Deutsch schreiben und es muss sich um Erstveröffentlichungen oder Erstausgaben in Buchform handeln.
Matheson, Hesse und die Liebe zum Unfertigen
Zu diesen wichtigen, zeitgenössischen Autoren zählte auch Hermann Hesse. In der VOB-Reihe erschienen alle paar Jahre neue Texte des Autors. Ihm kommt sogar die besondere Ehre zuteil, mit Nummer 1 und Nummer 99 das Projekt gewissermaßen zu rahmen. Dabei spielt es sicherlich eine Rolle, dass Hesse und Matheson beide nicht nur das Lesen, sondern die Leidenschaft des Büchersammelns verband – auch Hesse sammelte Autographen und thematisierte das Büchersammeln in vielen seiner Texte. Zu den Hessebänden aus der Oltner Bibliothek gehören unter anderem Der Novalis. Aus den Papieren eines Altmodischen (1940), Feuerwerk (1946), Freunde. Erzählung (1957), und Ärzte. Ein paar Erinnerungen (1963).
Jetzt wundern Sie sich vielleicht, warum Ihnen all diese Titel nichts sagen. Die großen Verkaufsschlager von Hesse sind es jedenfalls nicht! Und das ist Absicht. Denn Matheson wollte nicht nur Texte und Autoren publizieren, die eh schon weithin bekannt waren, sondern insbesondere solche, die es (noch) nicht waren. Er hatte eine Vorliebe für unveröffentlichte Texte, Fragmente und Unvollständiges. Auch das verband ihn mit Hesse, der in seinem Geleitwort zur ersten Oltner Ausgabe schrieb: „Einem kleinen Kreis von Bücherfreunden und guten Lesern mag von Interesse sein, gelegentlich neben den fertigen und jedermann zugänglichen Werken eines Autors auch ein unvollendetes, einen Torso kennenzulernen.“ Diese erste Ausgabe war – Sie können es sich schon denken – natürlich auch eine unvollendet gebliebene Dichtung Hesses. Das Haus der Träume erschien in kleiner Auflage von nur 100 Exemplaren ausschließlich in der VOB-Reihe und hat inzwischen für Hessesammler echten Seltenheitswert.
(K)ein Paradies: Autobiographischer Hintergrund der Erzählung
Auch bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine bis dahin unveröffentlichte Erzählung, die in Hesses Nachlass entdeckt und 1965 als „Oltner Liebhaberdruck“ herausgegeben wurde. Schauplatz und Geschichte des Erwin haben große Ähnlichkeiten mit dem schon früher veröffentlichten Roman Unterm Rad (1906) und beide speisen sich aus realen Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend des Autors. Hesse, der Sohn einer evangelischen Missionarsfamilie, zeigte früh eine hohe intellektuelle Begabung, sollte die Theologenlaufbahn einschlagen und wurde zu diesem Zweck auf das theologische Seminar im Kloster Maulbronn geschickt. Doch er sträubte sich gegen die elterlichen Pläne, wollte einem viel zitierten Ausspruch zufolge „entweder ein Dichter oder gar nichts“ werden. Er rebellierte, widersetzte sich den Schulregeln, litt an depressiven Verstimmungen und unternahm sogar einen Suizidversuch, der zur Einlieferung in die Nervenheilanstalt führte.
Die Parallelen zur Erzählung Unterm Rad sind unverkennbar. Der hochbegabte Hans Giebenrath, tragischer Held der Geschichte, wird von Lehrern und Eltern immer wieder bis an seine Grenzen getrieben, bis er unter dem anhaltenden Leistungsdruck zusammenbricht. Erst verlässt er das theologische Seminar zugunsten einer Mechanikerlehre, dann findet man ihn nach einer durchzechten Nacht tot im Fluss auf. Ob es ein Unfall ist oder Suizid, bleibt ungeklärt. Hier zeigt ein Bildungsroman eindrücklich, wie ein junger Mensch am Ehrgeiz seiner Umwelt kaputtgeht, wie er „unter’s Rad kommt“, in einem Bildungssystem, das keinen Raum für die Eigenheiten des Individuums bietet.
Die Thematik muss Hesse lange begleitet haben, denn auch Erwin eröffnet am Schauplatz eines Klosters, das eindeutig auf das Kloster Maulbronn anspielt, dessen Vorhalle auch als ‚Paradies‘ bezeichnet wird: „Wie ein dunkler Grenzturm liegt zwischen den Spielplätzen meiner Kindheit und den Gärten und Wildnissen meiner Jünglingszeit das alte Kloster. Ich sehe seine Mauern und Säulen trotzig stehen und lange Schatten in mein Jugendleben werfen, und muß doch lächeln und kann mich des schnelleren Herzschlags nicht erwehren, wenn ein inneres Auge die festen Mauern des ‚Paradieses‘ und die Wölbung der gotischen Kreuzgänge erblickt.“ Schon diese kurze Passage deutet an, wie nachhaltig der Einfluss dieses Ortes auf den Autor beziehungsweise die Helden seiner Geschichte gewesen sein muss: der „dunkle Grenzturm“ ragt bedrohlich über den Spielplätzen der Kindheit auf und die Mauern und Säulen werfen „lange Schatten“. Doch selbst in dieser düsteren Kulisse ist nicht alles schlecht, ringt sie dem Erzähler trotz allem ein Lächeln ab.
Unglücklichsein als Motor kreativen Schaffens
In gewisser Weise ist diese Szene programmatisch für Hesses Leben. Physische wie psychische Krankheiten warfen immer wieder ihre langen Schatten, die ersten zwei Ehen wurden bereits nach wenigen Jahren geschieden, die Kinder kamen ins Heim. Hesse war getrieben, rastlos, immer auf der Suche. Die Sesshaftigkeit fiel ihm nicht leicht. Kaum hatte er sich einmal mit Frau und Kindern auf dem Land niedergelassen, zog es ihn wieder hinaus in die Welt. Er reiste nach Indien, stelle dort alles Mögliche an, um sich selbst oder einem Lebenssinn etwas näher zu kommen: Veganismus, Heilfasten, Nacktklettern. Ob es half? Man weiß es nicht. Für Hesse aber waren diese Schatten fester Bestandteil der Landschaft seines Lebens, er wollte sie nicht wegdenken: „Wenn mein Leben nicht ein quälendes, leidvolles Experiment wäre, wenn ich nicht ständig am Abgrund entlangliefe und das Nichts unter mir fühlte, hätte mein Leben seinen Sinn nicht. Und ich hätte alle meine Dichtungen, auch die angenehmen und freundlichen, nicht machen können.“
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