Im späten 18. Jahrhundert wurde die Kindheit erfunden. Kinder waren nicht länger kleine Erwachsene. Die Kindheit wurde als eigenständiger Lebensabschnitt wahrgenommen, während dem aufklärerische Pädagogen ihre Zöglinge formen, bilden und erziehen konnten. Dies sollte selbstverständlich „kindgerecht“ und mit der Möglichkeit zum Spiel geschehen.
Natürlich ging das nur in den Schichten, die es sich leisten konnten, ihre Kinder nicht zur Arbeit auf dem Feld einzuspannen, also in Adel und Bürgertum.
Artikeltext:
Das Wissen der Welt, illustriert für Kinder.
In diesem Zusammenhang etablierte sich das Bilderbuch für Kinder als Buchgattung. Durch zahlreiche Kupferstiche konnte man den Kindern in der heimischen Stube oder in der Schule die Wunder der Welt vor Augen führen. Das bekannteste und umfangreichste dieser Bilderbücher stammte vom Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch. Obwohl der Markt für solche Werke schon hart umkämpft war, konnte er mit seinem erstmals 1790 erschienenen Bilderbuch einen vollen Erfolg verbuchen. Grund dafür war auch der monumentale Umfang: Über die Jahre erschienen zwölf Bände mit insgesamt 6000, meist kolorierten Kupferstichen. In den Büchern fanden die kindlichen „Leser“ Abbildungen von allem, was man sich nur denken konnte: Tiere aller Art nahmen den größten Raum ein. Dazu kamen Pflanzen, Mineralien, Erfindungen, mythologische Szenen, Fabelwesen, Gebäude, exotische Orte und Menschen. Woher die ganzen Stiche kamen? Von Schülern der berühmten Fürstlichen freien Zeichenschule Weimar, die Bertuch 1776 mitinitiiert hatte.
Zu den zwölf Bänden gab es zwölf erklärende Begleitbände, jeder mit etwa 700 Seiten mit mehr Informationen und Verwendungshinweisen für Eltern und Lehrer. Und ja, auch ein pädagogisches Konzept war vorhanden, auch das trug zum Erfolg bei. Bertuch schlug sogar vor, die Kinder sollten nicht-kolorierte Stiche ausmalen, aus dem Buch ausschneiden und aufhängen!
„Sie zerreißen und verhunzen jämmerlich meinen ganzen Plan“
Zunächst dachten wir, wir hätten Bände von Bertuchs Bilderbuch in der Bibliothek des MoneyMuseums entdeckt. Doch damit lagen wir nur zum Teil richtig. Bei unseren Büchern handelt es sich nämlich um Nachdrucke, die 1806 ohne die Zustimmung Bertuchs in Böhmen herausgegeben wurden. Da die Nachfrage nach Bertuchs Bänden sehr groß war, verwundert es wenig, dass es zu solchen Nachdrucken kam.
Bertuch war davon natürlich ganz und gar nicht begeistert. Und nun war Bertuch ja auch nicht irgendwer: er war Geheimsekretär und Schatullenverwalter des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte einen der größten Verlage Deutschlands aufgebaut, war bestens vernetzt mit dem „Musenhof“ in Weimar und mit der deutschsprachigen Literaturszene. Er war sogar mit Goethe per du – zumindest, bis sie sich zerstritten und Goethe ihm das Privileg des Duzens wieder aberkannte.
Bertuch nutzte dieses Netzwerk, um in den literarischen Journalen der Zeit eine gepfefferte Beschwerde abdrucken zu lassen: im „Teutschen Merkur“, der „allgemeinen Literaturzeitung“, „die Zeiten“, dem „Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde“ und den „Allgemeine geographische Ephemeriden“. machte er seinem Ärger Luft. Seine Beschwerde begann wie folgt:
„Es haben im vorigen Jahre zu Rumburg in Böhmen ein Paar „Ehrenmänner“, namens Pohmann und Hollaubeck, bey denen, nach Dr. Galls Organlehre, das Diebesorgan wohl vorzüglich stark entwickelt und prädominant seyn möchte, unternommen, mein Bilderbuch für Kinder nachzudrucken (oder wie sie es nennen belieben, unter meinem Namen neu herauszugeben), dasselbe jämmerlich zu verhunzen, und mit ihrer gestohlenen Waare das Publikum zu betrügen(…)“
Zwei Sachverhalte regten ihn erkennbar auf. Das war zum ersten natürlich der Nachdruck und der finanzielle Verlust, der damit für ihn einherging. Aber ein reiner Nachdruck war es eben nicht. Die Verfasser hatten sich eigene Gedanken gemacht und das Werk dementsprechend abgeändert. Dass sie das gewagt hatten, wurmte Bertuch mindestens genau so sehr wie der finanzielle Verlust. Es fallen Wörter wie verhunzt, beschnitten, verstümmelt, zerrissen, zusammengestopft, elend und betrogen. Ein deutliches Zeichen seiner Aufregung!
Das Argument der Herausgeber, Bertuchs Bände seien für die meisten viel zu teuer und ihre eigene Ausgabe auch für weniger gut situierte Bürger erschwinglich, ließ der gekränkte Unternehmer ebenfalls nicht gelten. Eine „Räuberspeculation“ sei dies, und er rechnete vor, warum das nicht der Wahrheit entspräche.
Selbst an der Schrifttype hatte er etwas auszusetzten: Anstatt der lateinischer Buchstaben, die er selbst gewählt hatte, „um das Auge des Kindes schon früh an diese schönere lateinische Schrift“ zu gewöhnen, verwendeten die Angeklagten die „hässliche deutsche Mönchschrift“, gemeint ist Fraktur.
Kurzum: Friedrich Justin Bertuch war erkennbar sauer. Mit seiner Beschwerde wollte er nach eigener Aussage die Kunden vor der schlechten Qualität und der dreisten Art der Böhmen warnen, ihr schändliches Verhalten anprangern und „den Herren Pohmann und Hollaubeck einen Strich durch die ehrlose Speculation [...] machen“.
Andere Sorgen?
Ob dieser Fall irgendwen in der Literatenwelt des Jahres 1806 wirklich interessiert hat, wissen wir nicht. Ein Blick ins Geschichtsbuch verrät uns aber, dass im selben Jahr das Heilige Römische Reich zu bestehen aufhörte und der preußische Staat nach der Schlacht von Jena und Auerstedt zusammenbrach. Bekannter Weise musste sich ja selbst Goethe am Abend der Schlacht in seinem Haus in Weimar plündernder französischer Soldaten erwehren – bzw. ließ das die resolute Frau erledigen, die er fünf Tage später heirateten sollte. Viele werden also andere Sorgen gehabt haben, als ein nachgedrucktes Kinderbilderbuch.
Wie dem auch sei, das Konzept des Bilderbuchs setzte sich durch und ist auch uns heute noch bekannt. Und ein Blick in die Bände, ob lizensiert oder frech kopiert, ist bis heute ein Vergnügen.
In den originalen Bänden des Bilderbuchs für Kinder können Sie hier blättern.
Bertuchs ganze Tirade finden sie hier zum Beispiel hier.
Auch in unserer letzten Ausgabe haben wir einen Fall von Copyright-Streitigkeiten