Bei dem vorliegenden Buch über die Kunst sinnreich zu quälen handelt es sich – keine Sorge! – nicht um eine Abhandlung über Sadomachismus. Hier liegt keine literarische Verwandtschaft mit Marquis de Sade oder Leopold von Sacher-Masoch vor, auch wenn das zugegebenermaßen meine erste Assoziation war. Nein, wie der Untertitel andeutet, handelt es sich hierbei um eine klassische Satireschrift aus dem 18. Jahrhundert. Die Autorin prangert vor allem den Machtmissbrauch ökonomisch und rechtlich besser gestellter gegenüber den von ihnen abhängigen Parteien an: von Hausherren an Bediensteten, Eltern an Kindern und Ehemännern an ihren Frauen. Indem die Autorin im Stil eines Benimmbuchs ihren Lesern höchst ironisch erklärt, wie man die Seinen am besten peinigt, tut sie natürlich genau das Gegenteil, nämlich zeigen, wie man andere Menschen möglichst nicht behandeln sollte.
Artikeltext:
Ein „practischer“ Ratgeber
Der Essay eröffnet mit beißenden Worten. Die Engländer, schreibt die Autorin, zeigten offensichtlich ein Talent zum Peinigen ihrer Mitmenschen. Und Talente müsse man ausbauen! Es sei doch nun wirklich eine Schande, diese verkommen zu lassen. Sie habe sich nun freundlicherweise bereit erklärt, mit diesem Buch eine Anleitung zur Verfügung zu stellen, „practische Regeln“ also, wie man seine Mitmenschen am besten quälen und piesacken könne. Dabei ist die Autorin ganz bescheiden. Sie habe sich diese Regeln nicht ausgedacht, nein nein, so bewandert sei sie selbst gar nicht in dieser Kunst. Sie habe lediglich ‚best practice‘ Beispiele zusammengetragen und verschriftlicht. Die gäbe es ja in England zur Genüge. Autsch!
Der erste Teil des Buches richtet sich an solche Menschen, denen auf Grund ihrer Stellung in der Gesellschaft eine äußerliche Macht über andere zukommt: Hausherren, Eltern, Ehemänner. Der zweite Teil richtet sich an Menschen, die eine Art „innere Macht“ über andere haben – das kann ein guter Freund sein ebenso wie ein Liebhaber. Aber wie quält man denn nun am besten seine Mitmenschen? Schauen wir uns ein paar Beispiel an!
Wie man seine Angestellten (nicht!) behandeln soll
1. Unterscheiden Sie auf keinen Fall zwischen Ihren Angestellten. Wenn Sie eine Magd (nennen wir sie Susan) beschuldigen, einen Fehler gemacht zu haben, und Susan sich damit verteidigt, dass nicht sie, sondern die Köchin (nennen wir sie Martha) die Schuldige ist, lassen Sie sie nie damit durchkommen. Sagen Sie ihr, dass Sie keinerlei Zeit für solchen Firlefanz haben. Wenn nochmal ein solcher Fehler unterlaufe, würden Sie einfach alle Bediensteten feuern, Punkt.
2. Geben Sie absichtlich widersprüchliche Anweisungen und schelten Sie Ihren Lakai, wenn er diese nicht richtig befolgt.
3. Statten Sie Ihren Freunden absichtlich bei schlechtem Wetter Besuche ab und bestehen Sie darauf, im Regen zu Fuß zu laufen, anstatt die Kutsche zu nehmen. Wenn Ihr Diener sich wundert, dass Sie ohne Kutsche reisen wollen, schelten Sie ihn und sagen Sie ihm, er solle sich gefälligst aus Ihrem Leben heraushalten. Stellt er beim nächsten Mal die Kutsche nicht bereit, schelten Sie ihn und fragen ihn, was er sich erdreiste, Sie bei einem solchen Dreckswetter ohne Kutsche hinauszuschicken.
Und so weiter. Sie sehen, wie das Spiel funktioniert.
Der Meister der Satire
Die Autorin von Die Kunst zu quälen orientiert sich sichtlich an einem anderen großen Satiriker ihrer Zeit: Jonathan Swift. Der aus Irland stammende Autor ist am besten für seinen Abenteuerroman Gullivers Reisen (1726) bekannt, in dem Gulliver auf fernen Inseln strandet und allerlei seltsame Völkchen kennenlernt. Was mit der Zeit zu einem bekannten Kinderbuch mutiert ist, war ursprünglich eine scharfe Kritik an der englischen Kolonialpolitik gegenüber Irland.
Den vielleicht großartigsten Titel einer satirischen Flugschrift aber dichtete Swift im Jahre 1729. Er lautet: A Modest Proposal For preventing the Children of Poor People From being a Burthen to Their Parents or Country, and For making them Beneficial to the Publick (dt. Ein bescheidener Vorschlag: Um zu verhindern, dass die Kinder der Armen ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen, und um sie nutzbringend für die Allgemeinheit zu verwenden). Hier schlägt er vor, Armut in Irland zu bekämpfen, indem man irische Kinder aus armen Familien den reichen Lords und Ladies zum Fressen verkaufe. Dieses Pamphlet diente nicht nur stilistisch als Vorbild für das hier vorliegende Buch, auch inhaltlich lassen sich Parallelen ziehen. Denn schlussendlich erheben beide Schriften die Stimme für die Unterlegenen, die Beherrschten, die Kolonisierten. Und plädieren ganz im Sinne der frühen Aufklärung dafür, auch oder gerade diesen Menschen mit Achtung und Würde zu begegnen.
Autorin: anon.
Aber wer ist denn nun die Autorin dieses Buches? Bisher habe ich das verschwiegen, und zwar mit Absicht, denn: das Beste kommt bekanntlich zum Schluss. Das Titelblatt der deutschen Fassung verrät uns lediglich den Namen einer „Frau Lenox“. Es gab auch eine schottische Autorin mit dem Namen Charlotte Lennox (1730-1804), auf die diese Zuschreibung passen könnte. Sie schrieb Romane, Dramen und Gedichte, darunter eine überaus populäre Umdichtung von Cervantes’ Klassiker Don Quijote. Sie ist aber nicht die Autorin von Die Kunst zu quälen.
Als ich nach langer Recherche keine Quellen fand, die Lennox mit der Kunst zu quälen in Verbindung bringen, wurde ich stutzig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Natürlich kann es sein, dass ein wenig bekannter Text einfach nicht aufzufinden ist oder nicht in der Werksübersicht einer Autorin auftaucht. Dass ein Text aus dem 18. Jh. aber digitalisiert in deutscher Übersetzung im Internet zu finden ist, nicht aber im englischen Original, schien mir unwahrscheinlich.
Schließlich wurde ich fündig. An Essay on the Art of Ingeniously Tormenting (1753) gibt es eben doch auf Englisch. Nur wurde der Text von einer Jane Collier (1714-1755) geschrieben. Nachdem ich Auszüge des englischen Originals mit der deutschen Übersetzung verglich, war ich mir sicher: das ist der richtige Text. Aber wie kam es dazu, dass der deutsche Verlag Grund und Holle die falsche Autorin angab?
Nun, des Rätsels Lösung liegt darin, dass Lennox wohl die Übersetzerin gewesen sein muss, weshalb es auch heißt „aus dem Englischen der Frau Lenox“. Als Colliers The Art of Ingeniously Tormenting 1753 in England erstveröffentlicht wurde, geschah das zunächst anonym. Deswegen fehlt der Autorinnenname auf der deutschen Übersetzung. Lennox hingegen war zu dem Zeitpunkt in Deutschland eine bekannte Autorin und Übersetzerin. Wir wissen außerdem von ihrer Verbindung zum Verlag Grund und Holle, weil dieser im selben Jahr (1754) ihren eben schon erwähnten Roman The Female Quixote (dt. Don Quixote im Reifrocke) veröffentlichte. Sie sehen, es macht doch alles Sinn. Man muss nur genau hingucken…
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Hier finden Sie den vollständigen, digitalisierten englischen Originaltext von Jane Colliers An Essay on the Art of Ingeniously Tormenting.
Lennox’ Don Quixote im Reifrocke haben wir (noch) nicht in der Sammlung des MoneyMuseums. Dafür aber Miguel de Cervantes’ Don Quijote de la Manche.
Aus der Manesse Bibliothek der Weltliteratur: Hier stellen wir den satirischen Schelmenroman Barry Lyndon von William M. Thackeray vor.
In dieser Podcast Folge der BBC geht es um Jonathan Swifts satirische Flugschrift Ein bescheidener Vorschlag (engl. A Modest Proposal) (in englischer Sprache).