Meinungen bewegen sich in Wellen. Dafür gibt es viele Beispiele. Denken wir nur an unsere Vorstellung von der Rolle des Staates. Die hat sich allein in den letzten 70 Jahren mehrfach verändert. Glaubte eine breite Mehrheit im beginnenden Kalten Krieg an die Notwendigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen, folgte nach den 68ern eine Phase, die man getrost als staatsfeindlich beschreiben könnte. September 11 und der Kampf gegen den Terrorismus haben dem Staat seine unangefochtene Führungsrolle zurückgegeben. Doch die gerät nun unter Beschuss angesichts der Hilflosigkeit, mit der viele westliche Staaten gegen Corona vorgehen.
So funktionieren Meinungen eben. Sie sind dem Zeitgeist unterworfen. Und wenn sich der ändert, haben Argumente keine Chance. Dabei werden gerade die zum Opfer, die nicht extrem vereinfachen, sondern klug abgewogen eine Zwischenlösung fordern. Sie werden zum Opfer ihrer Vernunft, auch und sogar wenn der Kampf um die Meinungen im Zeichen der Vernunft geführt wird.
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Der Fall Jean Calas
Am 13. Oktober 1761 fand der Protestant Jean Calas im französischen Toulouse seinen ältesten Sohn tot auf. Er hatte sich wohl erhängt, weil er nach seinem Jurastudium als Protestant nicht zur Abschlussprüfung zugelassen worden war. Der Freitod bedeutete damals Schande. Der Leichnam eines Selbstmörders durfte nicht auf dem Friedhof begraben werden, sondern wurde ohne jede Zeremonie verscharrt. Dies wollte der Vater seiner Familie wohl ersparen. Er gab an, Fremde hätten seinen Sohn erwürgt.
Das glaubte ihm niemand. Doch Nachbarn und Magistrat zogen die falschen Schlüsse. Sie wussten, dass es zwischen Calas und einem anderen seiner vier Söhne heftigen Streit gegeben hatte, weil der Sohn überlegte, zum katholischen Glauben überzutreten. Man munkelte, Calas selbst habe seinen eigenen Sohn erwürgt, weil der eine Konversion in Betracht zog, um seine Karriere zu fördern. Da Calas sich weigerte, dies zu gestehen, wurde er gefoltert und das ihm so abgepresste Geständnis für ein Todesurteil genutzt - obwohl Calas sofort nach Ende der Folter widerrufen hatte. Am 9. März 1762 wurde der Protestant Jean Calas hingerichtet. Sein toter Sohn zum Märtyrer verklärt.
Der Tod des Protestanten Calas war, man kann es heute gar nicht anders sehen, ein krasser Justizmord, bei dem sich die katholischen Richter von ihren Vorurteilen gegenüber einem Protestanten nachteilig hatten beeinflussen lassen.
Staatsreligion oder Toleranz?
Nun war seit der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685 allein der katholische Glauben die französische Staatsreligion. Doch die Intellektuellen hatten schon seit vielen Jahrzehnten begonnen, dagegen zu kämpfen. Sie forderten Toleranz, auch und gerade vom Staat. Und dem Vorkämpfer der Aufklärung, Voltaire, bot sich mit der Affäre Calas ein geradezu idealer Präzedenzfall, um zu zeigen, wozu Intoleranz führen konnte.
Der Atheist Voltaire machte sich die Sache des gläubigen (und wahrscheinlich auch ein bisschen fanatischen) Protestanten Jean Calas zu eigen. Um keine üblen Überraschungen zu erleben, recherchierte Voltaire minutiös die Hintergründe des Geschehens, holte Zeugenaussagen ein und rekonstruierte so einen logischen Ablauf der Ereignisse. Vordergründig kämpfte er für die Wideraufnahme des Prozesses von Jean Calas und seine Rehabilitation. Die eigentliche Frage aber war, welche Rolle der katholische Glauben künftig in den aufgeklärten Staaten Europas spielen sollte. Viele verstanden Voltaires Aufruf zur Toleranz als die Aufforderung alle Priester und Ordensgeistlichen inklusive jeder Form des Aberglaubens gleich ganz abzuschaffen.
Voltaire führte im Fall Calas das, was wir heute als Kampagne bezeichnen würden. Er war glänzend mit den Intellektuellen Europas vernetzt. Sie alle erhielten von ihm persönliche Briefe, in denen er ihnen seine Sicht der Dinge darlegte. Jeder einzelne Brief fand eine Vielzahl an Lesern in den Salons und wissenschaftlichen Kreisen. Und jeder, der von der Causa Calas hörte, konnte nicht anders als den wortgewaltigen Voltaire wenigstens moralisch zu unterstützen.
Die Opfer der Kampagne
Voltaires Kampf, den guten Ruf des toten Protestanten wiederherzustellen, forderte übrigens auch Opfer. Waren bislang viele katholische Priester und Ordensgeistliche überzeugte Anhänger der Aufklärung gewesen, brachte sie Voltaires Kampagne, die in all den intellektuellen Zirkeln diskutiert wurde, die auch sie frequentierten, in Erklärungsnotstand. Natürlich verurteilten sie, was Jean Calas zugestoßen war, aber an dem Justizmord war die katholische Kirche nicht beteiligt gewesen. Wieso sollte man sie deswegen abschaffen?
Schließlich war die Kirche damals die größte und wichtigste soziale Einrichtung Europas. Sie unterhielt Hospitäler, Armenhäuser, Schulen und Universitäten. Viele von der christlichen Botschaft überzeugte Pfarrer sorgten dafür, dass in ihrem Kirchenspiel die Gaben der Reichen denen zugute kamen, die sie nötig hatten. Natürlich gab es auch unter ihnen schwarze Schafe – wo gäbe es sie nicht? – aber die Abschaffung der gesamten katholischen Kirche wegen eines Justizirrtums in Toulouse zu fordern, das ging selbst den aufgeklärten Geistlichen zu weit. Und in diesen Zusammenhang gehört das Buch, das wir Ihnen heute vorstellen.
Eine Lanze für die katholischen Orden
1764 erschien in Augsburg die Übersetzung eines französischen Werks mit dem Titel „Question politique où l'on examine si les Religieux rentés sont utiles ou nuisibles à l'État“, das 1762 wahrscheinlich der Benediktinermönch Benoit Gouget (1701-1790) verfasst hat. Es ist bemerkenswert, dass der Verfasser es weder 1762 noch 1764 wagte, seinen vollen Namen auf den Titel zu setzen. Es zeigt, unter welchem Druck die Verfechter der katholischen Sache nach dem Angriff Voltaires standen.
Auch der Titel des Werks weist daraufhin: Ins moderne Deutsch übertragen könnte man ihn paraphrasieren mit „Die Untersuchung der staatspolitisch wichtigen Frage, ob die Ordensgeistlichen, die über ihre eigenen Einkünfte verfügen, der staatlichen Gemeinschaft nützlich oder schädlich sind. Wie vorsichtig formuliert der Autor sein Anliegen! Er anerkennt, dass es Atheisten gibt. Er will sie nicht bekehren. Aber er fragt etwas anderes: „Auf was zielen diese Leute ab, sagte ich zu mir? Das Evangelium ist mit ihrem Leben in Widerspruch; wohlan! Ihre ganze Sache ist, dass sie selbigem absagen. Warum aber sich bemühen, neue Glaubensgenossen anzuwerben, und sie auf die Straße des Verderbens führen wollen, wo sie mit großen Schritten laufen? Was liegt einem Menschen daran, welcher nichts glauben will, außer was die Vernunft eingibt, andere zu verleiten, dass sie, wie er denken sollen? Das Altertum zeigt uns einige Gottleugner, keiner aber von ihnen hat sich die Mühe gegeben, sich Nachfolger zu machen. ... Was liegt ihnen daran, wenn es keine Christen mehr gibt? Werden sie deswegen mit größerer Ausgelassenheit leben?“
Mit anderen Worten, der Autor fürchtet um das Überleben der Kirche, weil die aggressive Vorgehensweise einiger Aufklärer nicht Toleranz fordert, sondern die Abschaffung der katholischen Kirche. Gouget versucht es mit der Vernunft: Er stellt die vielen positiven Leistungen zusammen, die von Klöstern und Geistlichen erbracht wurden. Schließlich war er selbst ein Anhänger der Vernunft und deshalb der christlichen Aufklärung. Er gehörte zur Kongregation der Mauriner, einem Reformorden, der nach der Regel des hl. Benedikt lebte und die Kirchengeschichte aus einem neuen, neutraleren Blickwinkel bearbeitete. Dieser Orden stand an der Spitze der kirchlichen Aufklärung und befand sich dabei im Gegensatz zu den in Frankreich weit verbreiteten Jansenisten, einem katholischen Zweig, der als besonders fanatisch wahrgenommen wurde.
Dass Benoit Gougets Sorge um das Überleben der Orden in Frankreich nicht unbegründet war, zeigt die Geschichte. Die Französische Revolution fegte die katholische Kirche hinweg und ermordete während der Septembermassaker von 1792 Hunderte von katholischen Geistlichen und Ordensangehörigen.
Die öffentliche Meinung hatte sich gegen die katholische Kirche gewandt und alle vernünftige Argumentation half nicht, die Beseitigung katholischer Privilegien zu unterbinden.
Und damit beweist dieses Buch, was wir anfangs postuliert haben: Es hilft nicht, gegen den historischen Strom zu schwimmen. Benoit Gouget und sein Appell an den gesunden Menschenverstand ist heute vergessen. Die Ablehnung des Glaubens im Namen der Vernunft wurde selbst zu einer Religion, die sich einige Jahre lang in den katholischen Kathedralen Frankreichs breit machte. Ob es Voltaire gefallen hätte, dass er in diesen neuen Kulträumen als Heiliger verklärt wurde?
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Wir haben dieses Werk beim Antiquariat Hohmann erworben.
Wenn Sie wissen möchten, wie genial Voltaire es schaffte, sich auch seiner anderen Konkurrenten und Gegner zu entledigen, sollten Sie unseren Artikel über den „großen Rousseau“ lesen.
Einen detaillierten Bericht zur Affäre Calas finden Sie hier. Er wurde in NZZ Geschichte erstmals veröffentlicht.