Das Habsburger Reich war ohne Zweifel ein Weltreich. Das „Reich, in dem die Sonne nie untergeht“ nannte man es nicht umsonst. Doch obwohl Joannes Sleidanus in diesem Reich geboren wurde, hatte er zunächst nicht das größte Imperium seiner Zeit vor Augen, als er 1556 sein Werk über die „Vier größten Reiche“ verfasste. Seine Darstellung fußt auf einer Passage aus dem alttestamentlichen Buch Daniel – der antiken Geburtsstätte einer folgenreichen Idee –, an der sich Sleidanus abarbeitete. Sein Geschichtswerk sollte Generationen von Schülern im Glauben bestärken, die irdische Geschichte sei eine Abfolge von heilsgeschichtlich vorgesehenen Reichen. Werfen wir einen Blick in den Erstdruck dieses wichtigen Buches!
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Sleidanus: objektiver Chronist im Auftrag der Reformation
Der junge Johann Philippson wurde etwa 1506 in Schleiden in der Eifel geboren. Damals gehörte das zu den Burgundischen Niederlanden und damit den Habsburgern. Johann erhielt eine solide Ausbildung und studierte an verschiedenen Orten, wobei er sich den humanistischen Künstlernamen Joannes Sleidanus zulegte, wie es sich für einen gelehrten Mann seiner Zeit eben gehörte.
Der frisch gebackene Sleidanus geriet nun mitten in die Reformationswirren. In seiner neuen Stelle als Sekretär des Pariser Kardinals Jean Du Bellay fiel ihm prompt eine pikante Mission zu: Als Diplomat sollte Sleidanus ein Bündnis zwischen Frankreich und den deutschen Protestanten zustande bekommen. Immerhin verfügte er über gute Beziehungen zu deutschen Reformatoren. Doch damit arbeitete er gegen seinen früheren Herrn, Kaiser Karl V. Nun, der Versuch misslang ohnehin und Sleidanus, der nebenher übersetzte und kleinere Schriften publizierte, musste sich einen neuen Brötchengeber suchen.
Im Heiligen Römischen Reich schrieben die protestantischen Fürsten sich mittlerweile eine weltgeschichtliche Bedeutung zu in ihrem Kampf gegen den katholischen Kaiser. Das Bündnis dieser Fürsten und Städte, der sogenannte Schmalkaldische Bund, suchte daher einen gewieften PR-Experten, der diese Botschaft in möglichst objektiv verkleideter Form verbreiten sollte. Und diesen Posten erhielt Sleidanus. Er nahm seine Aufgabe sehr gewissenhaft und studierte beispielhaft alle Informationsquellen, derer er nur habhaft werden konnte. Doch der Kaiser siegte über seine renitenten Fürsten, Sleidanus arbeitete an seiner Reformationsgeschichte auf eigene Faust weiter. Sein bahnbrechendes lateinisches Werk über die Religionspolitik Kaiser Karls V. erschien 1555. Es wirkte so objektiv und trocken, dass es gar nicht gut ankam bei den ehemaligen Auftraggebern. Aber Sleidanus hatte sich einen Namen gemacht und legte sofort nach mit einem noch größeren Wurf. Jetzt weitete er den Blick aufs große Ganze, auf die Weltgeschichte!
Die vier Reiche für den Schulgebrauch
Welten trennten Protestanten aller Couleur und Katholiken bei vielen Fragen. Doch eine Überzeugung hatten sie gemeinsam: Die Weltgeschichte verlief linear und war von Gott auf eine bestimmte Weise vorgesehen. Außerdem hatte Gott den Menschen durch seinen Propheten Daniel den Vorhang, der Gegenwart und Zukunft trennte, ein kleines bisschen gelüftet. Daniel hatte laut biblischer Überlieferung nämlich einen Traum König Nebukadnezars gedeutet und danach in einem eigenen Traum direkt von Gott weitere Erläuterungen erhalten, wie die Geschichte der Menschheit verlaufen würde. Diese Visionen sind an düsterer Dramatik und apokalyptischen Bildern kaum zu überbieten; lesen Sie unbedingt einmal die Kapitel 2 und 7 im Buch Daniel! Zusammengefasst lautete Daniels Erkenntnis: Es wird vier große Reiche geben, die aufeinander folgen, indem sie das jeweils vorherige zerstören. Beim letzten Reich gibt es noch ein paar komplexere Details, die seit je her Raum für Diskussion boten, aber ein Punkt ist unstrittig: Das letzte Reich währt ewig. Zumindest bis zum Untergang der Erde.
Nun sind vier Reiche nicht sehr viel, selbst vier Weltreiche erscheinen uns heute problematisch, wenn wir alleine an Rom, China und das britische Empire denken. In der Antike machte man sich da weniger Skrupel und wusste genau, welche Reiche gemeint seien: Das Reich der Babylonier (klar, das kannte auch Daniel, er lebte ja da), das Reich der Meder, das der Perser und als letztes das Reich Alexanders des Großen. Dummerweise war nach Alexander noch nicht Schluss mit der Welt und schon Hieronymus ersetzte daher die Meder in der Liste durch das Römische Reich.
Sie ahnen, wie es kommen musste, das Römische Reich war nicht ewig, gleichzeitig blieb die sogenannte Vier-Reiche-Lehre das, wir müssen es noch einmal groß schreiben: DAS allgemein akzeptierte Weltbild des Mittelalters. Wie passte das zusammen? Ganz einfach, das Römische Reich durfte nie untergehen. Genauer gesagt greift hier das Hilfsmittel der „Translatio Imperii“, der zweiten zentralen Theorie der mittelalterlichen Ordnung in Europa: Das Römische Reich gab seine Herrschaft wie einen Staffelstab weiter. Denken Sie an die Krönung Karls des Großen in Rom, an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Sehen Sie? Und von da ab ließ sich das Spiel theoretisch ewig weiterspielen, das vierte Reich endete eben nie. Heute mag uns das sehr naiv und konstruiert erscheinen, aber vielleicht wird die Vorstellung, dass in unserer Zeit ein Großteil der Menschheit zwar Wert auf Privatsphäre legte, gleichzeitig aber sein Leben bei Facebook und Instagram mit Milliarden wildfremder Leute teilte für Schenkelklopfer sorgen …
Doch zurück zu Sleidanus. Der Mann war kein Radikaler, sondern vielmehr einer, der zu vermitteln suchte. Sein neues Thema war überkonfessionell akzeptiert, auch unter Marketing-Aspekten eine intelligente Wahl.
1556 publizierte er in geschliffenem Latein seine zweite große Monographie „De quatuor summis imperiis“, also „Über die vier großen Reiche“. (Groß übrigens nur in ihrer Bedeutung, das Format war überaus handlich wie die 1-Franken-Münze auf einem der Fotos illustriert.) Darin stellte er in – aus heutiger Sicht – überschaubaren drei Büchern eben diese Abfolge der Reiche dar, von der Sintflut über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem hin zu Alexander, Hannibal und Cäsar. Das dritte Buch schlägt dann den Bogen in seine eigene Zeit. Nach einer „Geschichte der Germanen“ erfahren die Leser, wie Karl der Große in Rom die römische Herrschaft (imperium bedeutet schließlich nicht nur Reich, sondern auch Herrschaft oder Befehlsgewalt) übernahm. Daran knüpfte eine ununterbrochene Tradition an bis in Sleidanus’ eigene Zeit.
Eine Weltsicht in Trümmern
Dieser weltgeschichtliche Abriss war extrem beliebt in den Schulen und eckte bei keiner Konfession an. Kurz gesagt: Das Werk verkaufte sich wie geschnitten Brot und uns sind über neunzig verschiedene Auflagen bekannt. Mit Sleidanus lernten Europas Eleven die Geschichte des Homo sapiens. Diese christliche und auf ein Endziel ausgerichtete heilsgeschichtliche Deutung war allerdings zeitgebunden. Im 18. Jahrhundert zerschlugen die Aufklärer mit Genuss diese teleologische Weltsicht und zerpflückten das Werk so lange, bis niemand mehr von Sleidanus sprach.
Heute erinnern wir uns eher an Sleidanus’ Bedeutung als Diplomat und Übersetzer. Aber werfen Sie noch einmal einen Blick in den abschließenden Index: Da finden sich die Namen der großen Persönlichkeiten und die Orte bedeutender Schlachten. Sollten Sie bei sich in der Rumpelkammer noch ein altes Geschichtslehrbuch aus den 50ern finden, wette ich, dass die Unterschiede erschreckend gering sind. Die Wirkmacht der bei Sleidanus vertretenen Sicht eines linearen Verlaufs von Geschichte, die von großen Einzelpersonen geprägt ist, sprang elegant über das aufklärerische Intermezzo hinüber und beginnt sich erst jetzt aufzulösen.
Das Buch ist zwar nicht in der Erstausgabe verfügbar, aber die Universität Halle stellt einen Druck aus dem Folgejahr als Digitalisat bereit.
Jahrhunderte später wurde wieder einmal so gründlich recherchiert wie für Sleidanus’ Religionsgeschichte. Damals ließen sich die habsburgerischen Nachkommen Karls V. als einen soliden Stammbaum schreiben.