Es ist irgendwann im Frühjahr des Jahres 399 v. Chr. Der athenische Bürger Sokrates sitzt im Gefängnis. Am nächsten Tag wird er hingerichtet, eindeutig ein Justizmord, denn der aufrechte Demokrat hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Um ihn herum kauern seine trauernden Freunde. Sie weinen, verfluchen die Richter, suhlen sich im Selbstmitleid. Sokrates dagegen ist heiter, und weil er seinen Freunden nicht länger beim Weinen zusehen will, beginnt er eine Diskussion. Diese Diskussion – von der wir natürlich nicht wissen, ob sie tatsächlich so stattgefunden hat – verewigte Platon in einem Buch, das noch heute zum Schönsten gehört, was man in griechischer Sprache lesen kann, dem Phaedon.
Artikeltext:
Tod eines Freundes
Wir wechseln den Schauplatz des Geschehens und machen einen Zeitsprung ins Jahr 1766. Wir befinden uns in Bückeburg, wo am 3. November 1766 ein heute nahezu unbekannter Philosophieprofessor namens Thomas Abbt im Alter von noch nicht einmal 28 Jahren stirbt. Sein Tod trifft einen seiner engen Freunde bis ins Mark: Moses Mendelssohn, das jüdische Wunderkind, das in Berlin zum Seidenfabrikanten aufgestiegen ist, weint bitterlich um seinen toleranten Freund, der sich nicht um die Vorurteile seiner Zeitgenossen gegen das Judentum scherte. Moses geht es, wie es vielen Menschen geht, die trauern. Er möchte seinem Freund noch einen letzten Liebesdienst erweisen. Er erinnert sich an die vielen angeregten Briefe, die Abbt mit ihm über ein Buch des Philosophen Platon geführt hat, das damals nur in Gelehrtenkreisen bekannt war: Der Phaidon. Und so widmet Mendelssohn dem toten Freund das Buch, das die Platons in Deutschland popularisieren sollte. Mendelssohns drei Gespräche über die Unsterblichkeit der Seele, erstmals publiziert im Jahr 1767, wurden im 17. Jahrhundert zu einem Bestseller, der ihm in Deutschland den Beinamen „Berliner Sokrates“, im Ausland den eines „deutschen Plato“ eintrug.
Ein unschlagbares Thema: Was geschieht mit uns nach dem Tod?
Was war der Grund, dass das Werk eines bis dahin eher unbekannten Philosophen, der noch dazu jüdischer Abkunft war, sich zu einem internationalen Bestseller entwickelte? Ganz einfach: Das Thema elektrisierte die Menschen. Denn 1767 war die Aufklärung auf ihrem Höhepunkt. Nur wenige Jahre zuvor hatte Voltaire mit seinem Roman Candide die Existenz eines guten Gottes grundsätzlich bezweifelt. Voltaire war mit seinem berühmten Werk nicht ein vereinzelter Kritiker der verschiedenen Kirchen. Im Gegenteil. Er formulierte in seiner Satire, was viele seiner Zeitgenossen dachten, aber nicht auszusprechen wagten. Alle gebildeten Menschen hinterfragten damals die überlieferten Zeremonien der Religion. Handelte es sich dabei nicht um puren Aberglauben? Hatten Gebete und Rituale einen Sinn? War der Mensch nicht sowieso nur ein seelenloser Automat? War nicht der ganze Kosmos eine durch Naturgesetze erklärbare Maschine, die völlig ohne irgendeinen Schöpfer auskommen konnte? In philosophischen Kreisen gebärdete man sich gerne fortschrittlich und verschreckte damit die vielen, die Angst davor hatten, dass es für sie und ihre Lieben mit dem Tod enden würde. Kein Wunder in einer Welt, in der die Kindersterblichkeit weit über 30% lag, in der Krankheiten, Krieg und Umweltkatastrophen das Leben unberechenbar machten!
Moses Mendelssohns Buch entwickelte sich also zu einem Bestseller, weil er eine tröstliche Antwort auf diese schreckliche Angst bieten konnte, eine Antwort, die ganz ohne die kirchliche Heilsbotschaft auskam: Nein, wer Mendelssohns Buch gelesen hatte fürchtete den Tod nicht, da er ihm nichts anderes als die Befreiung der unsterblichen Seele war. Wie Mendelssohn sah er den Körper als ein Kleid, das im Laufe eines Lebens verschließen und im Tod abgelegt wird. Mendelssohn bot seinen Lesern Argumente in der Diskussion um die unsterbliche Seele, Argumente, gegen die auch die radikalsten Aufklärer nichts einwenden konnten. Bald diskutierte man in allen Salons Europas, wie ein philosophisches Leben aussehen müsse, das dazu führen würde, den Tod nicht zu fürchten.
Das Thema ist aber nur ein Grund für den Erfolg von Moses Mendelssohns Version des antiken Phaedon aus der Feder Platons. Wie er den Stoff behandelte, tat ein Übriges. Erstens: Er schrieb auf Deutsch. Das konnten auch die Geschäftsmänner und Gattinnen verstehen, die nicht bei einem Hauslehrer Französisch gelernt – oder es bei all den Anforderungen des Alltags wieder vergessen hatten. Zweitens: Mendelssohn schickte seinem Phaedon eine an Anekdoten reiche Biographie des Sokrates voraus, die sich selbst heute noch höchst unterhaltsam liest. Drittens: Mendelssohn fertigte nicht einfach eine Übersetzung der antiken Vorlage an. Er richtete den Beweis der Unsterblichkeit „nach dem Geschmack unserer Zeit“ ein. Zwar übernahm er ungefähr ein Drittel des Originaltexts unverändert, doch die anderen zwei Drittel aktualisierte er; dazu entschärfte und vereinfachte er all die komplizierten Passagen, die nur für einen Philosophieprofessor oder einen Altphilologen verständlich waren. Außerdem arbeitete Mendelssohn die aktuelle Diskussion ein und legte so ein Buch vor, das jeder, der in den Salons Europas mitreden wollte, gelesen haben musste. Kein Wunder, dass Mendelssohns Phaedon innerhalb weniger Jahre in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde.
Für den Autoren bedeutete sein Phaedon den Durchbruch. Nur wenige Jahre nach der Publikation hatte sich sein Ruf derart verbreitet, dass keine Person von Stand, die Berlin besuchte, darauf verzichtete, im Haus des jüdischen Seidenhändlers Moses Mendelssohn vorzusprechen. Was für ein Aufstieg für den kleinen jüdischen Talmudschüler aus der Provinz! Wir haben übrigens über seinen Lebensweg in einer früheren Ausgabe von Bookophile berichtet.
Der Phaedon wird zum Bildungsversatzstück
Haben Sie schon einmal überlegt, woraus sich eigentlich das zusammensetzt, was wir als Bildungskanon bezeichnen? Wieso halten wir das eine für wissenswert, während wir das andere als nebensächlich abtun?
Nun, vieles hängt mit den Zufällen der Medienwelt zusammen. Mein Lieblingsbeispiel ist der Jakobsweg, der in den 1980er Jahren von katholischer Seite aus wiederbelebt wurde. In dem Jahrzehnt zwischen 1980 und 1990 machten sich insgesamt 22.520 Menschen auf die Pilgerschaft. Allein im Jahr 2019 waren es dann schon 347.578 Personen, darunter ein erheblicher Anteil Deutscher. Viele von ihnen konnten mit der katholischen Kirche nichts anfangen, hatten aber Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ gelesen und toll gefunden. Der Jakobsweg ist damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Was das mit dem Phaedon zu tun hat? Nun, ganz einfach, Mendelssohn machte einen in Gelehrtenkreisen durchaus bekannten Philosophen namens Sokrates zu einem Allgemeingut für alle europäischen Bildungsbürger. Noch heute gilt Sokrates als der bekannteste griechische Philosoph überhaupt. Kein Gymnasiast kommt an ihm vorbei. Seine als „Hebammenmethode“ bezeichnete Fragetechnik hat unsere Form des Unterrichts nachhaltig geprägt.
Man darf sich durchaus fragen, ob dies auch so wäre, hätte Moses Mendelssohn nicht das Bedürfnis gehabt, seinem verstorbenen Philosophenfreund mit dem Phaedon ein literarisches Denkmal zu setzen.
Moses Mendelssohns Phaedon ist im Rahmen des Projekts Gutenberg veröffentlicht.
Natürlich finden Sie auch den Originaltext des Phaidon von Plato in einer deutschen Übersetzung im Internet.
Wir haben übrigens bereits einen Artikel veröffentlicht, dem mehr über das Leben von Moses Mendelssohn zu entnehmen ist. Dort finden sich auch eine Reihe von weiterführenden Links.
Wenn Sie ein bisschen mehr zum geistigen Hintergrund wissen wollen, der damals die Menschen bewegte, empfehlen wir Ihnen unseren Beitrag über das Erdbeben von Lissabon.
Mit dem Tod und dem danach haben wir uns 2020 in unserer Ausstellung „Ewig Leben?“ ausführlich anhand von Büchern aus der Bibliothek des MoneyMuseums beschäftigt.