Als das Goethe-Nationalmuseum 1925 eine prächtige, großformatige Neuausgabe von Goethes „Italienischer Reise“ im Leipziger Insel-Verlag veröffentlichte, geschah das in einer günstigen Zeit. Jeder Bildungsbürger hatte Goethe zu lieben, der Dichterfürst war unbestrittener Höhepunkt der deutschen Geisteswelt. Als die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg auf der Suche war nach neuen Werten und Vorbildern, weg vom wilhelminischen Militarismus und zu einem nicht-chauvinistischen Nationalismus, bot sich der italienreisende Goethe einfach an. Absatz garantiert, würde man marketingtechnisch sagen, das musste man nicht einmal groß bewerben. Es dürfte kaum einen Menschen mit höherem Bildungsgrad gegeben haben, der nach Italien reiste, ohne die „Italienische Reise“ im Gepäck zu haben. Und sei es nur als Feigenblatt für vorgeschobenes kulturelles Interesse am Strand von Rimini …
Die „Italienische Reise“ gilt als Startschuss für die Liebe der Deutschen zu Italien. Zwar hatte es schon zuvor begeisterte Reisende gegeben, aber erst mit Goethe entdeckten die verkopften Teutonen das Land, in dem die Zitronen blühen, als wahrgewordenen Traum all dessen, was sie so gerne wären, sich aber nicht zu sein trauen, wenn gerade wieder Kehrwoche ist. Doch Achtung: Goethes Werk ist alles andere als ein Reiseführer und wir sehen an diesem Beispiel gut, wie missverständlich Literatur sein kann, wenn ihr Autor erst einmal in die Schublade „Klassiker“ gerutscht ist.
Artikeltext:
Mit Burn-out nach Bali. Oder Rom?
Eine Geschichte, wie man sie immer wieder im Panorama-Teil der Zeitung liest: Junges Genie veröffentlicht Meisterwerk, wird durch alle Shows gereicht und schiebt noch etwas Großes nach, glänzende Verkaufszahlen. Dann wird es ruhig, das Genie entscheidet sich für eine gesicherte Existenz, möchte aber daneben weiter produktiv sein. Doch das klappt nicht. Plötzlich merkt er, dass er sich in seinem sicheren und gutbezahlten Brot-Job verausgabt, seine Kreativität auf der Strecke bleibt und sein Beziehungsleben in einer Sackgasse steckt. Panik, Atemnot, Verzweiflung. Wir lesen von Burn-out, einer Pause von allem, Social-Media-Diät, einer Reise nach Bali mit Yoga- und Achtsamkeitskursen, ganz viel Ruhe und Selbstfindung. Und zurück kommt ein neugeborener Künstler, fit wie nie zuvor, voller Ideen, seinen Job kündigt und produktiver ist denn je.
So in etwa lief es auch bei Johann Wolfgang von Goethe, dem Werther-Star, der Ende Dreißig war, als sein Verleger für eine Werkausgabe anfragte. Goethes letztes Werk war vor fast einem Jahrzehnt erschienen! Zurzeit versauerte der Geheime Legationsrat am Weimarer Hof und steckte fest in einer komplizierten Beziehung mit Charlotte von Stein.
Goethes Reaktion: Im September 1786 entzieht er sich in einer berühmten Nacht-und-Nebel-Aktion mit seiner Flucht aus der Kur in Karlsbad von allen Verpflichtungen bei Hof – allerdings nicht so kopflos, dass er sich nicht noch bezahlten Urlaub gesichert hätte durch einen netten Brief an den Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach.
Los geht es über die Alpen unter falschem Namen (Johann Philipp Möller), um seine Freiheit vor Groupies zu garantieren. Und los geht auch der Mythos – oder sollten wir sagen das Missverständnis? Man hat noch heute mit dem Zug oder Auto gemütlich quer durch Italien reisen auf Goethes Spuren, um Land und Leute kennenzulernen und zu genießen. Bei Goethe klingt das ganz anders: Er „fliegt“ förmlich durch Oberitalien, das interessiert ihn alles gar nicht so sehr. Ihn zieht es nach Rom, wo er sich von Künstlerfreunden beim Zeichnen helfen lässt, wo Tischbein das legendäre Bildnis von Goethe in der Campagna malt und wo der Dichter in Elegien eine frische Liebesbeziehung feiert, während er gleichzeitig seine Geliebte in der Heimat mit regelmäßigen Briefen seiner ewigen Liebe versichert.
Bildungsreise oder Selbstfindungstrip?
Natürlich können wir Goethes Spuren folgen, wir können so manches lernen, er beschrieb auch Bauwerke und Sitten. Aber ein Baedeker oder Burckhardt ist Goethe nicht. Goethe bewunderte die Antike und die klassische Kunst, aber seine Kunst sollte aus ihm selbst strömen. Während die Grand Tour dazu diente, jungen Adligen Kenntnisse von Kultur und Kunst zu vermitteln, betonte Goethe, dass seine Kreativität aus ihm selbst ströme. Ganz der Romantiker eben.
In seinen beiden Sabbatjahren widmete sich Goethe nicht nur dem Zeichnen und dem kreativen Schreiben. Er suchte die Urpflanze, den Anfang alles Lebens. Und vor allem suchte er sich selbst. Sein Interesse an der Umwelt diente vor allem, sich selbst klarer zu fassen, Goethe wollte wieder die Quelle seiner Schaffenskraft freilegen. Mit Erfolg, denn kurz vor seiner Rückkehr nach Weimar versicherte er dem Herzog gegenüber in einem Brief: „Ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden: aber als was? – Als Künstler!“
Zwei Jahre dauerte dieser Prozess, den diese Insel-Ausgabe mit Zeichnungen Goethes und anderer Künstler illustriert. Einmal durch ganz Italien, bis nach Sizilien und wieder zurück.
Wie sollten wir Goethes „Italienische Reise“ heute lesen?
Noch während dieser Reise, aber auch nach seiner Rückkehr schloss Goethe endlich verschiedene begonnene Werke ab und einigte sich mit seinem Dienstherren darauf, nur noch repräsentative Aufgaben zu übernehmen. Er hatte Wichtigeres zu tun, das nur er und niemand anders vollbringen könnte.
Dazu gehörte zunächst nicht, die „Italienische Reise“ zu schreiben. Erst nahezu dreißig Jahre später tat er das. Dazwischen lagen die Französische Revolution, eine veränderte Beziehung zu dem Herzog, der Bruch mit Charlotte von Stein, ja ein halbes Leben. Goethe war am Ende seines Lebens angekommen und hatte gerade eben wieder eine kreative Durststrecke überwunden, inspiriert durch das Werk des persischen Dichters Hafis, das zum „West-Östlichen Divan“ führte. Gleich danach erschien 1816/1817 „Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung Erster und zweiter Teil“. Unsere „Italienischen Reise“. Das Buch war schlicht ein Ausschnitt aus der Autobiographie des gealterten Dichters, gestützt auf seine Tagebücher und Briefe.
Und heute? Ihren nächsten Italienurlaub sollten Sie damit nicht planen, über die Reiseorte erfahren wir woanders mehr. Wie sollten wir also die „Italienische Reise“ lesen? Jeder wie er oder sie mag! Aber warum nicht einmal als Anregung für ein gutes Leben? Burn-out nennen wir heute etwas, was Menschen schon vor Jahrhunderten hatten, eine geistige Erschöpfung, vielleicht in Kombination mit einem Festgefahrensein in seinem Leben. Eine Flucht nach vorne, ein Ausbrechen aus dem Trott verlangt viel Mut, kann aber eine Tür zu einem neuen Lebensabschnitt, ja zu einem neuen Zugang zu unserem Leben eröffnen. Das hat literarisch niemand beeindruckender ausgeführt als Johann Wolfgang von Goethe mit seinem Handbuch, wie man seine eigenen Wurzeln findet und sein Leben selbstbestimmt lebt. Heute würde das Buch vielleicht eher in der Ecke für Lebensratgeber stehen. Wenn sein Autor nicht schon in der verstaubten Schublade „Klassiker“ feststeckte …
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Dieser wunderbare Druck von 1925 ist nicht als Digitalisat verfügbar. Im Projekt Gutenberg können Sie aber die Italienische Reise online lesen.
Goethes Briefe sind extrem aufschlussreich. Das wäre so wie heute E-Mail-Verkehr und Chatnachrichten auf einmal komplett zu haben. Zumindest die eine Seite. Seit neuestem gibt die Korrespondenz mit Goethes Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer Einblicke in Goethes Werkstatt.
Wenn Sie nicht gleich nach Italien wollen, ein Besuch in Weimar ist auch immer lohnenswert. Besonders im Sommer, wenn die Klassik Stiftung Weimar zur Weimarer Gartenlust einlädt.
Als handliche Lektüre für den Sommerurlaub empfehlen wir unbedingt The Last Supper: An Italian Summer von Rachel Cusk. Die Autorin schreibt hier einen großartigen Bericht einer modernen Italienreise, in dem sie genauso über das Kunstschaffen der Renaissance wie die kulinarischen Eigenheiten des Landes sinniert (bisher leider nur auf Englisch erhältlich).