Eigentlich ist es kein Buch, sondern ein Büchlein, das Johannes Wolf 1608 anlässlich des Todes von Johann Wilhelm Stucki druckte. Es umfasst gerade mal fünf Bögen, enthält also 80 Seiten und ein Deckblatt. Der Inhalt ist - wie unfreundlich gegenüber dem modernen Leser - hauptsächlich in lateinischer Sprache abgefasst - mit griechischen und hebräischen Einsprengseln sowie einzelnen Texten in Französisch und Italienisch. Und schon das ist eine Botschaft. Sie teilt jedem, der dieses Büchlein in die Hand bekommt, mit, was für ein gelehrter Mann jener verstorbene Johann Wilhelm Stucki war, und dass er über hoch gelehrte Freunde in aller Welt verfügte.
Johann Wilhelm Stucki (1521-1607), um den es hier geht, ist heute mehr oder weniger vergessen. Er hat nicht einmal einen eigenen Eintrag bei Wikipedia. Wenn man etwas über ihn wissen will, muss man die wissenschaftlichen Lexika heranziehen. Zu seiner Zeit dagegen gehörte der Zürcher Theologe zu den Großen der Geisteswelt. Er korrespondierte mit Gelehrten in ganz Europa, und diesen Freunden war es wichtig, ihm und ihrer Freundschaft nach seinem Tod ein literarisches Denkmal zu setzen.
Das war im protestantischen Raum seit dem 16. Jahrhundert gängige Praxis. Und bald gab es auch für die gebildeten Anhänger von Zwingli und Calvin gedruckte Totenreden. Ja sogar die Katholiken übernahmen diesen schmeichelhaften Brauch. Jeder, der über einen gebildeten Freundeskreis verfügte, konnte auf eine kleine Publikation hoffen. Mehr als 300.000 (!) Leichenpredigten wurden im deutschsprachigen Raum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gedruckt.
Diese Drucke bestanden aus einem Text, der den Angehörigen Trost und den Lesenden erbauliche Gedanken bescheren sollte. Für die heutige Geschichtsschreibung wichtig ist vor allem der Teil, in dem Leben, Leistung und Persönlichkeit des Verstorbenen geschildert werden. Dass alle Verstorbenen dabei ziemlich gut wegkommen, mag in der Natur der Literaturgattung liegen.
Für Johann Wilhelm Stucki schrieb sein Freund, der Zürcher Theologe und Orientalist Kaspar Waser, die Leichenpredigt. Der verfügt im Gegensatz zu seinem Freund über einen eigenen Wikipedia-Eintrag, wahrscheinlich weil er nicht nur ein bedeutender Lokalpolitiker war, sondern weil er die Chronik von Johannes Stumpf fortsetzte. Er spickte seine in feinstem Latein verfasste Rede mit griechischen und hebräischen Zitaten, um seine herausragende Bildung zu zeigen und Stucki zu ehren.
Fast noch wichtiger als die Leichenrede waren die Beiträge, die andere zu Ehren des Verstorbenen verfassten. Sie zeigten nämlich an, welche Stellung der Verstorbene im Kreise der Gelehrten gehabt hatte. Da veröffentlicht der Basler Theologe Johann Jakob Grynaeus einen Brief, der seine Wertschätzung für Stucki festhält. Da verfasst der Dekan der philosophischen Fakultät in Heidelberg ein Gedicht in griechischer Sprache. Der Hofprediger sowie ein geheimer Rat des Pfälzer Kurfürsten steuerten genauso ein Gedicht bei wie Gelehrte aus St. Gallen, Schaffhausen und natürlich Zürich. Es gab Beiträge aus Italien in italienischer Sprache, aus St. Gallen in französischer Sprache, nicht zu vergessen einen Beitrag von Kaspar Waser selbst in schönstem Hebräisch.
Beenden wir diese Aufzählung. Die Namen der Freunde des guten Herrn Stucki sagen uns heute wenig. Sie sagen uns aber eines: Ob um 1600 oder heute, die soziale Stellung eines Menschen definiert sich vor allem über sein Netz an Freunden. Und ob diese seine Fotos mit einem Like zieren oder ihm eine 10seitige Ode nach dem Tode widmen, die Aussage bleibt die Gleiche: Dieser Mensch ist ein Mensch, den andere schätzen und achten.
Allerdings macht das Like wesentlich weniger Arbeit.
Ach ja, eines noch. Unser Büchlein war derart dünn, dass man es selbstverständlich so nicht in die Bibliothek stellen konnte. Es wurde mit vielen anderen Broschüren zusammengebunden. Wenn Sie den Namen der Rose gelesen haben, dann wissen Sie, wie Sie sich das vorstellen müssen...
Wenn Sie die Broschüre ganz durchblättern wollen, besuchen Sie bitte die Seite der Zürcher ZB.
Alle hier genannten Gelehrten finden Sie im Historischen Lexikon der Schweiz.
Direkt zu Johann Wilhelm Stucki kommen Sie hier.