Victor Hugo, einem der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, verdanken wir unter anderem eine nicht abreißende Faszination mit Notre Dame (Sie erinnern sich an Quasimodo und Esmeralda) und einen der größten Musicalhits aller Zeiten (Les Misérables). Das hier vorliegende Essay über William Shakespeare hat mit seinen großen Publikumserfolgen allerdings herzlich wenig zu tun: Was als kurze Einführung in die Dramen des englischen Dichters geplant war, uferte in ein 300-Seiten Werk aus, in dem Hugo letztlich gar nicht so viel über Shakespeare sprach, sondern – wie manch bösen Zungen behaupten – mehr über sich selbst ...
Artikeltext:
Wie die Romantik Shakespeare wiederentdeckte
Während Shakespeare zu Lebzeiten ein extrem erfolgreicher Bühnenautor gewesen war, verschwanden seine Dramen im späteren 17. und 18. Jahrhundert zunächst weitestgehend von den Spielplänen. Damals liebte man die Regelpoetik, vor allen in Frankreich: Dichtung – egal ob Lyrik oder Drama – galt dann als gut, wenn sie sich möglichst streng an einen Bausatz klassischer Vorgaben hielt. Der stammte natürlich aus der Antike. Wenn schon die alten Griechen herausgefunden hatten, wie man die perfekte Tragödie schrieb, wer war man, dies in Frage zu stellen?
Aber auch die Begeisterung für die strengen klassischen Formen hielt nicht ewig. Im 19. Jahrhundert wurde man ihrer überdrüssig und die Romantik erklärte Eigensinn, Originalität und Spontaneität zum neuen Ideal. In diesem neuen Licht wurde Shakespeare, ein notorischer Regelbrecher, zum großen Vorbild. Viele seiner Texte wurden jetzt wiederentdeckt und ins Deutsche und Französische übersetzt. Zum Beispiel von Hugos Sohn, François-Victor Hugo. Während der Junior die Dramen ins Französische übersetzte, machte sich Hugo Senior daran, für die Einführung in die Dramen eine kurze Biographie des englischen Idols zu verfassen.
Die „Schlacht um Hernani“
Das klassische Drama ließ sich aber nicht einfach so von der Bühne stoßen, oh nein! Als Hugo sein Schauspiel Hernani in der Comédie-Française uraufführte, versammelten sich im Publikum zahlreiche Anhänger beider Lager, Verteidiger der klassischen Form und Befürworter der „modernen“ Form Hugos (die erst später den Namen Romantik bekam). Tatsächlich mobilisierte Hugo seinen gesamten Freundeskreis, der als claque die Stimmung aufheizen sollte (ein claqueur war jemand, der dafür bezahlt wurde, im Publikum zu klatschen). Während der gesamten Aufführung kam es zu lautstarken verbalen und sogar körperlichen Auseinandersetzungen und der Abend ging als Wendepunkt in die Literaturgeschichte ein.
Solche Kämpfe in der Pariser Literaturszene waren durchaus nicht neu und natürlich ging es hier nicht nur um Theater, sondern um Politik. Im 18. Jh. hatte man darum gekämpft, die bürgerliche Oper neben der höfischen zu etablieren, eine Entwicklung, die die egalitären Bestrebungen im Vorfeld der Revolution widerspiegelte. In der Auseinandersetzung zwischen klassischem und romantischem Drama wurde dieser Konflikt zwischen konservativen und revolutionären Kräften fortgesetzt. Die klassische Form mit ihrer strengen Ständeklausel, Nähe zur Aristokratie und zur gehobenen Sprache vertrug sich eben besser mit den Wertevorstellungen des Régimes und Romantiker wie Hugo wollten diese alten politischen und theatralen Formen aufbrechen.
Ein Buch über Shakespeare Aischylos Hugo?
Aber zurück zu unserem Buch! Hugo beginnt eine Biografie Shakespeares zu schreiben und merkt dabei, dass er noch eine ganze Menge mehr zu sagen hat. Warum Shakespeare ein Genie war, wer noch alles ein Genie war (unter anderem: Hiob, Aischylos, Dante, Cervantes), warum Dichtkunst wichtiger ist als militärisches Geschick, und was die Aufgabe der Kunst allgemein und überhaupt sei. Kurz: Er nimmt Shakespeare zum Anlass, um eine ausschweifende, recht kryptische Abhandlung über seine eigene ästhetische Theorie zu schreiben.
Dieses Werk nennt er trotz der thematischen Abschweifungen William Shakespeare; es hat drei Teile mit jeweils mehreren Büchern. Eins dieser Bücher, mit dem Titel „Shakespeare l’Ancien“, etwa „Der Shakespeare der Antike“, liegt uns hier in einer besonderen Künstlerausgabe vor. Die Titelseite ziert eine große Radierung mit dem Porträt Shakespeares; im Hintergrund sehen wir das Globe Theater in London, in dem seine Stücke zu Lebzeiten häufig gespielt wurden. Diese Illustration ist insofern interessant, da es in diesem Buch gar nicht primär um Shakespeare geht, sondern um den griechischen Dichter Aischylos, den Hugo als antiken Urahn Shakespeares bezeichnet.
Was die beiden gemeinsam haben? Man muss ein bisschen lesen, um zu verstehen worauf Hugo hier eigentlich hinauswill, aber im Grunde genommen sieht er sie als große Revolutionäre der Bühne, jeder in seiner Zeit. Aischylos erneuerte die griechische Tragödie radikal, indem er einen zweiten Schauspieler auf die Bühne stellte und damit Dialoge ermöglichte. Shakespeare revolutionierte vor allem die Sprache des Theaters. Er ließ Könige und Hofnarren, Prinzen und Dirnen zu Wort kommen, er mischte erhabene Metaphern mit Schimpfwörtern und Liedern aus der Gosse. Und – Sie ahnen es – Hugo selbst reiht sich hier natürlich gerne als Genie ein, als nächsten großen Revolutionär der Bühne. So wurde der Text zwar nie ein wirklich wichtiger Bestandteil der Literaturkritik, er sagt uns aber einiges über Hugos Selbstverständnis. Hugo hätte das Werk treffender „Hugo“ oder „Über mich“ nennen sollen, haben wohl besonders spitze Zungen kommentiert.
Gonin/Erni – eine bewährte Kollaboration
Warum man 1977 in Lausanne gerade diesen Text neu verlegt hat, erschließt sich mir zugegebenermaßen nicht ganz. Inhaltlich dürften nur wenige Leser etwas damit anfangen können. Ich vermute also, es ist ein in erster Linie ein Prestigeprojekt für Bildungsliebhaber. Immerhin haben wir hier drei Riesen der Literaturgeschichte versammelt – Aischylos, Shakespeare, Hugo – dazu aus drei großen Epochen (Antike, Renaissance, Moderne).
Der Verlag André und Pierre Gonin aus Lausanne scheint zudem eine Vorliebe für klassische Stoffe zu haben. In Zusammenarbeit mit dem Schweizer Künstler Hans Erni erschienen dort ebenfalls illustrierte Ausgaben von Sophokles und Vergil. Wie auch das vorliegende Exemplar wurden diese Bücher stets in limitierter Auflage herausgegeben, auf handgeschöpftem Papier gedruckt und mit Signaturen des Künstlers versehen. Eine weitere Besonderheit: Die Papierbögen liegen lose, d.h. in ungebundener Form, vor und erinnern damit noch stärker an Zeichnungen aus einem Atelier.
Vielleicht muss man sogar so weit gehen, den Text als Beiwerk zu Ernis ausdrucksstarken Farbradierungen zu betrachten. Die zeigen verschiedene Figuren aus der griechischen Antike, allerdings ohne Bildunterschriften und klare Textbezüge. Haben wir hier eine Sphinx? Taucht die Sphinx in Aischylos’ Orestie auf? Soll das hier Sokrates sein? Ein Ratespiel für sehr Gebildete. Damit fangen die Bilder gut die Ambivalenz von Hugos Werk ein. Einerseits schwer zugänglich und etwas arrogant, andererseits kraftvoller Ausdruck eines überbordenden romantischen Willens. Denn auch das gehörte zur romantischen Idee: Die Überzeugung, dass wir nicht alles rational verstehen können. Gott, Natur, Kunst sind so immens, so gewaltig, dass wir sie nicht auf einmal fassen können. Wir müssen sie manchmal einfach auf uns wirken lassen.
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Wussten Sie, dass das Verkehrshaus in Luzern das meistbesuchte Museum der Schweiz ist? Es beherbergt auch das Hans Erni Museum.