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Logik: Wissenschaft oder Instrument?
Wenn wir von Aristoteles als Philosophen sprechen, dann dürfen wir uns kein verhutzeltes Männlein in seiner abgeschiedenen Denkerklause vorstellen, das nur über seinen Büchern brütet.
Aristoteles selbst teilte sein eigentliches Werk (und damit die seinerzeit beackerten Wissensgebiete) in drei Gruppen ein: theoretisches, praktisches und poietisches Wissen. Theoretisches Wissen sucht man um seiner selbst willen. Es reicht bei dem antiken Denker von Fragen nach der Beschaffenheit der Seele bis hin zu zoologischen Problemen. Praktische Bereiche sind für ihn die Ethik („Wie verhalten wir uns moralisch richtig?“) und die Staatsphilosophie, weil sie Auswirkungen auf die Politik und damit auf das tägliche Leben jedes Einzelnen haben kann. Das poietische Wissen schließlich deckt Rhetorik und Literaturwissenschaft ab.
Lassen wir die Qualität der Einteilung dahingestellt sein. Offenbar fehlt aber etwas völlig, was viele von uns heute als erstes mit Philosophie verbinden. Sie wissen schon, diese abstrakt erscheinenden Begriffe und Analysen, von denen Nichtphilosophen sagen, es handele sich um Lösungen zu Problemen, die normale Menschen gar nicht haben. Es geht dabei zum Beispiel um die sogenannten Syllogismen, diese Dreisätze der Logik: Wenn Bronze schwer ist (1) und alle Statuen aus Bronze sind (2), dann folgt daraus, dass alle Statuen schwer sind (3). Und gerade diese Syllogismen und überhaupt der Fachbereich der Logik und der Beschreibung, wie wir Behauptungen aufstellen, welche Arten von Argumentationen es geben kann usw., all das geht letztlich auf die theoretische Darstellung von Aristoteles zurück.
Kurioserweise gehörte es für ihn selbst aber nicht zur eigentlichen Philosophie, sondern ist nur das Werkzeug, mit dem der Philosoph arbeitet. Und daher haben schon die ersten Kommentatoren der aristotelischen Werke diese Schriften zur Logik unter dem griffigen Titel „Organon“, also Werkzeug, zusammengefasst.
Die Scholastiker und die Frage nach dem Geschlecht der Engel
Die Wirkungsgeschichte des „Organon“ war enorm. Aristoteles hatte den Philosophen und Theologen damit auf Jahrhunderte hin von der feinen Laubsäge über den Meißel bis hin zum schweren Vorschlaghammer schlichtweg alles in einem Kistchen sortiert, was die Denker brauchten, um „logisch“ debattieren zu können. Der Grieche Porphyrios und der Römer Boethius haben sich um die Tradierung ins Mittelalter besonders verdient gemacht. Ihnen ist zu verdanken, dass die mittelalterlichen Gelehrten jede beliebige Frage nach aristotelischen Kriterien untersuchten. Wie in Debattierclubs an englischen Universitäten war kein Problem zu abstrus – vorausgesetzt es verstieß nicht gegen die Grundsätze des christlichen Glaubens. Sogar die Frage nach dem Geschlecht der Engel konnte hitzig diskutiert werden. Hauptsache, so konnte man meinen, es wurde nicht zu lebensnah …
Wo bleibt der Bezug zum Leben?
Und so kam es, dass einer der größten Scholastiker gleichzeitig ihr entschiedenster Gegner wurde: der englische Franziskaner Roger Bacon. Im 13. Jahrhundert rief er seinen theologischen Kollegen laut zu: „Back to the roots!“ Der „doctor mirabilis“, der wunderbare Lehrer, wie man ihn auch nannte, forderte die pedantischen Beckmesser und Kritikaster auf, doch bitte ihren Aristoteles richtig (natürlich auf Griechisch!) zu lesen. Dann würden sie nämlich verstehen, dass der griechische Philosoph über ihre haarspalterischen und sinnfreien Diskussionen nur den Kopf geschüttelt hätte. In seinen zoologischen Forschungen ging Aristoteles nämlich durchaus empirisch vor und sezierte zum Beispiel wiederholt Hühnereier. So wollte er herausfinden, wie sich die Organe bei den Küken entwickelten. Für Aristoteles war die Logik eben nur ein Werkzeug, um lebensnahes Wissen zu ordnen, kein Zweck an sich.
Doch Roger Bacon war zu früh dran. Wer hätte sich von den kirchlichen Lehren entfernen wollen? Und wer konnte damals schon die Sprache des Aristoteles? Mit solchem Wissen gerüstet, sollten erst die Humanisten wieder die griechische Gelehrsamkeit entstauben und völlig neu entdecken.
Guillaume Morel: königlicher Hofdrucker und Gräzist
Kurz vor 1500 druckte Aldus Manutius zum ersten Mal den kompletten Aristoteles in griechischer Sprache. Eine bahnbrechende Leistung! Von da an folgten immer neue Drucke einzelner Schriften. Unser Buch wurde 1562 von Guillaume Morel in Paris gedruckt. Morel, 1505 im normannischen Teilleul in einfachen Verhältnissen geboren, hatte schon früh auf sich aufmerksam gemacht durch seine besondere Veranlagung für das Griechische. In Paris fand er bald eine Anstellung als Korrektor in einer Druckerei, wo er die Druckfahnen Korrektur las; eine verantwortungsvolle Tätigkeit. 1544 erregte er Aufsehen mit seiner Ausgabe von Ciceros „De finibus“. Was heute Philologen an der Universität betreiben, nämlich „Textkritik“ und das Erforschen des Originalwortlauts von antiken Schriften, lag damals häufig in der Hand von Druckern oder ihren Angestellten.
Morel machte sich selbstständig und tat sich 1552 zusammen mit Adrien Turnèbe, dem königlichen Drucker für das Griechische. Diese königlichen Drucker genossen zahlreiche Privilegien und für jedes Fachgebiet gab es nur einen einzigen Auserwählten. Obwohl der Titel später auf andere Drucker überging und nicht auf Morel, erhielt Morel 1555 die königlichen Matrizen.
Seine Organon-Ausgabe gilt als gründliche Arbeit. Wir finden die seit der Antike klassische Einleitung durch einen Aufsatz des Porphyrios gefolgt von den „Kategorien“, der Abhandlung über die „Aussage“, die „Logik“, die „Lehre vom Beweis“, die „Topik“, also die Abhandlung über die Definitionen, und die „Sophistischen Widerlegungen“. Die letzte Schrift handelt vordergründig von den Sophisten, jener Gruppe der Vor-Philosophen, mit denen Sokrates stets im Clinch lag. Tatsächlich ging es Aristoteles aber um etwas viel Allgemeineres: Welche Fehler gilt es beim Argumentieren und beim Ziehen von Schlüssen zu vermeiden? Frei nach dem Motto: Auch aus schlechten Büchern kann man etwas lernen, bediente er sich einfach des Beispiels der Sophisten.
Auch wenn Sie kein Griechisch können: Bewundern Sie doch die Eleganz des Schriftschnitts! Seit Aldus Manutius war die Erschaffung einer ästhetisch ansprechenden griechischen Schrift immer wieder eine Herausforderung für die Drucker. Hier übertrugen sie aus ihrer Erfahrung mit lateinischen Lettern die Verschnörkelungen und das stilvolle Zusammenziehen von Nachbarbuchstaben (Ligaturen in der Fachsprache) auf das Griechische. Als Ergebnis präsentiert sich das Schriftbild mit der Anmutung einer schwungvollen Handschrift.
Morel selbst publizierte zwar erfolgreich, doch starb er verarmt. Seine Frau übernahm das Geschäft und ihr Schwiegersohn wurde wieder königlicher Drucker für das Griechische.
Auch wenn Aristoteles’ Ansichten zu Logik und Topik mittlerweile als weitgehend überholt gelten, dürfen wir nicht vergessen: Ohne das „Organon“ als Werkzeugkasten der mittelalterlichen Denker hätte die Geistesgeschichte Europas einen völlig anderen Verlauf genommen.
Unsere Ausgabe findet sich nicht im Internet. In eine deutsche Übersetzung des „Organon“ können Sie bei Zeno hineinlesen.