Äthiopien liegt am Horn von Afrika, ohne einen eigenen Zugang zum Meer zu haben. Es ist ungefähr dreimal so groß wie Deutschland und vereinigt in seinen Grenzen rund 120 ethnische Gruppen, die über 80 Sprachen sprechen. Äthiopien zählt zu den ärmsten Ländern der Welt und hat eine Kultur, die Jahrtausende zurückreicht. Dabei stand Äthiopien immer enger mit europäischen Staaten wie Byzanz in Verbindung als mit den afrikanischen Nachbarreichen. Dies schlägt sich noch heute in seiner Volkskunst nieder, die Andreas Lommel 1985 folgendermaßen charakterisierte: „Äthiopische Kunst, das ist keine afrikanische Kunst, sondern eine europäische - aber ganz weit weg von Europa und seiner Geschichte, räumlich und zeitlich.“
Tatsächlich erinnern äthiopische Bilder an byzantinische Malerei. Sie knüpfen lückenlos an die oströmischen Ikonen an, und das hat einen guten Grund.
Artikeltext:
Eines der ältesten christlichen Reiche der Geschichte
Wo heute Armut herrscht, blühte einst das mächtige Reich von Axum. Erste Erwähnungen dieses Handelsimperiums stammen aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Das Reich von Axum kontrollierte mit seinem Hafen Adulis den Zugang zum Roten Meer. Das machte Axum zu einer wichtigen Station an der Handelsroute von Rom nach Indien. Steuereinnahmen und Geschäfte mit den Fernhändlern waren lukrativ und brachten großen Reichtum. Zahlreiche Schatzfunde, wie sie immer wieder in indischem Boden entdeckt werden, illustrieren, welche Mengen an römischen Denaren für indische Luxuswaren, chinesische Seide und kostspielige Gewürze durch Axum nach Indien flossen.
Häufiger Kontakt mit fremden Völkern bringt neue Ideen in ein Land. So auch in Axum. Immer mehr Händler gehörten dem christlichen Glauben an, und so entschied sich der axumitische Herrscher Ezana Mitte des 4. Jahrhunderts, für sein Reich ebenfalls den christlichen Glauben anzunehmen und damit zu einem engen Verbündeten von Ostrom resp. Byzanz zu werden.
Erst die Ausbreitung des Islams brachte das Ende des Axumitischen Reichs. Im 9. Jahrhundert wurde die alte Hauptstadt aufgegeben. Andere Dynastien füllten die Machtlücke, aber das Volk der Axumiten blieb seinem Land und damit dem christlichen Glauben treu. So überlebte mitten im islamischen Umfeld im heutigen Äthiopien eine christliche Kirche, deren Glaubensvorstellungen und Bilderwelt direkt an byzantinische Vorstellungen anknüpft.
Die Tewahedo-Kirche
Tewahedo bedeutet Einheit. Gemeint ist damit das Zusammenfließen der beiden Naturen Christi - göttlich und menschlich - in einer Person. Welches theologische Konzept dahinter steht, darüber streiten westliche Wissenschaftler. Die Beschäftigung mit dem Reich von Axum ist eine sehr junge Disziplin, und die axumitische Schrift zwar entziffert, aber viele Inhalte noch nicht gedeutet, so dass eine Fülle von Fragen vorläufig ungeklärt bleibt.
Sicher ist, dass die christliche Kirche von Äthiopien Jahrhundertelang isoliert überlebte, so dass sich Glaubensüberzeugungen und Kunstformen erhielten, die direkt an die Spätantike anknüpfen.
Viele Zeremonien der Tewahedo-Kirche gehen sogar noch weiter zurück: Sie beziehen sich auf jüdische Bräuche. Die Beschneidung wird genauso zelebriert wie die Einhaltung des Sabbat. So entstand die äthiopische Legende, dass das Herrscherhaus von Menelik, dem gemeinsamen Sohn von König Salomon und der Königin von Saba, abstamme. Er soll die Bundeslade nach Äthiopien überführt haben, wodurch der Bund Gottes mit den Juden auf das Volk der Äthiopier übertragen worden sei.
Die Tewahedo-Kirche ist das einzige christliche Bekenntnis Schwarzafrikas, das bereits vor der Kolonialisierung durch westliche Mächte bestand. Heute noch gehören ihr in Äthiopien ca. 32,1 Mio. Menschen bzw. 43,5 % der Bevölkerung an. Sie stammen aus der Volksgruppe der Amharen bzw. der Abessinier, wie westliche Quellen sie früher zu nennen pflegten. Sie stellten im Kaiserreich Abessinien die staatstragende Schicht. Ihr letzter Kaiser Haile Selassie, den ein Militärputsch 1974 aus seinem Land vertrieb, wurde durch die Rastafari-Bewegung auch in der westlichen Pop-Kultur bekannt.
Die vor allem in der Karibik weit verbreiteten Rastafaris betrachten den äthiopischen Kaiser Haile Selassie als ihren Messias. So taucht in zahlreichen Songtexten der Reggae-Musik Motive des äthiopischen Christentums auf.
Bilder in der Tradition byzantinischer Ikonen
Noch heute wird in Äthiopien ein Kunststil gepflegt, der seinen Ursprung direkt im byzantinischen Reich hat. Äthiopische Maler knüpfen mit ihren Werken direkt an koptische und byzantinische Wandmalereien an. Wer zeitgenössische Bilder amharischer Künstler betrachtet, fühlt sich an die frühchristliche Buchmalerei Irlands mit ihrem komplizierten Flechtwerk erinnert, auch wenn zwischen der Herstellung des Book of Kells und der des hier gezeigten Buchs fast ein Jahrtausend liegt.
Die Bilderbibel, die das MoneyMuseum von einer deutschen Sammlerin erwerben konnte, könnte genauso gut im 19. wie im 20. Jahrhundert entstanden sein. Sowohl die dafür verwendete Technik als auch der Stil haben sich seit Jahrhunderten nicht verändert: Die dunklen Umrisslinien der biblischen Gestalten lassen keine Bewegung erahnen. Maria, Christus, die Engel und alle Heiligen sind mitten in ihrem Handeln erstarrt. Der durch die Umrisslinien klar abgegrenzte Innenraum der Figuren wird mit wenig schattierten Farbfeldern gefüllt. So sind die Bilder zwei-, nicht dreidimensional. Auch der Hintergrund wird zur Fläche ohne jede Andeutung einer Landschaft. Das entrückt die Szenen aus dem Weltgeschehen, macht sie zu einem Teil der Ewigkeit.
Verkündigung und Christi Geburt
„Ave Maria, voll der Gnade“, scheint der Engel zu sagen, der Maria die Botschaft bringt, dass sie ein Kind empfangen wird. Die Mutter Gottes, die als rührige Hausfrau die Spindel bewegt, um so den Faden für ihre Webarbeit zu gewinnen, blickt den Betrachter des Buches aufmerksam an. Die Zugewandtheit, der Blick aus beiden Augen ist typisch für alle Ikonen der orthodoxen Kirche. Die Seele liegt in den Augen, so die Überzeugung von Künstler und Betrachter.
Diese frontale Sichtweise finden wir auch bei der Darstellung der Krippe: Maria, Joseph und Jesus, dazu die vier Engel, sie alle sehen uns mit beiden Augen an, auch wenn die Darstellung eigentlich eine Hinwendung zum Christuskind erfordern würde, eine Hinwendung, die durch ein leichtes Schielen in Richtung Krippe zum Ausdruck gebracht wird.
Ein Buch über die biblische Geschichte, das mit wenigen Worten auskommt
53% aller Bewohner Äthiopiens sind Analphabeten. Damit zählt das Land zu den Gegenden auf unserem Planeten, wo der Kampf gegen den Analphabetismus noch nicht gewonnen ist. Wie aber vermittelt ein Geistlicher seinen analphabetischen Gläubigen die Wahrheiten der Tewahedo-Kirche? Im Westen wurde dafür die so genannte Biblia Pauperum entwickelt, die Bibel der Armen und Einfältigen, die keine Schrift zum Verstehen brauchen, sondern eingängige Bilder.
Bilderbibeln
Die Idee einer Biblia Pauperum, einer Bibel, die den Armen, des Lesens Unkundigen das Heilsgeschehen nahebringen soll, entwickelte sich nicht nur in Äthiopien. Auch in Deutschland wurden Jahrhunderte lang solche Bücher benutzt. Man schreibt ihre Erfindung dem hl. Ansgar von Bremen zu, der im 9. Jahrhundert Norddeutschland und Skandinavien missionierte und dort mit Menschen zu tun hatte, die ebenfalls nicht in der Lage waren, theologische Texte zu lesen. Er soll deshalb einen ganz bestimmten Kanon entwickelt haben, um die christliche Botschaft verständlich zu machen. Mehreren - gelegentlich leicht wechselnden - Szenen des Neuen Testaments standen Geschehnisse aus dem Alten Testament gegenüber. Zentral waren die Geburt, die Passion und die Auferstehung Christi, dazu kamen einige Beispiele von Christi öffentlichem Wirken, so die Taufe im Jordan, die Auferweckung des Lazarus und die Hochzeit von Kana.
Diese Bilder wurden immer wieder verwendet, um damit Kirchen auszumalen oder mit Mosaiken zu schmücken. Die gleichen Bilder bedeckten Fastentücher und wurden mittels Druckstöcken aus Holz auf Papier appliziert. Eine Sammlung solcher Holzdrucke mit den Motiven der Heilsgeschichte wurde erstmals im 17. Jahrhundert vom Bibliothekar der Bibliothek von Wolfenbüttel bei seiner Katalogisierung als „Biblia Pauperum“ bezeichnet.
Während diese Bilderbibeln im Westen mit der Alphabetisierung und der Verbreitung gedruckter Bibeln seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung verloren, überlebten sie in anderen Weltgegenden - wie eben in Äthiopien.
Eine äthiopische Biblia Pauperum
Mit der westlichen Bilderbibel gemeinsam hat unser Beispiel vor allem die Form. In beiden Fällen handelt sich um ein Blockbuch, bei dem jede Seite einzeln hergestellt wurde, um sie zuletzt zusammenzufügen. Während schon die frühen Exemplare in Europa aus Kostengründen mittels Holzstempeln vervielfältigt und auf billiges Papier appliziert wurden, malte ein Künstler unser Beispiel auf Pergament. Dafür wurde die Haut gegerbt, in Streifen geschnitten, zusammengenäht, geglättet, für den Farbauftrag vorbehandelt und nach dem Bemalen zwischen zwei mit Leder bezogenen Holzdeckeln zusammengefaltet.
Im Wesentlichen handelt es sich um ein Bilderbuch. Die wenigen Worte, die unsere Gestalten umgeben, kann heute kaum noch jemand lesen - auch in Äthiopien selbst. Die Texte sind in Alt-Äthiopisch, einer uralten Sprache, die heute noch in der Liturgie der Tewahedo-Kirche benutzt wird. Bis heute gibt es dazu kein Wörterbuch, um unbekannte Wörter nachzuschlagen.
Aber das brauchte es sowieso nicht, um zu verstehen, was auf den Bildern dargestellt ist. Wir erkennen die Abbildungen ohne zusätzliche Schrift. Die Anbetung der Könige, Christi Beschneidung im Tempel, Christi Taufe im Jordan, die Berufung der Apostel, die Hochzeit von Kana, die Erweckung des Lazarus, Kreuzigung und Himmelfahrt: Dieses Buch ist gemacht, um einem einfachen Menschen zu zeigen, was da vor vielen Jahrhunderten im fernen Galiläa geschah.
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Das „Bilderbuch als Bildungsbuch“ funktionierte nicht nur für die Bibel, sondern auch, um einer modernen Leserschaft im 19. Jh. Wissen über die antike Welt zu vermitteln.
Ein weiteres bibliophiles Werk mit Afrikabezug haben wir im Artikel „Die Schätze Afrikas“ vorgestellt.
Mehr über die Geschichte Äthiopiens erfahren Sie in diesem Dokumentarfilm (auf Englisch).