Sie wirken ein bisschen angestaubt, jene Erzählungen von Johann Jacob Bodmer, die dieser im Jahr 1769 den aufblühenden Schweizern widmete. Titel wie „Die Kraft des Vaterlandes“, „Der edle Bauer“ und „Die Sitten der alten Unschuld“ lassen den modernen Leser schnell vermuten, dass es in diesem Traktätchen nicht um Unterhaltung, sondern um Belehrung geht. Der jugendliche Leser - vorzüglich natürlich der Schweizer - solle sich doch bitte ein Beispiel daran nehmen, wie heldenmütig, selbstlos und bescheiden seine Vorfahren waren.
Artikeltext:
Eine geschönte Vergangenheit
Dass die von Bodmer erzählte Vergangenheit ungefähr so viel mit dem wahren Geschehen zu tun hatte wie ein moderner Hollywood Film mit der aktuellen Geschichtsforschung realisiert der moderne Leser nach wenigen Zeilen. Doch Autor Johann Jacob Bodmer sah das anders. Für ihn war das, was er erzählte, die Essenz der Geschichte. Und er hatte ein für die damalige Zeit durchaus profundes Wissen von der Vergangenheit.
Sein Vater, ein reformierter Pfarrer, hatte ihn nämlich nicht nur in die Lateinschule, sondern auch auf das Collegium Carolinum geschickt, jene Institution, aus der sich die Zürcher Universität entwickeln sollte. Danach war eigentlich geplant, dass Bodmer Kaufmann werden sollte. Doch dafür fehlte ihm die Begabung. Er war ein Bücherwurm, der mit Begeisterung las. Er kannte die alte und neue Literatur in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache, betätigte sich als Übersetzer - u. a. von Milton und Homer - und als Herausgeber z. B. von der Manessischen Handschrift und Teilen des Nibelungenlieds.
1731 hatten ihn die Zürcher zum Professor für Schweizer Geschichte an seiner alten Alma Mater, dem Collegium Carolinum in Zürich, gemacht. Die historischen Idyllen dieses Bandes verfasste also nicht irgendein Hobby-Literat, sondern ein professioneller Historiker!
Aus der Geschichte lernen?
Allerdings hatte die Geschichtsforschung des 18. Jahrhunderts ein anderes Ziel als heute. Ihren Vertretern ging weniger darum, die Vergangenheit möglichst korrekt zu rekonstruieren, sondern vielmehr die Vergangenheit als Vorbild für die Gegenwart nutzbar zu machen. Geschichte wurde als Exempel verstanden, nach dem kluge Menschen ihr Handeln ausrichteten.
Doch was war im 18. Jahrhundert das nachahmenswerte Vorbild? Darüber ließ sich prächtig streiten. Die Griechen und Römer boten sich natürlich an. Doch Jean-Jacques Rousseau hatte ein neues Konzept zur Diskussion gestellt: Er beschrieb den zivilisierten Menschen - und viele Leser werden bei diesen Worten zustimmend genickt haben - als selbstsüchtig, unwahrhaftig und eitel. Den edlen Wilden dagegen hielt er für unverbildet. Die Natur selbst habe ihn zum bestmöglichen Menschen erzogen.
Und wo ist nun der edle Wilde?
Wo aber war dieser edle Wilde zu finden? 1771, kurz nachdem Bodmers Büchlein erschien, publizierte Louis Antoine de Bougainville, den wir heute eigentlich nur noch wegen der nach ihm benannten Blume kennen, seinen Reisebericht, in dem er den irdischen Garten Eden auf Tahiti lokalisierte.
Johann Jacob Bodmer sah das anders. Für ihn waren die Bewohner der Schweizer Alpen mindestens so edel wie die nackten Tahitianer. Sie galten ihm als die einzigen Schweizer, die sich bis zu seinen Lebzeiten an das Vorbild der alten Eidgenossen hielten. (Wir dürfen voraussetzen, dass Bodmer wohl eher keinen engen Umgang mit echten Schweizer Berglern pflegte.) Die alten Eidgenossen des Spätmittelalters waren für Bodmer das, was für die Franzosen die Südseeinsulaner waren: Jene Menschen, die von der Zivilisation noch nicht in ihrer natürlichen Sittlichkeit geschädigt waren. Alles, was nach dem Spätmittelalter kam, war für Bodmer die pure Entartung.
Johann Jacob Bodmer war der erste, der die Schweizer Bergler mit Rousseaus edlen Wilden gleichsetzte. Und er übermittelte seine Vorstellung den vielen Besuchern, die in seinem Zürcher Haus zum Oberen Schönenberg ein und aus gingen. Klopstock, Wieland, die beiden Weimarer Größen, dürften Johann von Goethe begeistert von dem klugen Schweizer erzählt haben, mit dem sie sich so trefflich unterhalten hatten. Und so besuchte auch Goethe auf einer seiner Schweizer Reisen Bodmer.
Auf den Bergen wohnt die Freiheit!
Bodmer beeinflusste mit seinen Ideen viele Menschen, vielleicht auch - über Klopstock, Wieland und Goethe - Friedrich Schiller. Seine Vorstellung vom edlen Schweizer Bergbewohner war um 1800 geradezu Allgemeingut geworden. Mit dazu beigetragen hatten auch seine Geschichten, die wir in diesem Büchlein finden. Sie stellten für ihre jugendlichen Leser durchaus ein glaubhaftes Abbild der Vergangenheit dar. Auch wenn Bodmer natürlich durchaus zugab, ausgewählt und geschönt zu haben, galten sie als der wahre Kern des Geschehenen, der abseits von lästigen Details den Geist des Mittelalters vermittelte.
Bodmer gehört zu denen, die mit ihrem Werk die Mittelaltersehnsucht der Romantik beflügelten. Wobei das romanische Mittelalter genauso wenig mit der Zeit der Ottonen und Staufer zu tun hatte wie das Mittelalter Bodmers.
Jede Zeit schreibt sich eben ihre Geschichte neu, und zwar genauso, wie sie sie braucht.
Sie können Bodmers Büchlein „Historische Erzählungen die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken“ digital selbst durchblättern.