Sie kennen das: Sie sind zu Besuch. Um einen Tisch stehen viele Stühle. Auf welchen sollen Sie sich setzen? Jede Familie hat ihre interne Sitzordnung, die Sie als Gast nicht kennen. Deshalb warten Sie, jedenfalls wenn Sie eine gute Erziehung genossen haben, bis der Gastgeber Ihnen Ihren Platz anweist.
Es gibt unzählige Situationen im Alltag, in denen wir auf ungeschriebene Regeln stoßen, deren Unkenntnis uns als Außenseiter entlarvt. Das ist heute meist nicht schlimm oder gar ehrenrührig. In der frühen Neuzeit war es das, jedenfalls wenn man sich als Adliger bei Hofe angemessen bewegen wollte.
Wie sollte zum Beispiel ein Bürgermeister der Stadt Zürich, der an den Hof des mächtigsten Königs der damaligen Welt gerufen wurde, wissen, wie er sich zu benehmen hatte? Schüttelte man dem König die Hand oder küsste man seinen Ring? Bestieg man die Empore oder kam einem der König entgegen? Dass man seinen Hut abnahm, war selbstverständlich, aber wie tief sollte die Verbeugung sein?
Damit sich bei Hofe niemand daneben benahm, gab es das Amt des Zeremonienmeister. Er leitete diejenigen an, die an einem offiziellen Anlass teilnahmen. In Zusammenarbeit mit den führenden Politikern entwickelte der Zeremonienmeister ein fein abgestimmtes Protokoll, an dem Eingeweihte genau sehen konnten, wie das Verhältnis der Teilnehmenden zum Herrscher und untereinander war.
Es gab Hunderte von kleinen und kleinsten Abstufungen, zum Beispiel wie weit der Gast bei einer Audienz die königliche Empore hinaufschreiten durfte. Während auf diesem Bild der Doge von Genua nur eine Stufe unter dem König steht, muss sein Gefolge am Fuß der Treppe zurückbleiben.
Auch der Rang eines französischen Adligen ist für Kenner der Szene anhand der Position zum König zu erkennen. In unserem Fall nimmt der Thronfolger den Ehrenplatz rechts von Ludwig XIV. ein, links von ihm steht sein Bruder, rechts dessen Sohn. Und das ist exakt die Reihenfolge, in der die Männer ein Anrecht auf den französischen Thron hatten.
Schwirrt Ihnen schon der Kopf? Das ging Zeremonienmeistern genauso. Sie mussten auf so vieles achten! Welche Ehre erwartet ein Gesandter des persischen Schahs? Sitzt er beim Festmahl weiter oben an der Tafel als der Gesandte des Königs von Polen? Und wie steht es, wenn der Herzog von Jülich und Berg persönlich anwesend ist? Zieht er beim Gottesdienst vor dem Gesandten des Erzbischofs von Mainz ein? Diese Fragen waren nicht unwichtig. Im Gegenteil. Das Nibelungenlied überliefert uns so einen Streit um den Platz an der Spitze einer Prozession mit all seinen Konsequenzen: Kriemhild und Brünhild können sich nicht einigen, wer zuerst in den Dom von Worms einziehen darf. Ihr Streit endet in der Ermordung Siegfrieds durch Hagen, der so die verlorene Ehre seiner Königin rächt.
Und damit sind wir über einen weiten Bogen zu dem Buch gekommen, das wir Ihnen heute vorstellen. Johann Christian Lünig verfasste sein Werk, um all denen, die an den kleineren und größeren Fürstenhöfen Deutschlands, in den freien Reichsstädten, Abteien und Klöstern immer wieder vor der Frage standen, welches Protokoll für einen offiziellen Anlass einzuhalten sei, einen Anhaltspunkt zu geben.
Er selbst war ein Praktiker, erst Amtmann in Eilenburg, einer sächsischen Provinzstadt, dann Stadtschreiber in der wesentlich wichtigeren Stadt Leipzig. In beiden Funktionen dürfte er erlebt haben, wie hilflos seine Zeitgenossen waren, wenn es um Sonderfälle im Protokoll ging. Und so nutzte er das gewaltige Material, das er auf seinen Reisen in den Bibliotheken, Archiven und Amtsstuben des gesamten deutschen Reichs abgeschrieben hatte. Er veröffentlichte eine Sammlung, in der er schilderte, wie wer wann welchen Anlass mit welchem Protokoll begangen hatte.
In dieser Sammlung fand der Ratsuchende, wie an den führenden Höfen Europas bestimmte Ereignisse begangen worden waren. Er suchte sich daraus einen Präzedenzfall für das geplante Fest heraus, für ein Begräbnis, eine Taufe, eine Hochzeit, den Empfang eines Gesandten, was auch immer. Und er konnte dort nachsehen, welche Rangordnungen bei welcher Gelegenheit benutzt worden waren. Man konnte bei einem Fest die Gesandten zum Beispiel in der Rangfolge behandeln, in der sie bei einem Reichstag einzuziehen hatten - und schon machte man nichts falsch.
Lünig war nicht der einzige, der eine solche Sammlung von Präzedenzfällen veröffentlichte. Es gab eine Fülle von Büchern zum Zeremonialwesen! Und so wurde es eine aufwändige Wissenschaft, immer genau das richtige Zeremoniell aus hunderten von möglichen herauszupicken. Eine Wissenschaft, die mancher Fürst für ziemlich blöde und überflüssig hielt. Der ganze höfische Schnickschnack kostete Zeit und Geld, ohne wirklich etwas zu bringen. So sah das zumindest Friedrich Wilhelm I. von Preußen, den wir heute als den Soldatenkönig kennen. Er entließ seinen Zeremonienmeister und steckte das so gesparte Geld in den Ausbau seiner Armee.
Denn das ist natürlich auch eine Möglichkeit: So mächtig zu sein, dass man tun kann, was man will.
Wenn Sie ein bisschen schmökern wollen, wie das Hofzeremoniell früher gehandhabt wurde, dann schauen Sie sich doch den 1719 publizierten ersten Band des Werks an. Das Exemplar der Bibliothek von Wolfenbüttel wurde digitalisiert.
Dort gibt es auch Band 2 und Band 3.
Dass wir heute noch immer Bedarf haben an Verhaltensmaßregeln im ungewohnten Terrain, zeigt die reiche Ratgeberliteratur im Internet. Wollen Sie wissen, wie man sich in der Sauna verhält? Ganz sicher werden Sie vor Ihrem nächsten Japan-Aufenthalt nachsehen, was man in diesem Land ganz sicher nicht tun darf.
Audienzen gibt es heute noch, auch wenn die ein bisschen anders aussehen als an einem Fürstenhof der frühen Neuzeit. Hier können Sie auf youtube eine Audienz beobachten, bei der Papst Franziskus Mitglieder des Italienischen Roten Kreuzes im Jahr 2018 empfing.