Welchen Wert hat Wahrheit, wenn jeder seine eigene hat und wenn sich alle im Namen der eigenen Wahrheit umbringen? Wenn Ideologien ein Land mit Blut tränken, sollte dann nicht Friede das sein, wonach die Gesellschaft und jeder einzelne strebt? Aber wie kann es zu einem Frieden für alle kommen? Solche Fragen trieben Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert um. Ganz klar: Der Mann wurde hineingeboren in eine der blutigsten Epochen Englands und sein Intellekt arbeitete sich daran ab. Die Quintessenz seines Lebenswerkes hat er 1668 vorgelegt mit seinen gesammelten auf Latein verfassten philosophischen Schriften. Bezeichnenderweise publizierte er sie in Amsterdam, denn in seinem eigenen Land war ihm das nicht möglich. Schauen wir uns diesen Erstdruck eines der großen europäischen Denker näher an.
Artikeltext:
Joan Blaeu – nicht nur der mit den Karten
Gedruckt hat dieses Werk ein Meister seines Faches, der Niederländer Joan Blaeu. Blaeu, fragen Sie vielleicht, ist das nicht der mit den Karten? Genau. Die Familie Blaeu war über Generationen Vorreiter in der Produktion von Atlanten und Globen und sie beanspruchte selbstbewusst eine Spitzenposition in diesem Metier. Das erkennen wir auch in diesem Buch am illustrierten Motto Joan Blaeus: eine Armillarsphäre (die natürlich auf die kartografischen Leistungen verweist) und daneben zwei mythologische Figuren, links eine Art „Sensenmann“ als Personifikation der Zeit, rechts Herakles, zu erkennen an Löwenskalp und Keule. Das Motto „indefessus agendo“ hatte Ovid in seinen „Metamorphosen“ eben jenem Herakles in den Mund gelegt: Er habe zeit seines Lebens „unermüdlich gearbeitet“. Nicht ganz unbescheiden stellte sich Blaeu somit in die Nachfolge des Halbgottes.
Tatsächlich haben die Blaeus neben ihren Atlanten und Globen, für die sie in ganz Europa berühmt waren, eine normale Druckerei betrieben. Auch bei dieser Arbeit genossen sie einen exzellenten Ruf. Ansonsten hätte Englands größter zeitgenössischer Denker kaum sein Lebenswerk dort setzen lassen. Hobbes vertraute Joan Blaeu seine acht philosophischen Bücher an, die 1668 in einem einzigen Buch zusammengefasst vorgelegt wurden.
Thomas Hobbes – vom Wunderkind zum Quälgeist
Thomas Hobbes stand damals im biblischen Alter von 80 Jahren – und er sollte noch elf weitere Jahre leben. Er galt als einer der wichtigsten Denker seiner Zeit – und war einer der umstrittensten. 1588 wurde Hobbes in einfachsten Verhältnissen im südlichen England geboren; ein Wunderkind, das mit vier Jahren lesen, schreiben und rechnen konnte, mit acht Latein und Griechisch beherrschte und wenig später an der Universität studierte. Danach bereiste Hobbes in einer gesicherten Stellung als Privatlehrer in der Familie des Barons von Cavendish ganz Europa. Begegnungen mit René Descartes, Galileo Galilei und anderen Geistesgrößen prägten ihn – und entfernten ihn immer weiter von den bisherigen bequemen konformistischen Positionen. 1642 brach in England der Bürgerkrieg aus, Hintergrund waren staatsrechtliche Konflikte zwischen König und Parlament, verbrämt mit einem konfessionellen Deckmäntelchen. Sie sollten die Folie sein, vor der Hobbes sein Ideengebäude errichtete. Während er es sich nach und nach mit allen Protagonisten verdarb, allen voran mit König und Kirche, scheint es fast ein Wunder, dass der freidenkerische Philosoph nicht schnell auf dem Schafott endete.
Zwischen Aufklärung und Absolutismus
Tatsächlich hatte Hobbes bereits 1640 aus England fliehen müssen. In dem religiös aufgeladenen Konflikt hätte er nicht lange überlebt, denn seine Gegner sahen in ihm einen Atheisten. Das war er eigentlich nicht, aber als Aufklärer trennte er streng zwischen Religion und Glaube einerseits und exakter Wissenschaft andererseits. Das ging damals gar nicht! Das Pariser Exil kam Hobbes dagegen zugute, denn sein dortiger Mathematikschüler war Karl II., der spätere Herrscher Englands und seinerzeit gleichfalls Exilant.
Heute erscheint uns Hobbes in seinem Denken seltsam gespalten. Auf der einen Seite vertrat er aufklärerische Positionen. Auf der anderen Seite befürwortete er einen absolutistischen Herrscher. Nur wenn die Macht in einem Souverän konzentriert war, ließ sich nämlich das durchsetzen, was in seinen Augen das Ziel sein musste: Frieden.
1650 hatte sich Hobbes mit dem revolutionären Regime Oliver Cromwells arrangiert und war in seine Heimat zurückgekehrt, wo er den staatstheoretischen „Leviathan“ (zunächst auf Englisch) veröffentlichte, dessen Übersetzung unsere Gesamtausgabe beschließt. Das nahm ihm sein ehemaliger blaublütiger Schüler durchaus übel, denn für ihn klang es so, als müsse der Souverän nach Hobbes keineswegs der König von Gottes Gnaden sein. Er verstand die Schrift als Legitimierung eines starken Potentaten à la Cromwell. Majestät war not amused.
Alles erklärt in drei Schritten
Hobbes mag das anders gesehen haben. Ihm ging es in seinen Werken um nichts Geringeres, als um eine erkenntnistheoretische Methode, mit der man gewissermaßen alles, die gesamte Welt, begreifen und verstehen konnte. Schon früh hatte er diesen Ansatz seiner „Elementa Philosophiae“ in drei Teilen konzipiert, die hier auch enthalten sind. In seinem mechanistischen Ansatz war er Schüler von René Descartes. So wie der Mensch eine Art Maschine war, deren Teile sich begreifen ließen, so funktionierte auch die Welt. Nur das Körperliche war wirklich. Diese Schule war Avantgarde und gerade bei der Kirche äußerst unbeliebt.
In dem Werk „Über den Körper“ geht es um die materialistische Essenz des Seins und um mathematisch-naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Das überträgt Hobbes dann in den nächsten zwei Schritten, beziehungsweise Büchern, auf den Menschen („De Homine“) und die Gesellschaft („De Cive“). Im „Leviathan“ schließlich vertieft er die staatsrechtlichen Aspekte und kommt zu dem berühmten Satz, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Überall Krieg und Streit, so seine pessimistische Sichtweise. Das einzige allgemeingültige Recht, das Hobbes anerkennt, ist das Naturrecht auf Selbsterhaltung. Der religiös-ideologisch verbrämte Krieg in England zeigte ihm: Es kann nicht nur eine Wahrheit geben, wenn jeder seine eigene hat. Das Ziel der mittelalterlichen Scholastik, die Wahrheit zu erkennen, war für Hobbes daher überholt. Pragmatisch ging es ihm um ein friedliches Leben, das heißt um keinen Krieg in der Gesellschaft. Viele seiner Ideen tragen Hobbes hinüber aus der Welt des religiösen 17. Jahrhunderts in die Moderne des Individuums: Der Souverän soll herrschen, indem die Individuen ihre jeweilige Macht übereinstimmend auf ihn übertragen. Bei Hobbes fassen wir die Grundlage unserer heutigen Welt, einer Welt von Einzelkämpfern, von Individualisten, die sich nicht mehr nur als Teil einer Familie oder Gemeinschaft begreifen. Bei Hobbes tun sich die Menschen aus nackter Existenzangst zusammen und verzichten auf ihre uneingeschränkte Freiheit, um ein stabiles Miteinander zu ermöglichen.
Wir spüren in allen seinen Texten, dass Hobbes in dieser unruhigen Lebenswirklichkeit die Wahrheit nicht als absolut akzeptierte, so wie er auch in seinem Leben lavieren musste zwischen Cromwell und König, Kirche und Intellekt. Nach der Rückkehr Karls II. konnte Hobbes als weithin respektierter Denker arbeiten. Aber das Publizieren war schwierig. Seine auf Englisch verfasste Analyse des Bürgerkriegs ließ ihn sein Souverän nicht drucken, seine lateinischen Schriften schickte er nach Amsterdam, wo sie Joan Blaeu vorbildlich in alle Welt trug.
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Auf der Seite der Universidad Complutense de Madrid finden Sie das komplette Digitalisat von Hobbes Opera Omnia von 1668.
Einen guten Überblick über Thomas Hobbes, sein Leben und Werk sowie bekannte Zitate finden Sie im Philosophenlexikon.
Wenn Sie Hobbes’ Ideen zum Staatsrecht genauer kennenlernen möchten, schauen Sie sich das Video „Die perfekte Gesellschaft“ an.