Als Moses Mendelssohn im Jahr 1743 Berlin betrat, musste er am Stadttor nicht nur unbequeme Fragen beantworten, sondern auch den so genannten Leibzoll entrichten. Der Leibzoll war eine besonders erniedrigende Abgabe, die viele deutsche Staaten von jüdischen Menschen beim Betreten einer Stadt erhoben. Sie stellte die Juden dem Vieh gleich, das ebenfalls am Stadttor verzollt werden musste, wenn der Bauer es zum Schlachten in die Stadt trieb.
Damals war Moses Mendelssohn ungefähr 14 Jahre alt und seit frühester Kindheit an Armut und die Schikanen der christlichen Mehrheitsgesellschaft gewöhnt. Doch die Aufklärung hatte den Blick der Bildungselite ein klein wenig erweitert und zu der Erkenntnis geführt, dass das Christentum vielleicht nicht die einzig mögliche Wahrheit gepachtet hatte. Die bürgerliche Gesellschaft öffnete sich – zumindest ein wenig – gegenüber ihren jüdischen Angehörigen. Und so fand der begabte Moses, der neben seiner Muttersprache, dem Jiddischen, nicht nur Hebräisch, sondern auch Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch und Latein beherrschte, schnell Gönner, die ihn als Attraktion in die damals so beliebten bürgerlichen Salons mitnahmen. Der eloquente, belesene und wohlerzogene junge Mann glänzte in einer Gesellschaft, die sich gerne vom Wortwitz der Gebildeten unterhalten ließ.
Seiner überragenden Intelligenz und seiner Bildung verdankte der junge Moses eine Stelle als Hauslehrer bei dem jüdischen Seidenunternehmer Isaak Bernhard. Der machte ihn bald zu seinem Buchhalter, danach zum Fabrikleiter und zuletzt zum Teilhaber, so dass Moses Mendelssohn nun selbst zum Bürgertum gehörte, und es sich leisten konnte, ein offenes Haus zu führen, in dem nicht nur Juden, sondern auch Christen willkommen waren.
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Eine Freundschaft fürs Leben und ein Einstieg in die literarische Welt
Zu diesem Zeitpunkt war Moses Mendelssohn bereits ein anerkannter Philosoph und Autor. Das hatte er seinem Freund, dem gleichaltrigen Gotthold Ephraim Lessing, zu verdanken. Die beiden hatten sich 1754 kennengelernt und teilten ihre Vorliebe für die Toleranz und die Aufklärung, ohne deshalb auf den Glauben an Gott und die Rituale ihrer Vorfahren verzichten zu wollen. Mendelssohn lieh seinem Freund Lessing eines Tages ein Manuskript, einen philosophischen Dialog, der Lessing derart begeisterte, dass er ihn – ohne mit dem Freund Rücksprache zu nehmen – veröffentlichen ließ. Anonym. Anonym blieben auch die vielen Briefe, die Moses Mendelssohn für das von Lessing unterstützte Projekt der „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ verfasste. In ihnen kritisierte er ziemlich scharf die bestehenden Verhältnisse und fand für seine Ansichten viel Zustimmung.
Vielleicht gab ihm das den Mut, 1661 seine „Philosophischen Schriften“ unter eigenem Namen herauszubringen, wahrscheinlich in einer winzig kleinen Auflage. Denn selbst den großen Bibliotheken geht es wie dem MoneyMuseum: Sie besitzen keine Erstausgabe dieses wichtigen Werks, sondern eine wesentlich spätere Version. Denn Mendelssohns Schriften wurden erst in großen Auflagen gedruckt, als die gebildete Welt ihn als einen führenden Denker deutscher Sprache kannte.
Eine beeindruckende Karriere
Denn Moses Mendelssohn strafte all die weit verbreiteten Vorurteile über Juden der Lüge. Er gewann im Jahr 1763 mit seinem Essay den Ersten Preis der königlichen Akademie von Berlin, und zwar vor Immanuel Kant, der damals noch in Königsberg als unbekannter und schlecht besoldeter Privatdozent lebte. Im gleichen Jahr verlieh König Friedrich II. Mendelssohn das „Schutzjuden“-Privileg. Damit rückte Mendelssohn an die Spitze der jüdischen Gesellschaft in Preußen vor. Die erste der sechs Rechtsklassen, die Preußen für Juden geschaffen hatte, beinhaltete das Recht auf Niederlassung, und zwar – damals nicht selbstverständlich – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Kinder und die im Haushalt lebenden jüdischen Bediensteten.
1767 publizierte Moses Mendelssohn sein wohl bekanntestes Werk, den „Phaidon“, der zu einem der meistgelesenen Bücher im deutschen Sprachraum wurde. Wir werden uns diesem Buch in einem eigenen Artikel widmen. Es machte den Namen Moses Mendelssohn nicht nur in Deutschland bekannt, sondern auch in allen anderen europäischen Nationen. Der Jude aus Berlin wurde in der gebildeten Gesellschaft als deutscher Platon oder deutscher Sokrates gefeiert.
Als Lessings unsterbliches Drama Nathan der Weise im Jahr 1779 uraufgeführt wurde und der Text im gleichen Jahr als Buch erschien, wollte man seinen Freund Moses Mendelssohn als Vorbild der Titelfigur erkennen.
Mendelssohn wird zu einem guten Geschäft
1780, also ein Jahr nach der Uraufführung von Nathan dem Weisen publizierte der Karlsruher Verleger Christian Gottlieb Schmieder die beiden Bände der „Philosophischen Schriften“ von 1761. Schmieder fertigte das an, was man heute einen Raubdruck nennen würde. Er hatte sich nicht mit dem ursprünglichen Rechteinhaber abgesprochen. Schmieder war berüchtigt für solches Vorgehen. Er hatte sich irgendwie ein kaiserliches Privileg verschafft, das ihm erlaubte, eine „Sammlung der besten prosaischen Schriftsteller und Dichter“ herauszugeben. Und dieses Privileg diente ihm als juristischer Vorwand, all die Texte zu klauen, die ein gutes Geschäft versprachen. Und dazu gehörte 1780 eben das Werk von Moses Mendelssohn. Dass der Berliner Drucker dafür vom preußischen König ein Privileg besaß, störte Schmieder nicht, ganz anders seinen Landesherrn, den Markgraf von Baden. Der untersagte Schmieder im Jahr 1780 den Nachdruck von Büchern, die in Berlin mit preußischem Druckprivileg erschienen waren. Schmieder störte das nicht. Druckte er nun halt Bücher aus Leipzig mit sächsischem Druckprivileg nach.
Darf man einen Selbstmord auf der Bühne zeigen?
Warum waren nun die „philosophischen Schriften“ von Mendelssohn für seine Zeitgenossen so interessant. Ganz einfach, er behandelte in seinem ersten Beitrag „Über die Empfindungen“, den man damals einfach gelesen haben musste, um im Salon mitreden zu können, die Frage, was man zur Unterhaltung darstellen dürfe und was nicht, eine überaus aktuelle Frage. Mendelssohn beschäftigte sich konkret mit dem Selbstmord auf der Bühne. Schließlich galt der Selbstmord nach kirchlichem Recht im 18. Jahrhundert noch als Todsünde. Wer von eigener Hand starb, wurde außerhalb des Friedhofs, ohne kirchliche Zeremonie verscharrt. Darf man nun, so die Frage, aus ästhetischen Gründen, um also eine packende und runde Handlung zu konstruieren, ein Drama auf der Bühne mit einem Selbstmord enden lassen? Mendelssohn unterschied dabei zum ersten Mal zwischen der Ästhetik und der Ethik eines Kunstwerks, und diskutierte die Frage, ob es erlaubt sein könne, verworfene Handlungen auf der Bühne ästhetisch zu überhöhen.
Mendelssohns Antwort fiel dann ganz im Sinne seines Freundes Lessing aus, der 1772 seine Emilia Galotti mit einem halben Selbstmord – sie zwingt ihren Vater dazu, sie zu töten – enden ließ. Und rund zehn Jahre später wird Schiller in Kabale und Liebe ganz selbstverständlich seinen Helden Mord und Selbstmord begehen lassen, natürlich nur aus den edelsten Beweggründen.
Mendelssohn hatte nämlich eine Art Konsens in dieser Frage geschaffen: Auch wenn der Selbstmord selbstverständlich moralisch nicht zu vertreten ist, kann man ihn auf der Bühne zeigen, um bei den Zuschauern heftige Gefühle auszulösen, und sie so zu einem besseren, aufgeklärteren Verhalten führen.
Von vielen geehrt, und doch ein Außenseiter
Moses Mendelssohn starb am 4. Januar 1786 hoch geehrt als Patriarch einer großen Familie. Trotz seines Eintretens für die Toleranz, trotz all der Beteuerungen der Bildungselite, es zähle nicht der Glauben, sondern der Mensch, trotz Französischer Revolution und Code Civile – nicht einmal seine Familie teilte seine Hoffnung auf die staatliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden. Vier seiner sechs überlebenden Kinder ließen sich taufen. So wuchs sein wohl bekanntester Nachkomme, Felix Mendelssohn Bartholdy, im protestantischen Glauben auf. Dass Antisemiten seine Leistung herabgewürdigt haben, das hat ihm auch die Taufe nicht erspart.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Das Jüdische Museum Berlin veranstaltet derzeit eine Ausstellung über Moses Mendelssohn und hat eine hervorragende Website zusammengestellt.
Sie finden eine digitale Version der Philosophischen Schriften auf e-rara.
Es gibt übrigens einen ausgezeichneten Artikel im Internet über die rechtliche Stellung der Juden in Brandenburg, der viel über die Lebensumstände eines Moses Mendelssohn erzählt.
Und wenn Sie sich wieder einmal die berühmte Ringparabel aus Nathan dem Weisen vergegenwärtigen wollen, können wir Ihnen einen Clip auf YouTube empfehlen.