Von Spitzbuben, Gaunern und Betrügern

Von Spitzbuben, Gaunern und Betrügern

Es ist gar nicht so einfach, sich immer wieder ein hübsches Thema für eine KuraTour einfallen zu lassen. Diesmal inspirierte mich ein Buchtitel, den William Faulkner für sein letztes großes Werk wählte: Die Spitzbuben (The Reivers).

Die Spitzbuben: Verantwortlichkeit im Kapitalismus

von

Ursula Kampmann

Die Spitzbuben: Verantwortlichkeit im Kapitalismus

von

Ursula Kampmann

Die Spitzbuben / The Reivers

Die Spitzbuben / The Reivers

William Faulkner
New York
1962
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1975

Es ist eine etwas komplizierte Geschichte, in der eines der ersten Automobile, ein Rennpferd, eine Sardine und drei völlig unterschiedliche Männer die Hauptrollen spielen. The Reivers - zu Deutsch "Die Spitzbuben" - wurde von Nobelpreisträger William Faulkner als sein "Golden Book" verfasst, also als das Buch, mit dem er sein Lebenswerk krönen wollte. Das gelang ihm in den Augen seiner Zeitgenossen. Er erhielt dafür den Pulitzerpreis für Literatur. Heute ist diese Geschichte dagegen in Vergessenheit geraten. Vielleicht weil sie auf den ersten Blick ein bisschen an ein Kinderbuch à la Tom Sawyer und Huckleberry Finn erinnert, was die Fans des Nobelpreisträgers zu trivial fanden. Und tatsächlich ist der Held der Geschichte ein 11-jähriger Junge mit Namen Lucius Priest. Er klaut, angestiftet vom etwas unterbelichteten Chauffeur Boon, das Auto seines Großvaters, in dem Pferdetrainer Ned gerade ein Schläfchen hält. Nun muss der mit auf die Spritztour nach Memphis. Doch die Sache gerät außer Kontrolle. Um seinem Neffen zu helfen, tauscht Ned das Auto gegen ein gestohlenes Rennpferd ein. Daher hat das Buch seinen Namen "The Reivers", korrekt übersetzt „die Viehdiebe“. Um das Auto zurückzugewinnen und sich daheim wieder sehen lassen zu können, muss das gestohlene Pferd unbedingt in einem Wettrennen gewinnen.

Soweit der eigentliche Plot. Und natürlich ist alles noch viel komplizierter. Faulkner hat mit "The Reivers" einen typischen Coming-of-Age-Roman geschaffen, wie es Literaturwissenschaftler nennen, wenn ein unschuldiges Kind durch die Begegnung mit der realen Welt seine Illusionen verliert. Und das Geld spielt dabei eine entscheidende Rolle, oder vielmehr das, was Menschen bereit sind zu tun, um ans große Geld zu kommen.

Dabei weiß der kleine Lucius Priest von Anfang an, was Geld wert ist. Er arbeitet nämlich schon im Betrieb seines Großvaters mit und verdient so ein paar Cent die Woche. Am Ende des Jahres verdoppelt der Großvater regelmäßig die Summe, die Lucius davon gespart hat. Und er spart fleißig, denn das große Ziel seines Kinderlebens ist es, zwei Jagdhunde anzuschaffen. 12 Dollar müsste er dafür ausgeben, bei acht Dollars in der Sparbüchse ein erreichbares Ziel.

Lucius weiß also um den Wert des Geldes und angesichts seines mühsam ersparten Schatzes liest sich die kleine Schikane doppelt schlimm, die unsere drei Helden bewältigen müssen, ehe die große Fahrt beginnt. Wie gesagt, die Hauptrolle spielt eines der ersten Automobile der USA. Und das besitzt nicht die notwendige Motorstärke, um eine besonders schlammige Stelle zu überwinden, die es zu bewältigen gilt, ehe die gute Straße bis Memphis beginnt.

Allerdings ist dieser kleine Sumpf nicht gottgegeben, sondern menschengemacht. Ein Bauer hat ein Geschäftsmodell daraus entwickelt, mit seinem Maultiergespann zu warten, bis ein Auto in seiner schlammigen Falle steckenbleibt, um dann gegen Lohn den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Chauffeur Boon weiß das und hat vorgesorgt. Er hat Stricke mitgebracht, mit deren Hilfe er zusammen mit Ned versucht, das Auto durch den Sumpf zu ziehen. Keine Chance. Der Bauer hat zu viel Schlamm aufgewühlt. Und so muss der nur warten, bis Boon endlich einsieht, dass ihm keine Alternative bleibt. Nur die Maultiere sind in der Lage, das Hindernis zu überwinden. Und der Bauer nutzt die Notlage. Der reiche und mächtige Großvater musste zwei Dollar zahlen. Die drei Habenichtse dagegen sechs. So etwas nennt man ein Monopol. Und gegen das können gerade die Ärmsten der Armen nichts machen.

Also zahlt Boon. Er hat nämlich einen guten Grund, um nach Memphis zu fahren. Dort arbeitet die Frau, die er liebt, in einem Bordell. Mit seiner Corrie zusammen zu sein, ist für ihn ein seltenes Vergnügen. Bei seinem Gehalt muss er monatelang sparen, um sich das leisten zu können. Die kleine Gesellschaft kommt also in Memphis an, und Lucius Priest merkt schnell, wie der Hase läuft. Corries Verwandter, ein unangenehmer Bub namens Otis klärt ihn höchstpersönlich darüber auf, auch weil er sich so mit seiner Geschäftstüchtigkeit brüsten kann: Sein erstes Geld hat Otis nämlich damit verdient, ein Loch in Corries Schlafzimmerwand zu bohren und den Platz davor für 10 Cent zu vermieten. Lucius Priest ist empört. Der Leser ist es auch. Er kann Corrie verstehen. Sie glaubte, keine andere Wahl als die Prostitution zu haben. Aber ohne eigene Anstrengung Profit aus ihrer Notlage zu ziehen, das scheint uns ein übles Geschäftsmodell. Lucius kann nicht anders, er prügelt auf Otis ein und wird verletzt, als der sich gegen die Fäuste des 11-jährigen mit einem Taschenmesser zur Wehr setzt. Als Corrie hört, warum sie der 11-jährige verteidigt, wird ihr etwas klar, nämlich dass sie nicht mehr möchte, dass andere an ihr verdienen. Sie gibt auf der Stelle die Prostitution auf, sehr zum Ärger von Boon, der nun plötzlich nicht mehr das von ihr bekommt, was er doch schon bezahlt zu haben glaubt.

Wie wütend ist er, als sie dann das, was sie ihm vorenthält, gratis einem anderen Mann gibt, und zwar einem Hilfspolizisten der übelsten Sorte. Was Boon nicht weiß: Der Polizist erpresst Corrie. Er hat nämlich das Rennpferd beschlagnahmt und droht ihn, Boon, ins Gefängnis zu stecken, wenn sie ihm zu Willen ist. Wir beobachten eine andere schmutzige Seite des Wirtschaftslebens: Korruption, Erpressung und Amtsmissbrauch. Corrie spielt mit und wird von Boon zusammengeschlagen. Und irgendwie kann der Leser nicht nur Corrie, sondern auch Boon verstehen, der in seiner Verzweiflung einen Schuldigen braucht, an dem er seinen Zorn auslassen kann.

Ach, und da ist natürlich noch die Geschichte mit dem Goldzahn, jenem Schatz einer Kollegin von Corrie, die Jahrelang darauf gespart hat, sich dieses goldene Schmuckstück leisten zu können. Wenn sie isst, legt sie ihren Zahn auf einen kleinen Teller. Sie will ihn ja schließlich nicht beschmutzen. Und von dort stiehlt ihn Otis, um ihn zum Goldwert zu verkaufen. Das könnte ja so lustig sein, würden vor unserem geistigen Auge nicht all die unbedarften Menschen auftauchen, die so hart sparen und dann zur leichten Beute für Betrüger werden.

Natürlich gibt es ein Happy End. Mit exakt 495.75 Dollar bringt der Großvater alles in Ordnung. Er bekommt sein Auto zurück und der Rennpferdbesitzer sein Rennpferd. Otis muss den goldenen Zahn hergeben und Boon heiratet seine Corrie.

Der Einzige, der nicht zufrieden damit ist, ist Lucius. Er ist noch ein unschuldiges Kind, fühlt sich schlecht, weil er Unrecht begangen hat. Er bettelt geradezu um Prügel, doch die gibt ihm der Großvater nicht. Stattdessen lernt Lucius vom weisen Alten etwas fürs Leben: Manchmal tut man Dinge, die sind nicht richtig. Und mit ihnen muss man für den Rest des Lebens klarkommen. Das ist Strafe genug.

Aber um das noch als Strafe empfinden zu können, dafür muss man wohl ein intaktes Gewissen und einen klaren moralischen Kompass besitzen, der so vielen im Laufe ihres Lebens verloren geht. Oder wie heißt es im Neuen Testament: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Ein Blick in das Buch

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Ein „Reiver“ war ursprünglich ein Viehdieb, der davon lebte, die Rinder achtloser englischer Bauern über die Grenze nach Schottland zu treiben. Und so verbinden den Reiver mit dem Spitzbuben gleich mehrere Eigenschaften: Er arbeitet hart, nur eben nicht ehrlich. Er hat nur dort Erfolg, wo das Gegenüber achtlos und ein bisschen zu vertrauensselig ist. Seine Unverschämtheit ist für alle, die nicht betroffen sind, sehr unterhaltsam.
Kein Wunder, dass die ersten Schelmenromane bereits aus römischer Zeit überliefert sind. Wir stellen Ihnen wohl den beliebtesten vor. Ein Höfling Neros schrieb eben jenen Satyricon, den Fellini im 20. Jahrhundert verfilmte.

Satyricon: Ein antiker Schelmenroman

von

Björn Schöpe

Satyricon: Ein antiker Schelmenroman

von

Björn Schöpe

Satyricon

Satyricon

Titus Petronius
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 2004

Wofür überlässt man dem Teufel seine Seele? Einige Gelehrte des 16. Jahrhunderts waren dazu bereit, um ein Buch vollständig zu lesen, das nur in Bruchstücken überliefert war: das „Satyricon“, also „Satyrspiele“. Schon die Bruchstücke machten Appetit auf mehr – sofern man keine moralischen Bedenken hatte.

Es gibt kein zweites antikes Buch, das so prall gefüllt ist mit Exzessen: Da wird gefeiert und geliebt, gesoffen und betrogen, man schlägt sich und man neckt sich. Und das in allen Tönen, denn der Autor beherrscht die Klaviatur der lateinischen Sprache virtuos; er parodiert in Hochsprache das angesagteste Epos seiner Zeit, um im nächsten Moment den Volksmund so gekonnt zu imitieren, dass die Renaissancegelehrten in all den vulgärlateinischen Ausdrücken Überlieferungsfehler vermuteten, die sie meinten verbessern zu müssen. Der Ideenreichtum, Humor und die sprachliche Vielfalt machen dieses Sittengemälde der römischen Kaiserzeit zu einem Lesegenuss!

Im Zentrum der fiktiven Geschichten stehen zwei Freunde, Enkolp und Askyltos. Auf einer Odyssee durch Süditalien verschlägt es sie von einem amourösen Abenteuer zum nächsten. Mit von der Partie sind ein gewissenloser Profiredner, ein abgehalfteter Dichter und ein flittchenhafter Jüngling, der allen den Kopf verdreht.

Die lange Beschreibung eines Gastmahls erzählt von den Vergnügungen der Reichen im kaiserzeitlichen Rom. Künstlerisch übertrieben lässt es doch das wahre Leben der Zeit erahnen. Das Essen gerät zum Spiel, wenn lebende Vögel aus dem Keiler flattern und als Vorwegnahme der Molekularküche die äussere Form über den Inhalt täuscht. So ist es auch mit den Menschen. Gastgeber ist der unglaublich reiche Trimalchio, ein Freigelassener, der vor Dummheit und Unbildung strotzt – und mit beidem auch noch protzt („Bildung ist das beste Tresor!“). Moralische Werte kennt er nicht, seine Richtschnur ist der wirtschaftliche Profit, der ihm – so meint er – gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Wie in einer Screwball-Komödie endet die Party im Chaos, als Trimalchio seine eigene Beerdigung inszeniert und das Blechbläserensemble die Feuerwehr auf den Plan ruft …

Nächste Szene: die Stadt Kroton. Auch hier überzeichnet Petron einen realen Missstand seiner Zeit, nämlich die Folge der Kinderlosigkeit in vielen aristokratischen Familien. Erbschleicher lauern ständig auf die Ankunft potentieller Opfer – und werden doch selbst zu Opfern in diesem Schelmenroman. Die Akteure spielen den kinderlosen Reichen mit Gefolge und lassen sich aushalten. Testamentarisch erhalten die Krotoner das – nicht vorhandene – Vermögen unter der bizarren Bedingung, dass sie die Leiche ihres Gönners verspeisen.

Grotesk, vulgär, obszön – aber auch gelehrt, feinsinnig, subtil. Der Autor unterhält, er moralisiert nicht. Seine exaltierte Überzeichnung zwingt uns zum Nachdenken. Wenn Geld zur alleinigen raison d’être wird, formt es uns zu amoralischen, vergnügungssüchtigen und geistig unreifen Kreaturen wie Trimalchio. Wollen wir wirklich so leben?

Der Autor übrigens, Titus Petronius, ist vermutlich identisch mit dem gleichnamigen Vertrauten Neros, seinem „Schiedsrichter in Geschmacksfragen“. Obwohl ein notorischer Lebemann, kontrastierte Petron den Ruf der Verkommenheit energisch mit seiner Statthalterschaft; sein Regiment war vorbildlich. Nero zwang ihn später zum Selbstmord, weil Petron gegen ihn konspiriert haben soll. So zeigte dieser vollendete Schriftsteller, wie man in einer Zeit voller Herausforderungen moralische Integrität bewahrt und vorlebt.

Überleitung

Schelmenromane gehörten auch zur Lieblingslektüre der Reichen und Schönen des Mittelalters. Boccaccio lieferte einige der besten Erzählungen in seinem Decamerone. Dafür schaute er dem Volk aufs Maul. Uns sind so einige der farbigsten Schilderungen bürgerlichen Lebens überliefert, die uns den Alltag der Durchschnittsflorentiner näher bringen.

Der Decamerone: Wie man die Pest überlebt

von

Teresa Teklić

Der Decamerone: Wie man die Pest überlebt

von

Teresa Teklić

Der Decamerone

Der Decamerone

Giovanni Boccaccio
Florenz
1353
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, erschienen 1957

Giovanni Boccaccios schreibt sein „Decamerone“ im trecento, mit dem man das 14. Jahrhundert in Italien kulturgeschichtlich bezeichnet. Diese Blütezeit der Kunst, Musik und Literatur bildet den Übergang zwischen Spätmittelalter und Renaissance. Das Werk in 10 Stichworten.

1. Liebeskummer: Im Vorwort heißt es, die folgenden Geschichten seien gesammelt, um jenen unglückseligen Menschen Trost zu spenden, die sie sich vor Liebeskummer allzu sehr grämten. Geschichten seien nach wie vor die beste Ablenkung

2. Frauenbild: Als Frau des 21. Jh. kann man gewiss mit Boccaccio über sein Frauenbild streiten. Belässt man es jedoch im Rahmen seiner eigenen Zeit, kann es unheimlich vergnüglich sein. Kleine Kostprobe: „Bedenkt, […] wie übel Frauen alleine beraten sind und wie schlecht wir uns ohne die Fürsorge eines Mannes anzustellen wissen. Wir sind unbeständig, eigensinnig, argwöhnisch, kleinmütig und furchtsam.“ 

3. Zahlen: „Decamerone“ heißt wörtlich „Zehn-Tage-Werk“. Text-immanent bedeutet es, dass 10 fiktive Personen an 10 Tagen je 10 Geschichten erzählen, wonach die Sammlung insgesamt 100 solcher Novellen enthält. Im Kontext der Zeit verweist die Zahl 100 u.a. auf die 100 cantos oder Gesänge in Dantes „Göttlicher Komödie“. 

4. Erzählsituation: Eingebettet sind die 100 Geschichten in eine Rahmenerzählung. Als in Florenz die Pest wütet, beschließt eine Gruppe junger, adliger Florentiner aufs Land zu fliehen und sich dort die Zeit zu vertreiben, indem sie sich gegenseitig Geschichten erzählen.

5. Novelline: Jede der einzelnen Erzählungen ist nummeriert, gefolgt von einer knappen Synopse und der eigentlichen Geschichte. Die „Fünfte Geschichte“ wird uns beispielsweise wie folgt angekündigt: „Die Markgräfin von Montferrat weist die törichte Liebe des Königs von Frankreich durch ein Hühnergericht und ein paar hübsche Worte zurück.“ 

6. Erotik: Viele der Geschichtchen haben eindeutig unzüchtigen oder erotischen Charakter, aus dem die Novellensammlung häufig ihren Unterhaltungswert zieht. Man sollte das einflussreiche Werk jedoch nicht auf den Status leichter Unterhaltungsliteratur reduzieren.

7. Moral: Denn ein zentrales Thema des „Decamerone“ ist die Frage nach dem richtigen und guten Leben, nach gesellschaftlicher Ordnung und Moral. Dabei bricht Boccaccio immer wieder mit der absoluten Vorstellung von Gut und Böse der Kirche, die das Mittelalter dominiert.

8. Pest: Boccaccio braucht den Ausnahmezustand der Pest in seiner Rahmenerzählung, um Moral außerhalb der bekannten Konventionen zu denken. Er fragt: Was passiert wenn wir unsere bekannten Moralvorstellungen aussetzen? Mit und durch die Geschichten erarbeiten sich die Florentiner dann selbst einen neuen moralischen und gesellschaftlichen Rahmen für ihr Dasein und stellen der gottgegebenen, absoluten Moral eine vom Menschen selbst dialogisch entwickelte gegenüber.

9. Frühhumanismus: Damit markiert der Decamerone den Übergang von Mittelalter zu früher Neuzeit, von einer kirchlich geprägten Weltvorstellung zum Humanismus. Das Jenseits ist nicht mehr die absolute Messlatte, an der sich das menschliche Handeln im Diesseits orientiert. Das irdische Leben hat seine eigenen, wenn auch zeitlich begrenzten, Dimensionen und verlangt, dass man das Handeln im menschlichen Alltag von Fall zu Fall anpasst. 

10. Wirkungsgeschichte: Boccaccios Decamerone ist eine wichtige Vorlage für die moderne Novellenerzählung. Eine englische Variation finden wir in Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ und auch Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ gehen auf das italienische Format zurück. 

Das 19. Jahrhundert entdeckte den Schelmenroman neu als ideales Vehikel, um Gesellschaftskritik zu üben. So geht es in Thakarays fiktiver Biographie Barry Lyndon nur vordergründig um den betrügerischen Gauner. Die eigentliche Kritik gilt einem System, das es ihm ermöglicht, seine Betrügereien auszuführen.

Die Memoiren des Barry Lyndon: Aufstieg und Fall eines Schwindlers

von

Teresa Teklić

Die Memoiren des Barry Lyndon: Aufstieg und Fall eines Schwindlers

von

Teresa Teklić

Die Memoiren des Barry Lyndon

Die Memoiren des Barry Lyndon

William Makepeace Thackeray
London
1856
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 2013

Der Untertitel von Thackerays Gesellschaftssatire „Barry Lyndon“ ist gleichzeitig eine Synopse der gesamten Romanhandlung und lautet wie folgt: „Die Memoiren des Barry Lyndon, Esq. aus dem Königreich Irland, samt einem Bericht über seine ungewöhnlichen Abenteuer, Unglücksfälle, Leiden im Dienste seiner Majestät des Königs von Preußen, seine Besuche an vielen europäischen Höfen, seine Heirat und seine glänzenden Besitzungen in England und Irland sowie die zahlreichen grausamen Verfolgungen, Verschwörungen und Verleumdungen, deren er Opfer wurde.“ 

Die „Memoiren“ des Barry Lyndon sind keine Memoiren im eigentlichen Sinne, d.h. autobiographische Aufzeichnungen einer historisch oder politisch bedeutenden Persönlichkeit, sie sind vielmehr ironisch zu verstehen. Denn der Protagonist, geboren als Redmond Barry in Irland ca. 1730, ist eigentlich ein Niemand, der so tut, als wäre er ein ganz wichtiger Jemand. Er erzählt dem Leser mit offensichtlichem Hang zur Übertreibung die ruhmreiche Geschichte der Familie Barry, eines alten irischen Adelsgeschlechts, das durch Schicksalsschläge über Jahrhunderte Ruhm und Reichtum verloren hat. Angekommen in der unteren Schicht der Gesellschaft entspricht Barry dem typischen Helden des Schelmenromans, der ständig auf absurde Weise in Schwierigkeiten gerät und fast immer auf noch absurdere Weise ungeschoren davon kommt. Dabei lernt er viel über die Welt und hält ihr mit Humor den Spiegel vor. In diesem Fall ist es die Dekadenz des europäischen Adels zur Zeit des Rokoko und die sinnlose Grausamkeit des Krieges, die der Autor ins Visier nimmt. 

Die satirischen Züge werden schon in der Sprache deutlich, wenn Barry im Plauderton von „gerechten Massakern“ spricht oder als Deserteur die gestohlene Identität des „Leutnant Fakenham“ annimmt (zwar ist Fakenham tatsächlich eine englische Stadt in Norfolk, die Doppeldeutigkeit von „fake“ als falsch oder geschwindelt aber kaum zu übersehen). Selbst in einem von Thackerays Autorenpseudonymen, G.S. Fitzboodle, kündigt sich der „Schwindel“ (boodle) schon an.

Zu den Abenteuern zählt Barrys Dienst im Siebenjährigen Krieg. Dort kämpft er erst für England, desertiert, wird erwischt und muss dann „im Dienste seiner Majestät des Königs von Preußen“ kämpfen. Dann trifft er zufällig seinen Onkel, der ihn außer Landes schmuggelt. Die beiden beginnen eine Karriere als Kartenspieler und Betrüger und lassen sich so von einem europäischen Hof zum nächsten treiben. Zu den Verschwörungen und Verleumdungen gehört eine Hamlet-ähnliche Episode aus seiner Ehe mit der reichen, schönen Gräfin Lyndon. Redmond Barry, der sich ab diesem Zeitpunkt Barry Lyndon nennt, tritt hier auf als der böse Onkel Claudius, den Gertrude (die Gräfin Lyndon) in zweiter Ehe zum Mann nimmt, nachdem Barry ein wenig mit dem Tod des ersten nachgeholfen hat. Dem Sohn aus erster Ehe gefällt das gar nicht. Er pflegt ein ödipal anmutendes Verhältnis zu seiner Mutter und wird sich als erwachsener Mann an Barry rächen. Die Geschichte endet mit dem Tod Barry Lyndons in einem heruntergekommenen Gefängnis: geschieden, verarmt, der geliebte Sohn tot, ein Säufer. 

So trostlos das Ende ist, so unterhaltsam und lesenswert ist dieses satirische Meisterwerk. Eine fantastische, bildgewaltige Umsetzung hat Regisseur Stanley Kubrick mit seiner Verfilmung von 1975 geschaffen, einem mehr als dreistündiges Filmerlebnis, dessen Bildkomposition die Landschafts- und Porträtmalerei des 18. Jh. nachempfindet und dessen aufwendige Herstellung ein Meilenstein der Filmgeschichte geworden ist. 

Ähnlich ist es bei Maupassants Bel Ami, der eine Generation nach Barry Lyndon erschien. Der gut aussehende Bel Ami, erwirbt sein Vermögen, indem er sich nach oben schläft. Er stellt den Leser vor die Frage, wen er mehr verachten soll: Die düpierten Frauen wegen ihrer Dummheit oder den raffinierten Betrüger wegen seiner Skrupellosigkeit.

Bel-Ami: Geld als gesellschaftliche Teilhabe

von

Teresa Teklić

Die Memoiren des Barry Lyndon: Aufstieg und Fall eines Schwindlers

von

Teresa Teklić

Bel-Ami

Bel-Ami

William Makepeace Thackeray
Paris
1885
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1982

Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant (1850-1893) führt ein seinen Romanfiguren gar nicht so unähnliches Leben. Der Autor, der mit anderen Größen seiner Zeit verkehrt, Emile Zolá kennt und sogar persönlicher Schüler von Flaubert ist, treibt sich in Paris gerne und oft mit  Frauen unterschiedlichster Couleur herum, darunter auch solchen, die er für ihre Liebesdienste bezahlt. Dabei steckt er sich schon als junger Mann mit Syphilis an und stirbt im Alter von nur 43 Jahren.

Sein Roman „Bel-Ami“ wird 1885 veröffentlicht, ein durschlagender Erfolg, der allein in den ersten zwei Jahren in 50 Auflagen erscheint. Der Erfolg ist sicherlich auch der Verruchtheit des Romans geschuldet. Wir befinden uns im Paris des Fin de Siècle, mit seinen von Kokotten bevölkerten Cafés und Varietétheatern. Erzählt wird die Geschichte von George Duroy, einem schönen aber mittellosen Soldaten, der nun in Paris sein Glück versuchen will. Es ist die Geschichte eines Emporkömmlings, eines steilen sozialen Aufstiegs, der Duroy mit Hilfe von einer ganzen Reihe reicher, schöner Frauen gelingt. Nachdem ihn ein alter Bekannter in die bessere Gesellschaft einführt, schläft sich Duroy in kurzer Zeit durch den gesamten Bekanntenkreis. Erstes Opfer seines jugendlichen Charmes wird Clotilde de Marelle, eine verheiratete junge Frau, die den beiden ein Apartment als Liebesnest anmietet. Dann ist da Madeleine Forestier, der er völlig pietätslos am Sterbebett ihres ersten Mannes einen Heiratsantrag macht, Virginie Walter, die er benutzt, um sich an seiner Frau Madeleine zu rächen, und Walters Tochter Suzanne, die er benutzt, um sich an Monsieur Walter zu rächen.

Stillleben mit Gipsstatuette und zwei Bücher, 1887. De Maupassants Buch war so populär, dass es sogar auf einem Stillleben des Zeitgenossen van Gogh Platz findet.

Das alles tut er nicht der Liebe wegen, sondern mehr der Begierde und noch viel mehr des Geldes wegen. Geld spielt überhaupt die zentrale Rolle in diesem Roman. Fast auf jeder Seite begegnen dem Leser Preise: fünf Francs, 60 Francs, zwei Louisdor. Erst freut sich der arme George unbändig über die zwei Louisdor, später sind sogar zwei Millionen zu wenig, als er erfährt sein Gegenspieler habe ganze 20 Millionen. Einerseits verleiht das dem Protagonisten sehr hässliche Züge. Andererseits erklärt sich dieses Verständnis der Welt, in der jeder Gegenstand, und sogar jeder Mensch, seine Bedeutung in erster Linie durch seinen Geldwert erhält durch die krasse Armut Duroys, die wir so in der westlichen Welt heute kaum noch kennen. Geld hat für Duroy eine sehr konkrete Bedeutung und zwar aus der Not. Es ist Monatsende und er ist pleite, hat noch zwei Tage vor sich, aber nur noch Geld genug für zwei Mahlzeiten. Er beginnt also zu rechnen: Er kann entweder  zweimal Frühstück ohne Abendessen oder  zweimal Abendessen ohne Frühstück kaufen. „Er kannte nur zu gut die Hungerstunden vom Monatsende“ ist die Beschreibung einer fiktiven, aber durchaus realen historischen, Erfahrung. Geld ist für ihn vor allem ein Mittel gesellschaftlicher Teilhabe: Ohne diese Mittel kann er in keinem Café sitzen, kein Bier trinken, sich keine Liebe kaufen.

Obwohl Duroy einen beachtlichen Aufstieg hinlegt, wird er überschattet vom wahren Superstar dieser Geschichte: Madeleine Forestier. Sie ist nicht nur intelligenter als alle Männer dieses Romans zusammen, sie hält auch eine Rede, die es als proto-feministisches Manifest verdient ausführlich wiedergegeben zu werden:  „Für mich ist die Ehe keine Kette – sondern ein Bündnis. Ich beanspruche stets volle Freiheit in meinen Handlungen, meinen Unternehmungen, meinem Ein- und Ausgehen, in allem. Ich vertrage weder Kontrolle, noch Eifersucht, noch Auseinandersetzungen über mein Benehmen . . . [Mein Mann müsste sich] verpflichten, mich als seine ebenbürtige Bundesgenossin zu behandeln, nicht aber als eine Untergebene und gehorsame Gattin. Ich weiß, meine Ansichten sind nicht die allgemein gültigen, aber ich ändere sie trotzdem nicht.“

Heute wäre das nicht mehr möglich? Nein, heute sind nur die Methoden der Gauner ganz andere. Denken Sie nur an die Schweine in Orwells Farm der Tiere, die durch ihr ideologisches Geschwafel den ehrlichen Nutztieren die Produkte ihrer Arbeit abluchsen. Aber sind diese Schweine wirklich noch Spitzbuben? Oder fallen sie eher in die Kategorie der Verbrecher?

Farm der Tiere: Fabel auf die menschliche Verführbarkeit

von

Christina Schlögl

Satyricon: Ein antiker Schelmenroman

von

Björn Schöpe

Farm der Tiere

Farm der Tiere

George Orwell
London
1945
Diogenes Verlag, erschienen 1973

„Alle sind gleich, aber manche sind gleicher.“ Dieses Zitat wird vielen Lesern bis heute bekannt sein, allerdings stammt es nicht, wie man vermuten könnte, aus George Orwells dystopischem Meisterwerk „1984“. Vielmehr ist es die Quintessenz seiner beunruhigenden und verstörenden Fabel „Farm der Tiere“, die bereits 1945 erschien. Dass wir in der Tat „alle gleich“ sind, zeigt dieses Werk so treffend wie kaum ein anderes. 

„Farm der Tiere“ handelt von einer Revolution und den Verhältnissen, die sich danach einstellen – jedoch sind die Revolutionäre in diesem Fall allesamt Farmtiere. Da sie auf dem Hof von Mr. Jones schlecht behandelt werden und ihnen der alte Eber Old Major von einem Traum von Freiheit erzählt hat, ergreifen die Tiere eines Tages die Macht über die Farm und vertreiben ihren Herrn. Dabei sind vor allem die Schweine Napoleon und Schneeball die treibende Kraft. Sie gründen daraufhin die Philosophie des sogenannten Animalismus.

Es werden mehrere Gesetze erlassen, etwa, dass alles auf vier Beinen oder mit Flügeln Freund sei und alles mit zwei Beinen Feind. Ebenso wird verfügt, dass kein Tier Alkohol trinken, Kleider tragen oder in einem Bett schlafen solle und dass alle Tiere gleich seien. Anfangs scheint alles nach Plan zu verlaufen, doch schon bald beginnen die Schweine, vor allem Napoleon, sich Privilegien zu nehmen und nach und nach die Gesetze nach ihren Wünschen anzugleichen. Napoleon wird zu einem Diktator, unter dem es den Tieren vielleicht noch schlechter geht als unter Bauer Jones. 

George Orwell (1903-1950) hat mit „Farm der Tiere“ ein Werk geschaffen, das sich zugleich auf sehr konkrete Sachverhalte bezieht und doch eine ganz allgemeine Parabel auf das immer gleiche Verhalten des Menschen darstellt. Es handelt sich bei dieser Fabel vor allem um eine Darstellung des Einzugs des russischen Kommunismus und Stalinismus, also der kommunistischen Revolution von 1917. Alle Tiere der Farm beziehen sich auf reale historische Figuren. Old Major steht beispielsweise für Lenin und Marx, Napoleon für Stalin, Schneeball verkörpert Trotzki. Die Hunde fungieren als Geheimpolizei, die Hühner als aufständische Bauern etc. Auch alle Ereignisse haben historische Pendants, wie etwa der Angriff auf die Windmühle durch Mr. Frederick, der im Buch Adolf Hitler repräsentiert. 

Solch komplexe Vorgänge wie die Machtübernahme Stalins durch wenige Farmtiere darzustellen ist ein genialer Kniff von Orwell. Dies ist sicher ein Grund, warum das Werk bis heute in Schulen und Universitäten gelesen wird. Doch auch wenn alle Figuren und Vorgänge im Buch historische Parallelen haben, kann „Farm der Tiere“ auch komplett ohne den kommunistischen Bezug gelesen und trotzdem als treffende Gesellschaftskritik empfunden werden. Denn Orwell präsentiert darin eine faszinierende, zeitlose Analyse von politischen Mechanismen innerhalb einer Masse, die nahezu universell auf die Menschheit übertragbar ist. 

Wenn es Menschen schlecht geht, reicht es, sie genau damit zu ködern. Es bedarf lediglich einer redegewandten Person, die den Verdruss der Menschen aufgreift und behauptet, alles könne durch sie besser werden. Die Tatsache, dass sowohl in den USA als auch in Europa wieder eine rechtspopulistische Bewegung zu verzeichnen ist, und das, obwohl der Nationalsozialismus nicht einmal hundert Jahre zurückliegt, ist ein konkreter Beweis dafür, dass bestimmte politische und ideologische Mechanismen sich stets wiederholen. Der Mensch scheint letztendlich eben doch an erster Stelle ein Herdentier zu sein …

Schelmenromane sind unterhaltsam, witzig und eine gute Lektüre, um den eigenen moralischen Kompass neu zu justieren. Wir wünschen Ihnen viel Spaß dabei!