Thomas Robert Malthus und sein Einfluss auf unser Weltbild
Haben Sie schon mal von Thomas Robert Malthus gehört? Nein? Gratuliere, damit gehören Sie zur Bevölkerungsmehrheit. Aber das Wörtchen Evolution sagt Ihnen etwas? Und Sie haben auch schon eine der unzähligen Versionen der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens gehört oder gesehen? Nun, beides wäre ohne Thomas Robert Malthus unmöglich. Diese KuraTour zeigt Ihnen am Beispiel von Malthus, wie Bücher mit Büchern kommunizieren und miteinander in Zusammenhang stehen. Aber beginnen wir erst einmal damit, wer Thomas Robert Malthus überhaupt war, und was er der Welt mitzuteilen hatte.
Malthus: Wie ein Reicher angesichts der Armut gut schlafen kann
Warum gibt es Armut, und wie können wir sie beseitigen? Diese Frage beschäftigte um 1800 alle Engländer, die das Elend in den Armutsvierteln der Industriestädte sahen. Der junge Malthus fand darauf seine eigene Antwort. Er schrieb, dass die Reichen die Armut nicht beseitigen könnten. Denn der Grund für die Armut sei der Arme selbst.
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Der soziale Hintergrund von Thomas Robert Malthus
Nein, es ist nicht überraschend, dass Thomas Robert Malthus zu denen gehörte, die nie in ihrem Leben hungern mussten. Er wurde 1766 als sechstes von sieben Kindern in eine der reichsten Familien Großbritanniens hineingeboren. Seine Mutter war die älteste Tochter des königlichen Apothekers, ein Amt, das ihr Vater von seinem Vater geerbt hatte. Ein königlicher Apotheker drehte nicht nur Pillen. Mit diesem Amt war die gesamte Versorgung der britischen Armee mit Arzneimitteln verbunden. Und damit ließ sich hervorragend Geld verdienen! Henrietta Catherine Graham, die Mutter von Malthus, brachte ihrem Manne also eine gewaltige Mitgift in die Ehe. Als ob Daniel Malthus diese Mitgift überhaupt gebraucht hätte!
Denn auch Vater Malthus war reich. Als einziger Sohn erbte er das gesamte Familienvermögen seines Vaters Sydenham Malthus. Arbeiten? Aber nicht doch. Daniel Malthus vertrieb sich die Zeit mit seinen literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen. Er war gebildet, hatte am Queen’s College in Oxford studiert. Natürlich ohne einen Abschluss zu machen. Wofür denn auch? Sein Reichtum sicherte ihm sowieso die Aufmerksamkeit der wichtigsten Denker seiner Zeit. Jean-Jacques Rousseau und David Hume schätzten sich glücklich, zu seinen Freunden zu gehören.
Die Ausbildung von Thomas Robert Malthus
Jean-Jacques Rousseau? David Hume? Für ein Mitglied der englischen Aristokratie waren diese Freundschaften ziemlich exzentrisch. Thomas Robert Malthus hatte also das Glück und gleichzeitig das Problem, einen sehr unkonventionellen Vater zu haben, der sich einen genauso unkonventionellen Sohn wünschte.
Daniel Malthus sah sich als Aufklärer, träumte von einer besseren Zukunft. Er glaubte wie so viele seiner Zeitgenossen, dass die Welt nur aus einem einzigen Grund nicht besser ist: Weil es ihren Bewohnern an Bildung fehlt. Und deshalb sollte sein Sohn genau diese Bildung erhalten, und zwar bei den aufgeklärtesten Lehrern und Tutoren, die für Geld zu haben waren.
Dabei wäre der kleine Thomas vielleicht viel lieber im Hintergrund geblieben. Er litt unter dem Stigma einer Hasenscharte und eines Wolfsrachens, hatte also Mühe, deutlich zu artikulieren. Kein guter Start in die gnadenlose Welt der britischen Oberschichts-Internate. Doch Thomas musste mit 16 Jahren auf eine angesagte Public School. Public Schools waren auch damals alles andere als „öffentlich“. Ihr Besuch kostete immens viel Geld. Dafür machten sie aus weichen Muttersöhnchen harte Männer, wie sie das British Empire brauchte.
Papa Malthus wählte für seinen Sohn die Warrington Academy, ein Internat, das systematisch den Widerstand gegen Staat und Anglikanische Kirche förderte. Warrington gilt heute als Wiege des Unitarianismus, einer Glaubensrichtung, die die heilige Dreifaltigkeit und die Vorstellung einer göttlichen Natur Jesu ablehnte.
Warum das wichtig ist? Nun, warten Sie noch ein bisschen!
Warrington musste 1783 schließen. Doch Papa Malthus entschied, dass Tutor Gilbert Wakefield seinem Sohn Privatunterricht geben sollte. Auch Wakefield war ein begeisterter Aufklärer und ein noch größerer Feind der anglikanischen Kirche, dessen bissige Pamphlete in späteren Jahren die englische Gesellschaft spalten sollte.
1784 wurde Thomas nach Cambridge geschickt. Und auch da dürfte der Herr Papa die Strippen gezogen haben, um William Frend als Tutor für Thomas zu gewinnen. Frend war ein radikaler Sozialreformer und – oh Überraschung – ebenfalls ein vehementer Gegner der Church of England.
1788 schloss Thomas Robert Malthus sein Studium mit dem Bachelor ab. 1789 trat er als Vikar in den Dienst der Church of England – und das obwohl ihn Familie und alle seine Lehrer Jahre lang zu einem Feind dieser Institution erziehen wollten.
Der Fortschrittsglauben der Aufklärung
Wir sollten das Buch, das den Weltruhm von Malthus begründen sollte, auch auf diesem Hintergrund sehen, also als eine Absage an all das, was man ihm viele Jahre lang hatte aufdrängen wollen. Es erschien 1798 und trug ursprünglich den Titel Principle of Population, as it affects the Future Improvement of Society with remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers, was übersetzt heißt Das Prinzip der Bevölkerung und wie es die zukünftige Verbesserung der Gesellschaft beeinflusst, mit Bemerkungen zu den Spekulationen von Mr. Godwin, Mr. Condorcet und anderen Schriftstellern.
Der Titel ist vielsagend! Thomas Robert Malthus wollte in seinem Werk keine bahnbrechende neue Theorie entwickeln. Er widersprach damit zunächst den ewig gleichen Tiraden seines Vaters, indem er dessen Lieblingsautoren widerlegte. Sowohl William Godwin als auch Nicolas de Condorcet hatten ein Werk verfasst, das sich mit dem Fortschritt der Menschheit beschäftigte. Beide Werke wurden in der gebildeten Welt viel diskutiert und von Anhängern der Aufklärung gefeiert. Wir müssen uns also erst mit ihren Büchern auseinandersetzen, ehe wir zu Malthus kommen.
Condorcet und die Fortschrittsgläubigkeit
Der Aufklärer Condorcet – mit vollem Namen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794) – war eigentlich ein Mathematiker, der die besondere Förderung des französischen Finanzministers Anne Robert Turgot genossen hatte. Er war bereits verstorben, als seine Ehefrau 1795 sein hinterlassenes Hauptwerk publizierte. Der Originaltitel lautete Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Ins Deutsche übersetzt in etwa Skizze zu einem historischen Bild des Fortschritts des menschlichen Verstands.
Der Einfluss dieses Werks auf unser Denken kann kaum überschätzt werden. Denn Condorcet machte die Vorstellung, dass sich die Menschheit in einem ständigen Prozess der Vervollkommnung befände, zu einer allgemein anerkannten Tatsache. Er behauptete, dass dieser Fortschritt unaufhaltbar sei. Denn je besser wir die naturwissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Hintergründe der Welt verstehen, umso kompetenter werden unsere Entscheidungen ausfallen und umso besser die Resultate sein. Der aufgeklärte Mensch trifft mit geradezu schlafwandlerischen Sicherheit die richtige Entscheidung, um die Gesellschaft zu bessern. Und so wird die Welt irgendwann zum Himmel auf Erden. Mit anderen Worten: Armut ist ein Symptom einer nicht aufgeklärten Gesellschaft. Religion ist überflüssig, weil der Mensch selbst in der Lage ist, das Paradies zu schaffen.
William Godwin, der Anarchismus und die direkte Demokratie
William Godwin ist heute eher als Vater der Autorin von Frankenstein bekannt. Seine Ehe mit der international berühmt-berüchtigten Feministin Mary Wollstonecraft hat das öffentliche Interesse auf sein unkonventionelles Leben gelenkt, wobei Godwin eigentlich ein Gegner von Ehe und Familie war. Er forderte vom Staat, die Erziehung aller Kinder zu übernehmen, um sie zu aufgeklärten Bürgern zu machen. Die Notwendigkeit der Ehe sollte so entfallen. Schöne neue Welt.
1793 publizierte William Godwin sein Hauptwerk. Das Datum ist wichtig, denn es beweist, dass Godwin auf dem Hintergrund der Geschehnisse der französischen Revolution seine Theorie vom idealen Staat formulierte. Das Buch trägt den Titel An Enquiry concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness, übersetzt Eine Recherche hinsichtlich politischer Gerechtigkeit und ihres Einflusses auf die allgemeine Moral und das Glück.
Darin entwickelt Godwin eine anarchistische Staatstheorie, weswegen man ihn auch als den ersten Anarchisten bezeichnet. Godwin argumentiert, dass die staatlichen Institutionen den Fortschritt eher behindern als fördern. Auch er postuliert, dass jeder aufgeklärte Mensch ausschließlich rationale und richtige Entscheidungen treffen wird. Deshalb sind seiner Meinung nach in der vollständig aufgeklärten Gesellschaft keine Obrigkeiten mehr notwendig. Alle Entscheidungen können gemeinsam von den direkt Betroffenen getroffen werden. Doch bis das paradiesische Endziel einer direkten Demokratie erreicht ist, müssen erst all die anderen politischen Systeme durchlaufen werden, von der absoluten Monarchie über die Herrschaft der Aristokratie bis zur Plutokratie. Bei all diesen Staatssystemen handelt es sich selbstverständlich um mehr oder weniger schlechte Zwischenstufen, ehe der Fortschritt der Menschheit Freiheit und Glück bringen wird.
Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn
Man kann sich ziemlich gut vorstellen, dass die Ideen von Condorcet und Godwin den schwärmerischen Aufklärer Daniel Malthus faszinierten. Und man kann genauso gut imaginieren, dass Thomas Robert Malthus angesichts der Schrecken der Französischen Revolution die fortschrittsgläubigen Tiraden seines Vaters schlichtweg auf die Nerven gingen. Die Hungersnöte, die Inflation, die Nahrungsmittelknappheit, dazu die Hinrichtungen und die Tausenden von Toten der Kriege: Für den Sohn sah die Situation nicht so aus, als hätte die Revolution in Frankreich irgendetwas zum Positiven verändert.
Und so schrieb Thomas Malthus seine Studie zum Bevölkerungswachstum – und das teilt er uns selbst mit! – angeregt von einem Gespräch mit seinem Vater. Sein Buch wurde zu einem der einflussreichsten des 19. Jahrhunderts. Es führte all die hehren Fortschrittsträumen der Aufklärer ad absurdum. Und das passte genau zur Stimmung der Zeit. Malthus veröffentlichte 1798, also ein Jahr bevor Napoleon das Experiment der französischen Revolution für beendet erklärte und ganz Europa wieder zur politischen Normalität zurückkehrte.
Die Grenzen des Wachstums
Thomas Robert Malthus fragte sich, ob es wirklich nur die fehlende Aufklärung sei, die für die Armut in der Welt verantwortlich sei. Dafür griff er eine Idee Godwins auf. Der wollte, wie gesagt, die Sorge für die Kinder dem Staat anvertrauen, um sie auf Kosten der Allgemeinheit erziehen zu lassen. Malthus behauptete, dass das nicht zu einer besseren Gesellschaft führen würde, sondern nur zu wesentlich mehr Kindern.
Malthus sagte und belegte dies mit Zahlen, dass bessere wirtschaftliche Verhältnisse eine höhere Geburtenrate gerade in sozial schwachen Kreisen verursachen würden. Das Problem dabei sei, dass die Bevölkerung exponentiell wachse: Also, in einer Konjunktur überleben in zwei Familien je ein Kind mehr. Dieses Paar hat nun seinerseits vier Kinder, diese vier Kinder haben mit ihren Partnern sechzehn Kinder, diese sechzehn Kinder haben in der nächsten Generation 64 Kinder. Mit anderen Worten: In rund 100 Jahren sind aus den zwei zusätzlichen Menschen 64 Mäuler geworden, die zu stopfen sind.
Und dabei kann die Nahrungsmittelerzeugung nur prozentual steigen, also zum Beispiel um 10, 20% oder gar 50%. Aber diese prozentuale Steigerung ist es dann auch, sie verursacht ihrerseits keinen Zuwachs mehr.
Malthus formulierte seine Behauptungen als mathematisches Axiom, damals eine sehr neue Form der Beweisführung in der Wirtschaftswissenschaft. Das wirkte unglaublich überzeugend. Denn jeder konnte schwarz auf weiß sehen, dass die steigende Produktion an Nahrungsmitteln zur Geraden, das Bevölkerungswachstum zur Kurve wird, und damit beide Endpunkte immer weiter auseinanderklaffen, so dass die Hungersnot unvermeidlich ist.
Malthus folgerte, dass die fehlende Geburtenkontrolle der Armen schuld sei an den Verhältnissen. Es sei ihr eigenes Verhalten und nicht irgendeine Ausbeutung durch irgendwelche Kapitalisten, die die Armen in ihrer Armut festhalte. Deshalb sei jede Unterstützung der Armen absolut unsinnig, weil das nur in einem noch höheren Bevölkerungswachstum ausufere.
Malthus Hypothese wurde zum Paradigmenwechsel. Waren die Ökonomen vorher davon ausgegangen, dass mehr Menschen mehr Reichtum für ein Staatswesen bedeuteten, stellte Malthus erstmals die Frage nach der Grenze des möglichen Wachstums.
Und damit gab er gleichzeitig allen, die politisch nichts gegen die Armut unternehmen wollten, eine theoretische Begründung für ihr Tun. Wie Malthus im 19. Jahrhundert interpretiert wurde, fasst eine rund eine Generation später verfasste Geschichte der politischen Ökonomie zusammen: „Ein Mensch, sagte er, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“ Zitiert nach Adolph Blanqui, Geschichte der politischen Ökonomie in Europa, 2. Band, Glashütten (1971), Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Karlsruhe (1841), S. 105f.
Die Folgen von Malthus
Geschichte bewegt sich oft in Wellen. Auf die Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution folgte die Resignation von Biedermeier und Restauration. Und in diesem Zusammenhang war Malthus genau das, was die Politiker brauchten, um ihre herzlosen Gesetze zur Beschränkung der Sozialausgaben zu begründen. So beruhte das 1834 in Großbritannien erlassene Armengesetz auf den von Malthus erarbeiteten Hypothesen. Es legte fest, dass arbeitsfähige Menschen nur dann Unterstützung erhalten sollten, wenn sie bereit waren, in einem Arbeitshaus zu arbeiten. Dessen Arbeitsbedingungen – und auch das wurde gesetzlich reguliert – mussten schlechter sein als die, die von Unternehmen der freien Wirtschaft geboten wurden. Damit wollte man vermeiden, dass ein Armer es sich auf Kosten des Staates bequem machte.
Natürlich fand diese radikale Position nicht nur Unterstützung. Einige wagten offene Kritik, so zum Beispiel Charles Dickens, wenn er Scrooge, Protagonist seines Christmas Carroll, die Bitte um milde Gaben für die Armen mit diesen Worten ablehnen lässt: „Ich wünsche, in Ruhe gelassen zu werden“, sagte Scrooge, „Da Sie mich nach meinen Wünschen fragen, Gentlemen, ist dies meine Antwort. Ich selber gebe mich zu Weihnachten keinen Lustbarkeiten hin und kann es mir nicht leisten, Müßiggänger zu Lustbarkeiten einzuladen. Ich unterstütze die von mir erwähnten Institutionen [Gefängnisse, Arbeitshäuser, Tretmühle und Armenfürsorge] – das kostet mich Geld genug. Wem es schlecht geht, der muss sich eben an diese Stellen wenden.“ „Viele können es nicht, und viele würden lieber sterben.“ „Wenn sie zu sterben vorziehen“, sagte Scrooge, „sollten sie es tun und so den Bevölkerungsüberschuss verringern.“
Malthus und seine These zur Überbevölkerung wird noch heute international diskutiert und hatte Auswirkungen, wie wir unsere Welt und ihre Möglichkeit wahrnehmen. Friedrich Engels und Karl Marx setzten sich ausführlich mit Malthus auseinander. Ob sie dabei eine deutsche Übersetzung des Werks benutzten? Die gab es bereits seit 1807. Dem MoneyMuseum ist es gelungen, von ein Exemplar der ersten deutschen Übersetzung beim Antiquariat Tresor am Römer zu erwerben.
Wenn heute Immigranten als eine Belastung für den Staat gelten und nicht wie früher als eine Bereicherung des Wirtschaftslebens, dann stehen die Ideen eines Thomas Malthus im Raum: Die Vorstellung, dass irgendwann so viele Menschen in einem Land sind, dass das Boot voll ist.
Ja, auch Scrooge war ein Anhänger von Malthus. Er hätte – wenigstens zu Beginn der Geschichte A Christmas Carol – nur zu gerne die Armut reduziert hätte, indem er die Armen reduzierte. Charles Dickens kannte Menschen wie ihn aus eigener Erfahrung. Er kämpfte Zeit seines Lebens gegen ihre Gleichgültigkeit und verdiente damit nicht schlecht. Warum A Christmas Carol noch heute zu den beliebtesten Weihnachtsgeschichten gehört, erzählen wir Ihnen hier.
Oh Du Fröhliche Weihnachtszeit: Charles Dickens Weihnachtserzählungen
Charles Dickens gehört noch heute zu den beliebtesten Autoren der englisch sprachigen Welt. Das liegt an seinen wunderbaren Charakteren. Sie geben dem Leser die Illusion, durch die Identifikation mit den liebenswürdigen Armen auf der richtigen, der guten Seite zu stehen. Charles Dickens ist Wohlfühlliteratur vom Feinsten, gerade in der Weihnachtszeit.
Es ist rund ein halbes Jahrhundert her, dass meine Mutter und ich in der Münchner Fußgängerzone unsere Weihnachtseinkäufe machten. Aber ich erinnere mich gut, dass sie an keinem der unzähligen Bettler vorbei gehen konnte, ohne ihm wenigstens 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Diese Gewohnheit hatte sie von ihrem Vater. Er war 1901 geboren und damit viel zu jung, um während des Ersten Weltkriegs an die Front geschickt zu werden. Diese Tatsache erfüllte ihn mit Dankbarkeit und einem schlechten Gewissen. Er lehrte meine Mutter, all den unglücklichen Kriegsversehrten, die nach dem Ersten Weltkrieg in den Straßen bettelten, wenigstens eine Kleinigkeit zu geben.
Jahrelang folgte ich brav und ein wenig ängstlich, wenn meine Mutter mich schickte, um dem Bettler seine 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Und dann kam die Pubertät. Ich machte mir so meine eigenen Gedanken und fühlte mich bald weit erhaben über solch nutzlose Symptombekämpfung! Ich diskutierte stattdessen in politischen Arbeitskreisen bei Cola und Salzstangen darüber, wie wir die Bauern in Nicaragua unterstützen und die Hungersnot in Äthiopien mildern könnten.
Weder die 20 Pfennig meiner Mutter, noch meine leeren Worte haben irgendwas gegen das Elend der Welt ausgerichtet. Aber sowohl sie als auch ich haben uns dabei als etwas bessere Menschen gefühlt. Und genau diese Sehnsucht nutzen heute unzählige NGOs für ihre Spendenkampagnen, nutzte vor rund anderthalb Jahrhunderten Charles Dickens, um seine Weihnachtsgeschichten zu verkaufen.
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Das Geschäftsmodell von Charles Dickens
Charles Dickens war nämlich nicht nur ein Autor; er war auch ein hervorragender Geschäftsmann, für den Geld eine entscheidende Rolle spielte. Das lag in seiner Kindheit begründet. Er stammte aus einer bürgerlichen Familie, doch die Sorglosigkeit seines Vaters in Gelddingen brachte die ganze Familie ins Schuldgefängnis und lastete dem 12-jährigen Charles die Verantwortung auf, zum Familienunterhalt beizutragen. Er musste die Schule verlassen, um in einer Fabrik für sechs Shilling die Woche Etiketten auf Schuhpolitur zu kleben. Nur eine glückliche Erbschaft verhütete es, dass der kleine Bub aus der Schicht der Bürger in die der Arbeiter abrutschte. Durch die Erbschaft kam der Vater aus dem Schuldgefängnis frei, Charles wurde wieder in die Schule geschickt und vergaß sein Leben lang nie mehr, dass nur ein geregeltes Einkommen soziale Sicherheit bietet.
Und genau dieses geregelte Einkommen war selbst für einen erfolgreichen Schriftsteller nicht ganz einfach zu erzielen, vor allem wenn er wie Charles Dickens einen großen Haushalt mit Frau und zehn Kindern sowie eine Schar armer Verwandter zu versorgen hatte. Deshalb erfand der Erfolgsautor eine völlig neue Form des Publizierens. Statt einen Roman erst zu schreiben, um ihn dann zu veröffentlichen, publizierte Charles Dickens in Teilen. Er ließ die einzelnen Teile in Zeitschriften drucken oder auf eigene Kosten billige Broschüren drucken, die für wenige Pence auch der einfachste Bürger kaufen konnte. Danach erst erschien das fertig gebundene Buch, das eher die reicheren Bürger erwarben.
Diese Form des Schreibens Dickens zusätzlich die Möglichkeit, Einblick in das Kaufverhalten seiner Leser zu gewinnen. Welche Geschichten liefen besonders gut? Welche verkauften sich schlecht, brauchten also noch einen zusätzlichen emotionalen Spin in der Handlung? Dickens lieferte, was seine Leser wünschten.
Wovon man zu Weihnachten träumen will
Und er kannte diese Leser genau. Er wusste, dass eine ordentliche bürgerliche Familie an den langen, kalten Winterabenden vereint im Salon saß und versuchte, sich die gepflegte Langeweile irgendwie gemeinsam zu vertreiben. Eine Geschichte vorzulesen, war da ein wunderbarer Zeitvertreib. Und so erschien A Christmas Carol punktgenau zu Weihnachten 1843.
Die Geschichte war so konzipiert, dass man zwischen den einzelnen Kapiteln Lunch und Tee einnehmen konnte. Sie war familienfreundlich und ihr Inhalt verärgerte nicht einmal die sittenstrengste Tante, die das Weihnachtsfest vom Land in die Stadt getrieben hatte. Der Plot war passend in die Weihnachtszeit eingebettet und stellte mit einer Variante zum reuigen Sünder ein anrührendes Thema dar, das jeden Leser überzeugte, dass die Welt letztendlich doch nicht ganz schlecht ist.
Denn die Protagonisten von A Christmas Carol kannten die Leser nur zu gut aus ihrem eigenen Alltag: Den gnadenlosen Menschenhasser Scrooge, für den zu Beginn der Geschichte nur sein Einkommen zählt, den armen, aber loyalen Sekretär Fezziwig, der trotz redlicher Arbeit nicht genug Lohn erhält, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu bestreiten. Seinen kleinen Sohn Tiny Tim, der eine Krankheit hat, die unbehandelt tödlich endet, aber mit nur etwas Geld besiegt werden kann. Da sind die wohlmeinenden Bürger, die in der Vorweihnachtszeit von Haus zu Haus ziehen, um für die Armen milde Gaben zu sammeln. Und da ist dieser so freundliche Neffe, der seinen einsamen und ziemlich unleidlichen Onkel zur heimatlichen Weihnachtsfeier einladen will.
Ach, was ist diese Geschichte doch für ein wunderbarer Balsam auf die wunde Seele! Die Armen sind geduldig und ertragen ihr Schicksal Gott ergeben. Ausbeuter Scrooge ist gar nicht so schlimm und sieht sofort seine Fehler ein, als man sie ihm eindringlich vor Augen stellt. Mit anderen Worten: Die Welt ist gut, exakt das, was man zu Weihnachten hören möchte. Am Ende sind alle glücklich und rufen lauthals durcheinander Fröhliche Weihnachtszeit!
Dickens Weihnachtsgeschichten: Ein finanzielles Erfolgsmodell
A Christmas Carol kam an. Es wurde ein einzigartiger finanzieller Erfolg. Bereits vor dem Weihnachtsfest 1843 waren 6.000 Exemplare davon verkauft! Und damit war die Nachfrage noch lange nicht befriedigt. A Christmas Carol wurde zu einem Longseller, der unsere Vorstellungen von Weihnachten nachhaltig beeinflusst hat.
So gab Dickens auch im folgenden Jahr eine Weihnachtsgeschichte heraus. Sie hieß Chimes – Die Glocken von London und war so traurig, dass die Leser sie nicht mochten – und nicht kauften.
Und das bedeutete für Dickens, dass seine nächste Weihnachtsgeschichte Das Heimchen am Herd wieder all das bieten musste, was man schon aus A Christmas Carol kannte: Eine entzückende arme Kranke, die ihr Leid geduldig erträgt. Einen reuigen Sünder und lauter wohlmeinende Leute, die den Geist der Nächstenliebe um sich herum verbreiten. Das traf ins Schwarze. Das Heimchen am Herd verkaufte sich nicht nur wie die sprichwörtlichen warmen Wecken, sondern siebzehn verschiedene Londoner Theater adaptierten es für die Bühne – und zwar innerhalb eines Monats nach Erscheinen des Buchs!
Auch wenn Dickens noch mehrere Weihnachtsgeschichten passend zum Datum ablieferte, kamen sie weder literarisch noch finanziell an A Christmas Carol und Das Heimchen am Herd heran. So wurden die beiden Geschichten immer wieder aufgelegt, und als Charles Dickens öffentliche Lesungen als einträgliche Geldquelle entdeckte, wurde A Christmas Carol sein Renommierstück.
Realität oder Märchen: An Weihnachten erlauben wir uns zu träumen
Natürlich weiß jeder Leser von A Christmas Carol, dass es sich dabei um ein Märchen handelt! Und trotzdem ist die Vorstellung, dass die Welt besser werden kann, zu schön, um sie aufzugeben. Besonders an Weihnachten träumen sogar eingefleischte Atheisten davon, dass Aschenputtel den Prinzen heiratet, der kleine Lord die Lebensumstände einer Grafschaft verbessert und Ebenezer Scrooge vom Ausbeuter zum Wohltäter wird.
Wir brauchen Geschichten wie diese, um angesichts der Realität nicht zu verzweifeln. Wir brauchen diese Geschichten genauso wie wir die kleinen Gesten der Mildtätigkeit brauchen: Die Gabe an den Bettler und das Reden darüber, wie man die Welt verbessern könnte. Aber wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Geschichten, kleine Gaben und wohlmeinende Reden nur uns selbst helfen, uns besser zu fühlen. Die Welt verändern, erfordert ein wenig mehr Anstrengungen.
Überleitung
Dass sich ein profitables Geschäftsmodell und echtes Engagement nicht ausschließen müssen, beweisen Die Silvesterglocken, ebenfalls von Charles Dickens. Man könnte dieses weniger bekannte Werk durchaus als eine Art Anti-Malthus bezeichnen, denn der Autor zeigt darin ungeschminkt, welche sozialen Folgen die Anwendung der Regeln von Malthus für diejenigen hat, die zu hilflos waren, um sich zu wehren.
Der Anti-Malthus: Die Silvesterglocken von Charles Dickens
Während "A Christmas Carol" von Charles Dickens zu den bekanntesten Weihnachtsgeschichten gehört, kennt heute niemand mehr seine "Die Silvesterglocken". Das ist verständlich, denn "Die Silvesterglocken" sind auf ihrem historischen Hintergrund zu sehen. In ihnen spiegelt sich die britische Armutsdebatte der 1840er Jahre.
Im Frühjahr des Jahres 1844 erschütterte ein Skandal das bürgerliche London. Ein britisches Gericht hatte Mary Furley wegen Kindsmord zum Tode verurteilt. Ihr Verteidiger machte die Hintergründe der Tat weithin bekannt: Die ledige Mutter unternahm einen Selbstmordversuch, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sah. Ohne Verwandtschaft, ohne Unterkunft, ohne Arbeit, blieb ihr nur noch der Weg ins Arbeitshaus. Davor hatte Mary Furley Angst. Sie wusste, dass man sie sofort von ihrem Kind getrennt hätte. Harte Arbeit, sadistische, im besten Fall gleichgültige Aufseher sorgten für gnadenlose Disziplin. Essen? Das reichte gerade, um nicht Hungers zu sterben. Die meisten Kinder überlebten diese Behandlung nicht. Mary Furley zog den Sprung in die Themse dem Arbeitshaus vor. Ihr Baby starb. Sie wurde gerettet und vor den Richter gezerrt. Und nun diskutierte ein ganzes Land, ob Mary Furley zu verdammen oder zu bemitleiden sei. Trug die moralische Verkommenheit einer Mary Furley oder die unhaltbaren Zustände der britischen Armenfürsorge die Verantwortung für den Tod des Kindes?
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Eine neue Armengesetzgebung
Am Schicksal von Mary Furley zeigten sich unübersehbar die schrecklichen Folgen, die das Armengesetz von 1834 für die Betroffenen hatte. Dabei gab es für dieses Gesetz ursprünglich einen breiten Konsens. Nur ein paar Radikale hatten es abgelehnt. Es basierte auf der neuesten Forschung. Malthus hatte mit mathematischer Genauigkeit nachgewiesen, dass es kontraproduktiv sei, den Armen hohe Unterstützungen zu gewähren, weil dies die Zahl der Armen langfristig nur vergrößere. Das Arbeitshaus galt als eleganter Ausweg. Wer keine andere Lösung sah, erhielt hier wenigstens genug Nahrung, um zu überleben. Eine Wahrung der menschlichen Würde war dabei nicht vorgesehen.
Besonders für ledige Mütter stellte das neue Armengesetz eine große Verschlechterung dar. Vorher hatte die Armenbehörde den Vater des Kindes ausfindig gemacht und gezwungen, Unterhalt zu zahlen. So viel Mühe machte man sich nach der Gesetzesänderung nicht mehr. Man argumentierte, dass die staatliche Fürsorge Frauen bisher geradezu zur Unzucht verleitet habe. Aus Angst vor den Folgen sollten die Frauen lieber moralisch leben. Dass der Missbrauch von Dienstboten alltäglich, das Leben als Gelegenheitsprostituierte oft die einzige Verdienstmöglichkeit für Frauen ohne Ausbildung war, das interessierte die Behörden nicht.
Mary Furley und der Tod ihres Babys stellte die Effizienz der neuen Gesetze in Frage. Ihr Schicksal inspirierte Charles Dickens zu seiner Novelle, die wir in Deutschland als "Die Silvesterglocken" kennen.
Dienstmann Toby und Alderman Cute
Charles Dickens beschäftigte sich nicht zum ersten Mal mit dem Schicksal der Armen. Ihre Nöte und Ängste durchziehen all seine Werke. Doch die "Silvesterglocken" sind anders. Ihnen fehlt der freundliche Optimismus, der Dickens heute noch so lesenswert macht. Stattdessen finden wir Resignation, Hoffnungslosigkeit, Wut und Schuldzuweisungen.
Die Geschichte lebt von der Gegenüberstellung des einfältigen Dienstmannes Toby mit dem smarten Alderman Cute. Sozusagen der Arme und sein Fürsorger. Dabei hat Cute sogar ein reales Vorbild. In ihm parodierte Dickens den ehemaligen Bürgermeister von London, Sir Peter Laurie, der in Leserbriefen und Zeitungsartikeln à la Malthus nachzuweisen suchte, dass der Arme selbst schuld an seinem Elend sei.
In den "Silvesterglocken" wird Tobys Festmahl zum Diskussionspunkt. Meg, seine Tochter, hat ihm eine Portion Kuttelfleck gebracht, um ihn darauf einzustimmen, dass sie endlich ihren geliebten Richard heiraten wird. Kuttelfleck kennt heute niemand mehr. Es handelt sich um Pansen, um Kuh- oder Schafsmagen, ein Abfallprodukt der großen Schlachtereien. Um dieses Fleisch genießbar zu machen, muss man es mehrere Stunden reinigen, mehrere Stunden kochen und dann erst zubereiten. Was wir heute unseren Hunden geben, ist für Toby ein heiß begehrter Leckerbissen. Doch während er noch schlemmt, kommt Alderman Cute daher, nimmt dem hungrigen Toby den Teller weg und seziert das darauf liegende Essen. Mit wohlgesetzten Worten informiert er Toby, dass der Verzehr seiner Kutteln der Gemeinschaft mehr Ressourcen raube als jedes andere Fleisch auf dem Markt.
Toby ist beeindruckt. Er glaubt dem Politiker, genauso wie er dem Parlamentsmitglied Sir Joseph Bowley zustimmt, als der lauthals verkündet, dass viele Arme grundböse, stur, widerborstig und seiner Fürsorge nicht wert seien. Bowley macht das an dem Unruhestifter Will Fern fest, der sich weigerte für seine milde Gabe zu stricken!
Eben diesen Will Fern trifft Toby am eiskalten Silvesterabend auf den Straßen von London. Er trägt seine Pflegetochter Lilian und ist völlig erschöpft. Die beiden hungern, frieren, sind obdachlos und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Toby nimmt sie mit nach Hause, gibt ihnen das Essen, das für Meg und ihn gedacht war. Angesichts ihres Elends hungert er lieber, als die Verzweifelten weiterzuschicken.
Der Traum
Soweit der erste Teil der Erzählung. In ihm zeigt uns Charles Dickens seine Protagonisten von ihrer liebenswertesten Seite. So weckt er unsere Anteilnahme am gutmütigen Toby, an der fröhlichen Meg, dem entschlossene Richard, dem liebevollen Will, und der vertrauensseligen Lilian. Doch nun schläft Toby ein und träumt. Er träumt seinen eigenen Tod und dass die Geister der Silvesterglocken ihm einen Blick auf das Schicksal seiner Lieben enthüllen.
Dieses Schicksal ist schrecklich und gleichzeitig so folgerichtig! Überzeugt durch die Ausführungen von Alderman Cute beschließt Meg, nicht zu heiraten. Der einsame Richard wird zum Alkoholiker. Und das ist immer noch besser als das Schicksal von Will Fern, den die Behörden als Unruhestifter abgestempelt haben. Mal werfen sie ihn ins Gefängnis, weil er einen Apfel pflückt; mal bettelt er im falschen Revier oder besitzt keine Aufenthaltsgenehmigung, mal schnitzt er einen Stock, mal hat ein Polizist einfach schlechte Laune, egal was Will tut, er landet in der Zelle. Für Lilian kann er so natürlich nicht mehr sorgen. Sie überlebt nur, weil sie sich prostituiert. Sie wird zur Ausgestoßenen, von der nicht einmal Meg mehr etwas annimmt. Und das obwohl sie es bitter nötig hätte. Denn aus Erbarmen heiratet sie dann doch den alkoholkranken Richard, und zwar kurz vor seinem Tod. Er lässt sie mit einem kleinen Kind allein zurück. Verlassen von aller Welt bleibt der nun nicht mehr fröhlichen Meg nur ein Ausweg: Sie geht zur Themse, um sich und das Kind zu ertränken.
Ein Traum im Traum oder gar Hoffnung?
An dieser Stelle bricht Dickens ab und verkündet, all das sei ein Traum gewesen. Und so endet die Geschichte doch noch in einem Happy End: Meg und Richard heiraten. Will und Lilian finden eine gut situierte Verwandte, die sich freut für sie sorgen zu dürfen. Also Ende gut, alles gut.
Ende gut, alles gut? Nein, sagt der Autor. Könnte dieses Ende nicht ein Traum im Traum gewesen sein? Ist nicht das unausweichliche Elend der Armut wesentlich realistischer? Jedenfalls solange sich nicht alle Leser anstrengen würden, die Armenfürsorge etwas menschlicher zu gestalten!
Diskussion über ein radikales Stück Literatur
Die Wirkung der "Silvesterglocken" ging weit über das hinaus, was Weihnachtsgeschichten normalerweise tun. Sie regten die Diskussion an. In jedem Club, in jedem Salon, auf der Straße und im Parlament stritten die Menschen darüber, wie mit den Armen umzugehen sei. Dickens gab ihnen ein Gesicht, mit dem man sich identifizieren konnte. Ein weiterer Skandal zwei Jahre später brachte Ende der 1840er Jahre leichte Korrekturen in der staatlichen Armengesetzgebung.
Doch letztendlich war es nicht das menschliche Mitgefühl, sondern der politische Kampf gegen den Kommunismus, der aus dem kapitalistischen Staat den Sozialstaat formte.
Ach ja, auch wenn es für die Geschichte kaum eine Rolle spielt. Mary Furley wurde nicht hingerichtet. Man begnadigte sie zur Deportation.
Es ist schon bemerkenswert, wenn eine ökonomische Schrift Auswirkungen auf die Unterhaltungsliteratur hat. Aber wussten Sie, dass Malthus auch eine der zentralen Thesen unseres heutigen Weltbilds angeregt hat. Ohne die Lektüre seines Buchs hätte Charles Darwin zwar die Evolution entdeckt, wäre aber nie darauf gekommen, dass es die natürliche Auslese ist, durch die die Evolution angestoßen wird.
Charles Darwin und die Evolutionstheorie: Der Stärkere überlebt
Charles Darwins Theorien zur Evolution legten die Grundlagen für unser heutiges Weltbild. Durch seine Hypothese, dass die Natur selbst eine natürliche Auslese vornimmt und so neue Arten schafft, wurde jegliches Eingreifen Gottes überflüssig. Für uns ist das schon längst kein Skandal mehr. Zur Zeit Darwins aber veränderte es den Blick auf die Welt.
2022 ist es dem MoneyMuseum Zürich gelungen, im Berner Antiquariat Daniel Thierstein das Werk eines Autors zu erwerben, der unser Weltbild nachhaltig geprägt hat: Charles Darwin. Mit seinem Namen verbinden wir die Evolutionstheorie und die natürliche Auslese. Aber was versteht man darunter? Und was hat der Ökonom und Demograph Thomas Robert Malthus mit Darwins Thesen zu tun?
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Die Zucht: Neue Tierarten für eine neue Zeit
Der am 12. Februar 1809 geborene Charles Darwin lebte in einer Welt im Umbruch: Kleine Manufakturen wurden zu großen Fabriken; viele Menschen verließen ihr Dorf und suchten sich eine Arbeit in der Stadt; sie vermehrten die städtische Bevölkerung, die ihre Nahrung nicht mehr selbst produzierte, sondern kaufte. Um wirtschaftlich zu prosperieren, benötigten die Städte also eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung, die eine traditionelle Landwirtschaft nicht mehr bieten konnte.
Deshalb brauchte es neue, effizientere Anbaumethoden, neue, ertragreichere Getreidesorten und vor allem neue, an die Bedürfnisse angepasste Tierarten. Sie lieferten, ganz nach Wunsch, mehr Fleisch, mehr Milch oder mehr Wolle. Sie zu züchten, entwickelte sich vor allem in England zu einem Hobby der reichen Gentry, einer neuen Schicht von Landbesitzern, die ihren Stand nicht dem Erbadel, sondern ihrem Vermögen verdankten. Der Vater von Charles Darwin gehörte dazu. Die Großväter waren väterlicherseits ein berühmter Naturwissenschaftler, mütterlicherseits der reiche Keramikfabrikant Josiah Wedgwood. Und so dürfte der kleine, an den Naturwissenschaften überaus interessierte Charles Darwin bereits in frühester Kindheit gelernt haben, wie man systematisch Tiere für die Zucht auswählt, die genau die Eigenschaften aufweisen, die man in einer neuen Art weiterentwickeln möchte.
Die Reise mit der HMS Beagle
Für Charles Darwin bedeutete das familiäre Vermögen aber noch mehr. Ihm stand die ganze Welt offen. Erst bezahlte die Familie ein Medizinstudium in Edinburgh. Als er das abbrach, finanzierte sie sein Theologiestudium in Cambridge. Und als der junge Charles so gar keine Neigung für den Priesterberuf zeigte, brachte der Vater das Geld auf, ihm die Reise seines Lebens zu ermöglichen.
Charles Darwin hatte sich nämlich von frühester Jugend an für die Natur in all ihren Erscheinungsformen interessiert. Er trieb sich stundenlang im Gebirge herum, um zu verstehen, wie die Gesteinsformationen entstanden waren; er botanisierte und zeichnete Vögel, Insekten und Säugetiere. Er träumte davon, die Natur anderer Länder zu entdecken, und als sich ihm die Möglichkeit bot, auf der HMS Beagle nach Patagonien und Feuerland zu fahren, ergriff er sie.
Diese Reise mit der Beagle in den Jahren zwischen 1831 und 1836 wurde für Charles Darwin zu einem Schlüsselerlebnis. Mehr noch: Sie machte den aufgeweckten und fleißigen Forscher mit einem Schlag in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt. Denn Darwin beschrieb in zahlreichen Briefen nicht nur, was er auf der Reise sah, sondern er bot gleichzeitig diskussionswürdige Deutungen. Seine Freunde publizierten die Briefe, und so warteten die Mitglieder der Royal Geographic Society bereits ungeduldig auf die Rückkehr des begabten Forschers, als die Beagle wieder nach England zurückkehrte.
Eine andere Welt
Man kann die Bedeutung dieser Reise für die Evolutionstheorie nicht überschätzen. In den knapp fünf Jahren sammelte Darwin gewaltige Mengen an Material. Einiges passte zu dem, was er bisher gelernt hatte, anderes stellte ihn vor offene Fragen. Wie war das zum Beispiel mit diesen Fossilien, die er im Muschelkalk entdeckte? Wir war das mit den Schildkröten der Galapagos-Inseln? Ihre Panzer unterschieden sie so deutlich, dass die Einheimischen sofort wussten, von welcher Insel eine Schildkröte kam.
Als Charles Darwin nach England zurückkehrte, lagerten im Bauch der Beagle 1.529 in Spiritus konservierte Arten und 3.907 nummerierte Komplexe von Häuten, Fellen, Knochen und Pflanzen, die in England mehr oder minder unbekannt waren. Sie zu katalogisieren und zu publizieren, beschäftigte Charles Darwin in den folgenden Jahren.
Arten verändern sich
Für seinen Katalog griff Charles Darwin auf eine Methode zurück, die seit Carl von Linné weltweit benutzt wurde, um Pflanzen und Tiere eindeutig zu beschreiben. Linné hatte eine Gliederung der gesamten belebten Welt versucht, die jedes Individuum einer Art resp. Species, Gattung und Familie zuordnet. Seit Linné ist eine Hauskatze nicht mehr nur eine Katze, sondern felis catus aus der Gattung der echten Katzen, aus der Familie der Katzen und der Ordnung der Raubtiere. Um ein Individuum in diese Ordnung einzupassen, muss man es mit vielen anderen Individuen vergleichen und dabei überprüfen, ob es alle artspezifischen Merkmale aufweist.
Für Charles Darwin bedeutete das, dass er vor jedem Katalogeintrag entscheiden musste, ob das ihm vorliegende Exemplar zu einer bereits bekannten oder zu einer neuen Art gehörte. Das Problem daran war, dass Darwin häufig nur sehr wenig Vergleichsmaterial zur Verfügung stand. Deshalb stellte sich ihm ständig die Frage, ob ein Exemplar, das einem anderen ähnelte, aber nicht glich, einfach individuelle Abweichungen zeigte - die Zoologie spricht in einem solchen Fall von einer Varietät oder einer Abart -, oder ob diese Abweichungen so eklatant waren, dass eine neue Art vorlag.
Diese Arbeit sensibilisierte Darwin für die unglaubliche Variationsbreite innerhalb einzelner Arten und für die Tatsache, dass Arten häufig geographisch und zeitlich gebunden waren. Er sah, dass in voneinander isolierten Räumen eng miteinander verwandte Arten lebten. Gleichzeitig wiesen Fossilien große Ähnlichkeiten zu noch lebenden Tierarten auf.
Diese Beobachtung wurde durch die Zusammenarbeit mit anderen Forschern bestätigt. So bestimmte der international bekannten Ornithologen John Gould die von Darwin von den Galapagosinseln mitgebrachten 31 Vogelbälge. Er stellte fest, dass es sich teilweise nicht um verschiedene, sondern um eng miteinander verwandte Arten handelte. Die Zoologie nennt eine von ihm beschriebene Gruppe von Vögeln heute Darwinfinken.
Darwin dürfte damals der Gedanke gekommen sein, dass Arten nicht nur in den Ställen der englischen Gentry entstanden, sondern auch in Gegenden, in die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Er begriff, dass sich alle Lebewesen verändern können. Wir sprechen in diesem Zusammenhang heute von Evolution nach dem lateinischen Verb evolvere = entwickeln; Charles Darwin bevorzugte den Begriff transmutation = Umwandlung.
Aber wie, fragte sich Darwin, kam diese Veränderung zustande? Schließlich gab es auf den Galapagosinseln keinen Züchter, der systematisch bestimmte Finken mit den ganz besonderen Eigenschaften zur Zucht auswählte.
Eine interdisziplinäre Anregung
Über diese Frage grübelte Charles Darwin lange, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Den Wendepunkt stellte seine Lektüre von Thomas Robert Malthus' Essay On the Principle of Population dar, wie er selbst in seiner Autobiographie schildert: "... [die Frage], wie Auswahl bei Organismen geschehen konnte, die in der Natur existierten, [also im Gegensatz zu einer künstlichen Auswahl durch Züchtung] blieb einige Zeit ein Mysterium für mich. Im Oktober 1838, also fünfzehn Monate, nachdem ich mit meiner systematischen Forschung begonnen hatte, las ich zufällig zu meiner Zerstreuung On Population von Malthus..."
Nun war Malthus alles andere als ein Naturwissenschaftler. Er war Ökonom und hatte sich mit der Armenfrage beschäftigt. Malthus wollte durch umfassende Statistiken nachweisen, dass eine systematische Unterstützung der Armen nur dazu führen würde, dass diese noch mehr Kinder bekommen und so noch größere Armut verursachen würden. Diese Aussage wurde für Charles Darwin zur kopernikanischen Wende. Vor seiner Lektüre ging er davon aus, dass die Natur nur so viele Individuen erzeugt, wie die Umgebung ernähren kann. Danach postulierte er in Anlehnung an Thomas Malthus, dass die Natur einen Überfluss an Leben schafft. Ob britische Slumbewohner, ob Tiere oder Pflanzen, sie alle wollen eine möglichst große Nachkommenschaft hinterlassen. Dadurch entsteht eine solche Menge an Individuen, dass nicht alle überleben können. Die Natur selbst greift hier ein, um überflüssige Individuen durch Hunger und Krankheit zu beseitigen.
Und das deutete Charles Darwin dahingehend, dass die gnadenlose Natur selbst zum Züchter wird. Ein Lebewesen, das Eigenschaften mitbringt, die ihm das Überleben in einer feindlichen Umgebung leichter machen, überlebt länger. So wird es älter und hat öfter die Möglichkeit, Nachwuchs zu zeugen. Seine Nachkommen tragen teilweise die besonders nützlichen Gene weiter. (Hier kommen die Mendelschen Regeln ins Spiel, aber die kannte Charles Darwin noch nicht.) Diejenigen, die diese Gene besitzen, überleben genau wie ihr Vorfahr länger und haben mehr Möglichkeiten, Nachwuchs zu zeugen. Der trägt nun seinerseits die Gene weiter, aber in höherer Konzentration. Dieser Vorgang wird wiederholt, bis eines Tages eine neue Art existiert, von der alle Individuen über diese Gene verfügen.
Charles Darwin formulierte seine Erkenntnis so: Bei der Lektüre von Malthus' unerbittlicher Arithmetik "verstand ich plötzlich, dass unter solchen Umständen angepasste Varietäten dazu neigten erhalten zu bleiben, während unangepasste untergehen mussten. Dies musste zur Ausformung von neuen Arten führen. Und damit hatte ich endlich eine Theorie aufgestellt, mit der ich arbeiten konnte."
Skandalöse Ideen!
Darwin behauptet in seiner Autobiographie, Mitte 1837 von der Evolution, dem Wandel der Arten überzeugt, 1838 mit Hilfe von Malthus den entscheidenden Durchbruch hinsichtlich der natürlichen Zuchtauswahl geschafft zu haben. Publiziert hat er seine Ideen nicht. Er schrieb stattdessen geologische Arbeiten zu den Korallenriffen (1842) und den Vulkanen (1844).
Das ist bemerkenswert. Darwins Meinung zählte in der wissenschaftlichen Welt Großbritanniens. Trotzdem wagte er es nicht, die Bombe platzen zu lassen. Stattdessen verfasste er einen 230-seitigen Essay über seine Gedanken. Auch wenn er mit seinen Freunden über das Thema gesprochen haben mag, durfte mit Ausnahme seiner Frau Emma niemand den Text lesen. Darwin scheint sich nicht einmal sicher gewesen zu sein, ob er ihn zu seinen Lebzeiten publizieren würde, denn er übertrug Emma die Aufgabe, dies nach seinem Tod nachzuholen.
Warum aber zögerte Darwin, seine Ergebnisse zu veröffentlichen? Um das zu verstehen, müssen wir in die politische Diskussion der damaligen Zeit einsteigen.
Der Kirchenkampf
Hatten die Aufklärer schon seit Jahrhunderten gefordert, die Religion ins Museum zu befördern, stand die Mehrheit der Bevölkerung diesen Thesen mehr als skeptisch gegenüber. Die Französische Revolution veränderte die Einstellung der westlichen Regierungen nicht zum Glauben, aber zur Kirche. Sie begriffen, wie nützlich es wäre, die finanziellen Mittel der Kirche in die Finger zu bekommen, um sie aus der Armenfürsorge zu verdrängen und die Bildung der neuen Generationen selbst zu übernehmen. Da aber eine breite Mehrheit der Bevölkerung am Glauben festhielt und sich einen Glauben ohne Amtskirche nicht vorstellen konnte, entstand in ganz Europa eine gesellschaftliche Diskussion. Welche Rolle sollte die Kirche in Zukunft spielen? In Deutschland hat diese Auseinandersetzung den Namen Kirchenkampf erhalten. Darwins Thesen fielen also nicht in den luftleeren Raum, sondern wurden auf dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung gelesen.
Die Evolution stieß dabei auf wenig Widerstand. Jeder sah, dass sich Arten veränderten. Während die Gentry mit Rind und Schwein experimentierte, gab es in den Städten Kaninchen- und Hundezuchtvereine. Sich verändernde Arten waren zu diesem Zeitpunkt also nichts mehr, worüber sich ein gläubiger Christ aufgeregt hätte.
Doch die Natur als gnadenloser Züchter, der einen Überfluss an Individuen schafft, um sie dann in der Arena des Lebens um ihre Existenz kämpfen zu lassen, das war nicht mit der Idee eines gütigen Gottes vereinbar. Charles Darwin hatte das verstanden. Er wusste, welchen Sprengstoff seine Thesen beinhalteten und hatte deshalb einen guten Grund, sie nicht voreilig zur Diskussion zu stellen.
On the Origin of Species
Wir werden in einem anderen Beitrag erzählen, wie es dann doch zur öffentlichen Präsentation von Darwins Thesen am 1. Juli des Jahres 1858 kam. Der Sturm der Empörung blieb aus, so dass Charles Darwin es wagte, sein gesammeltes Material im folgenden Jahr zu publizieren. Das Buch hieß On the Origin of Species by Means of Natural Selectrion, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life. Die 1.250 Exemplare der Erstauflage, die am 24. November in Handel kamen, waren am selben Tag ausverkauft. Seitdem wurde diese so entscheidende Abhandlung immer wieder übersetzt und aufgelegt.
Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist die Tatsache, dass es tatsächlich die Basis für unser modernes Weltverständnis legte, das seitdem durch viele weitergehende Forschungen in Details bestätigt wurde.
Es enthielt fünf wesentliche Thesen, die zu Darwins Zeiten reine Postulate darstellten:
1.) Die Arten verändern sich, was wir heute als Evolution bezeichnen
2.) Alle Lebewesen haben einen gemeinsamen Ursprung
3.) Die Veränderung der Arten erfolgt in winzig kleinen Schritten
4.) Innerhalb einer Population können unterschiedliche Arten entstehen
5.) Die natürliche Selektion ist der wichtigste, aber nicht der einzige Mechanismus der Evolution
Darwinismus und Kreationismus
Während die Evolution selbst schnell Anerkennung fand, blieb die natürliche Auslese noch lange nach Darwins Tod umstritten, was dessen Verehrung keinen Abbruch tat. Darwin wurde unter weltweiter Anteilnahme zu Füßen von Sir Isaac Newton in der Westminster Abbey beigesetzt.
Heute empfinden wir Darwins Theorie als einzig vertretbare Wahrheit, auch wenn sie von einigen Gruppen vehement bestritten wird. Denn Darwins Weltbild stellt die Güte und die Allmacht Gottes in Frage, und so kann es nicht verwundern, dass Darwins schärfste Kritiker nicht aus Judentum, Christentum oder Islam kommen, sondern dass es die orthodoxen Gläubigen aller drei Religionen sind, die Darwin ablehnen und sich stattdessen zum Kreationismus bekennen.
Wenn wir es genau nehmen, dann waren es zwei Erfahrungen, die Charles Darwin die Theorie von der natürlichen Auswahl aufstellen ließ: Erst klassifizierte er die vielen Präparate, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, und stellte fest, dass unterschiedliche Inseln von unterschiedlichen, nahe verwandten Arten bewohnt wurden. Dann las er Malthus. So begriff er, dass die Natur einen Überfluss an Individuen produziert, von denen nur einige überleben. Zur gleichen Schlussfolgerung kam Alfred Russel Wallace während seiner Reise durch Indonesien unter ähnlichen Umständen. Wie die beiden Forscher gemeinsam für die wissenschaftliche Anerkennung der Evolutionstheorie kämpften, lesen Sie hier.
Gegner oder Verbündete? Wallace, Darwin und die Evolution
Alfred Russel Wallace publizierte 1869 ein Buch über seine Reise nach Indonesien. Es wurde zum internationalen Bestseller, der noch heute davon zeugt, wie Wallace unabhängig von Darwin seine Thesen zur Evolution entwickelte. Er informierte Darwin bereits 1857 über seine Theorie. Heute gibt es Menschen, die deswegen behaupten, Darwin habe dem unbekannten Kollegen seinen Ruhm gestohlen. Kann das wahr sein?
Artikeltext:
Eine Bibliothek lebt von ihren Neuankäufen und den Überlegungen, die ihre Kuratoren zu den neuen Büchern publizieren. So hat uns der Ankauf des wichtigsten Werks von Alfred Russel Wallace beim Berner Antiquariat Daniel Thierstein inspiriert, über das Verhältnis zwischen Russels und Darwin nachzudenken. Beide entdeckten ungefähr gleichzeitig die Evolution und begründeten sie mit einer natürlichen Selektion. Doch während Darwin dafür heute noch gefeiert wird, kannte bis vor kurzem kaum jemand den Namen von Wallace. Das verführte einen Biologen dazu, öffentlichkeitswirksam zu behaupten, Darwin habe dem in wirtschaftlich bedrängten Verhältnissen lebenden Wallace seine Ideen gestohlen. Hat er das wirklich?
Ein zoologisch interessierter Landvermesser
Gerne möchte man den armen Wallace einem superreichen Darwin gegenüberstellen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Tatsächlich war der Vater des 1823 in Wales geborenen Alfred Russel Wallace durchaus wohlhabend. Immerhin konnte er es sich leisten, Alfred aufs Gymnasium zu schicken. Doch 1836 geriet die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Alfred musste die Schule verlassen, durfte stattdessen das Handwerk eines Landvermessers erlernen. Das war ein ehrenwerter, einträglicher Beruf, und er verdiente gutes Geld damit. Das Schönste: Seine Tätigkeit ließ ihm Zeit für seine eigenen Interessen.
Als Alfred Wallace den berühmten Entomologen Henry Bates kennenlernte, war es um ihn geschehen. Entomologen sammeln und klassifizieren Insekten, und Wallace war begeistert von diesem Zweig der Zoologie. Inspiriert von den damals weit verbreiteten Reiseberichten, beschlossen er und sein Mentor Bates, nach Brasilien zu gehen, um dort zu forschen.
Doch wie finanziert man eine Forschungsreise, wenn man nicht Charles Darwin heißt und einen reichen Vater besitzt? Das Geheimnis lag im weit verbreiteten Interesse privater Sammler und öffentlicher Museen an zoologischen Präparaten. Während Bates und Wallace in Brasilien forschten, sammelten sie gleichzeitig Präparate, um sie teuer in England zu verkaufen. Bei der Bestimmung der gesammelten Tier und Pflanzen realisierte Wallace, dass der breite Amazonas eine Art geographische Scheidelinie zwischen eng verwandten Arten bildete. In einem Artikel über die Affen des Amazonas, den er nach seiner Rückkehr im Jahr 1852 veröffentlichte, fragte er deshalb: „Sind eng verwandte Arten ... durch einen weiten geographischen Abstand getrennt?“
Die Reise zum Malaiischen Archipel
Bereits zwei Jahre später ging Alfred Russel auf seiner zweite Reise. Ziel war der Malaiischen Archipel. Heute würden wir eher von der Inselwelt Südostasiens sprechen. Er besuchte die großen und kleinen Sundainseln, die Molukken, die Philippinen und Neuguinea. Er sah Ähnlichkeiten zu dem, was er bereits am Amazonas erlebt hatte und was Darwin von den Galapagosinseln kannte: Breite Wasserstraßen trennten die Inseln und das spiegelte sich in der Verbreitung der darauf lebenden Arten, was Russel schnell gemerkt haben dürfte. Schließlich musste er wieder Präparate sammeln, um seine Reise zu finanzieren. Er trat dabei ganz im Stile eines modernen Unternehmers auf und beschäftigte Subunternehmer, um seinen Profit zu vervielfachen. Bis zu 100 einheimische Assistenten sammelten für ihn Präparate, die er mit Gewinn in der Heimat zu verkaufen plante. Am Ende brachte Wallace insgesamt 125.660 Exponate mit nach hause, und zwar 310 Säugetiere, 100 Reptilien, 8.050 Vögel, 7.500 Muscheln, 13.100 Schmetterlinge, 83.200 Käfer und 13.400 weitere Insekten.
Wallace klassifizierte sie alle. Schließlich versprach der Verkauf einer seltenen oder gar unbeschriebenen Art einen wesentlich höheren Profit als das Präparat einer weit verbreiteten Art. Und beim Beschreiben entdeckte er, dass eine zoogeographische Grenze zwischen den Inseln existierte, und zwar bei der Meerenge zwischen Bali und Lombok. Heute wissen wir, dass diese Grenze die asiatische von der australischen Flora und Fauna trennt. Bis zur Wallace Linie konnten australische Arten vordringen. Andere Forscher haben später festgelegt, bis wohin sich die asiatischen Arten verbreiteten, und in welchem Gebiet ein Gleichgewicht zwischen beiden Arten herrscht.
Wallace träumt von Malthus
Was Wallace da konstatierte, war zunächst lediglich eine sehr kluge Beobachtung. Doch Wallace stellte sich die gleiche Frage, die sich Charles Darwin angesichts seines Materials gestellt hatte. Konnte es sein, dass sich die Arten nicht nur durch menschliche Zucht, sondern auf natürliche Art und Weise veränderten? Aber was könnte der Auslöser für diese Veränderung sein? Und noch einmal soll Malthus einen Forscher auf die richtige Spur gebracht haben: Während eines Fieberanfalls, so berichtet Wallace in seiner Autobiographie, wendete er erstmals die These der naturgegebenen Überbevölkerung, wie sie Thomas Malthus postulierte, auf die Evolution an: „Es kam mir damals der Gedanke, dass diese Ursachen oder deren Äquivalente auch im Falle der Tiere ständig am Werk sind und da Tiere sich sehr viel schneller als Menschen vermehren, muss die jährliche Vernichtung aufgrund dieser Ursachen enorm sein, um die Anzahl der Mitglieder jeder Art gering zu halten, da sie offensichtlich nicht von Jahr zu Jahr zunimmt, sonst wäre die Welt von denen übervölkert, die sich am schnellsten vermehren. Unbestimmt über die enorme und konstante Zerstörung nachdenkend, die daraus folgt, stellte sich mir die Frage, weshalb einige sterben und einige überleben. Und die Antwort war klar, die besser geeigneten überleben. Und wenn man die beträchtliche Variation berücksichtigt, die mir meine Erfahrung als Sammler als vorhanden gezeigt hatte, dann folgte daraus, dass sämtliche Veränderungen, die für die Anpassung der Arten an die sich verändernden Bedingungen erforderlich sind, davon hervorgebracht werden. Auf diese Weise könnte jeder Teil des Aufbaus der Tiere genau wie erforderlich verändert werden und im Prozess dieser Veränderungen würden die Nichtveränderten aussterben und so würden die definierten und klar isolierten Merkmale jeder neuen Art erklärt werden.“
Darwin versus Malthus
Gemäß seiner eigenen Aussage, kam Alfred Russel Wallace diese Idee im Frühjahr 1858. Am 9. März des gleichen Jahres hatte er sie in einen Artikel verpackt, den er an Charles Darwin schickte, mit dem er seit längerem korrespondierte. Wallace bat Darwin, diesen Artikel zur Veröffentlichung weiterzuleiten, wenn er ihn für dessen wert erachtete. Darwin, der das Schreiben im Juni erhielt, leitete es an seine Freunde weiter. Er selbst hatte für diese Angelegenheit gerade gar keinen Kopf: Sein jüngster Sohn war an Scharlach erkrankt und binnen weniger Tage gestorben.
So übernahmen die Freunde von Charles Darwin. Sie stellten am 1. Juli des Jahres 1858 während einer Sitzung der renommierten Londoner Linné-Gesellschaft die Arbeiten von Wallace und Darwin gleichzeitig vor. Damit waren die Thesen der Evolution und der natürlichen Selektion in der Welt.
Alfred Russel in England
Als Alfred Russel im Jahr 1862 nach England zurückkehrte, sprach die ganze naturwissenschaftliche Welt über die Evolution. Nicht wegen der Präsentation vor der Linné-Gesellschaft, sondern weil Charles Darwin das über Jahrzehnte hinweg gesammelte Beweismaterial zu seiner Theorie 1859 in einem umfassenden Werk publiziert hatte. Wir sprechen hier von dem weltberühmten Buch On the Origin of Species, das wir in der vergangenen Ausgabe vorgestellt haben.
Russel scheint deswegen nicht beleidigt gewesen zu sein. Im Gegenteil: Er entwickelte sich zu einem der glühendsten Vorkämpfer des Darwinismus. Er wendete bereits 1864 die Evolution auch auf den Menschen an. In seinem Artikel The Origin of Human Races and the Antiquity of Man Deduced from the Theory of Natural Selection (Ursprung der menschlichen Rassen und Alter des Menschen, gefolgert aus der Theorie der natürlichen Selektion) überschritt er erstmals die Kluft zwischen Mensch und Tier. Kein Wunder; während seiner Reisen hatte er viele verschiedene Arten von Affen kennengelernt, auch den Oran Utan, den wir heute zu den so genannten „Menschenaffen“ zählen.
Die Publikation: Der Malaiische Archipel
Der Verkauf seiner Präparate hatte Alfred Russel reich gemacht. Nun konnte er es sich leisten zu heiraten und durfte erwarten, von seinem Vermögen für den Rest seines Lebens zu zehren. Dazu entwickelte sich sein Buch über die Reise zum Malaiischen Archipel zu einem Bestseller. The Malay Archipelago: The Land of the Orang-utan And The Bird Of Paradise. A Narrative Of Travel, With Studies Of Man And Nature war genau das, was in der viktorianischen Ära bestens ankam. Das Charles Darwin(!) gewidmete Buch erzählte in einer äußerst lebendigen Sprache nicht nur von Geographie, Flora und Fauna, sondern auch von exotischen Menschen und den Erlebnissen des Forschers.
Wallace verfasste eine wunderbare Kombination von abenteuerlichem Reisebericht und naturwissenschaftlichem Lehrbuch. Jeder konnte sich das herauspicken, was ihn am meisten ansprach. Die einen waren fasziniert von der Vielfalt der Käfer und Schmetterlinge. Die anderen freuten sich über spannende Geschichten. Da erlebte Wallace ein Erdbeben vor Ort oder entfernte einen riesigen Python eigenhändig vom Dach seiner Hütte. Staunend las man in den europäischen Salons die Geschichte von Thomas Stamford Raffles, der 1819 Singapur gründete, oder von der Begegnung des Forschers mit James Brooke, dem weißen Raja von Sarawak im Norden Borneos.
Nach einleitenden Bemerkungen zu Geographie und Geologie handelte Wallace alle Inseln systematisch nacheinander ab. Illustriert waren seine Berichte von den besten verfügbaren Künstlern. Ihre Graphiken wurden immer wieder verwendet, als der Roman sich zu einem der populärsten Werke des 19. Jahrhunderts entwickelte: Die englische Version erlebte zehn Auflagen und noch mehr Reprints. Übersetzt wurde sie in mindestens zwölf Sprachen. Die erste deutsche Version aus der Feder des damals bekannten Zoologen Adolf Bernhard Meyer erschien bereits im Jahr der englischen Erstpublikation, also 1869.
Im Schatten oder im Schutz Darwins?
Doch damit war der Höhepunkt in der Karriere von Wallace leider schon überschritten. Er traf eine Reihe von Fehlentscheidungen, die ihn der Achtung der bürgerlichen Welt beraubten. Da war zunächst sein Eintreten für den Spiritismus, das ihm vor allem seine wissenschaftlichen Kollegen sehr übel nahmen. Dann verlor Wallace praktisch sein gesamtes Vermögen, weil er in die falschen Aktien investiert hatte. Und zu allem Überfluss schloss er sich auch noch den Sozialisten an. 1881 wählte ihn die Land Nationalization Society zu ihrem Präsidenten, um den Kampf für die Enteignung der reichen Landbesitzer voranzutreiben.
Wallace hatte sich so unbeliebt gemacht, dass es ihm nicht gelang, eine durchaus angemessene Regierungsrente für wissenschaftliche Verdienste zu erhalten. Dieses sichere Einkommen verschaffte ihm erst Charles Darwin, der all seine Autorität in die Waagschale warf, um dem Kollegen ein würdiges Alter zu ermöglichen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Alfred Russel Wallace hielt noch zahlreiche Vorträge, schrieb noch viele Artikel und einige Bücher, und zwar nicht nur über naturwissenschaftliche Themen, sondern auch über die sozialen Fragen seiner Zeit. Er starb 1913 im Alter von 90 Jahren.
Die Presse widmete ihm zahlreiche Nachrufe und sogar der Wunsch, auch ihn in der Westminster Abbey zu bestatten, wurde laut. Doch seine Frau wollte ihn auf dem kleinen Friedhof seiner Heimatstadt zur letzten Ruhe betten. Nichtsdestotrotz gründeten einige Wissenschaftler einen Ausschuss, um zu Ehren von Wallace eine Gedenktafel in der Nähe von Darwins Grab anzubringen. Sie wurde am 1. November 1915 enthüllt.
Und warum glaubt man nun, Darwin hätte Wallace seine Ideen gestohlen?
Seine Zeitgenossen wären nie auf die Idee gekommen, Darwin und Wallace seien Konkurrenten gewesen. Diese These stellte der amerikanische Biologe John Langdon Brooks in einem 1984 publizierten Buch auf. Er stützte sich auf den Briefwechsel, den Wallace und Darwin geführt hatten, während Wallace noch auf dem Malaiischen Archipel seine Theorien entwickelte. Ihm erschien es unfair, dass die Gegenwart, Wallace vergessen hatte, und so versuchte er, die Reputation seines Helden zu vergrößern, indem er Darwin herabwürdigte.
Die Presse nahm diese Theorie natürlich begeistert auf: Nichts tut sie derzeit lieber, als einen großen Mann von seinem Podest zu stürzen.
Doch die Wahrheit sieht anders auf: Zwei Männer entwickelten unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Ideen. Sie verbündeten sich und setzten diese Ideen gemeinsam in der wissenschaftlichen Welt durch. Wer diese Idee zuerst formuliert hatte, war ihnen nicht so wichtig wie uns. Und in der Tat ist es ja oft nicht entscheidend, wer etwas als erster gesagt hat. Viel wichtiger ist derjenige, der uns mit seinen Argumenten von der Richtigkeit einer Theorie überzeugt. Und da hat Charles Darwin die bessere Arbeit geleistet als Alfred Wallace.
Ein bekanntes deutsches Reisebüro warb einmal mit dem Goethe-Zitat „Man sieht nur, was man weiß“. Das stimmt. Wer weiß, was ein Autor gelesen hat, versteht, warum er wie schreibt. Theoretisch könnten wir jedes Buch daraufhin untersuchen, aber das wäre relativ anstrengend. Gut, dass Lesen auch ohne solches Hintergrundwissen Spaß macht. Aber wenn wir verstehen wollen, warum ein Autor so dachte, wie er dachte, und warum wir heute so denken, wie wir denken, dann ist die Kenntnis der Quellen schlichtweg unerlässlich.