Kinder: Zwischen Erziehung und Generationenkonflikt

Kinder: Zwischen Erziehung und Generationenkonflikt

Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen – so sagt ein deutsches Sprichwort und beschreibt damit, wie häufig Eltern in der einen oder anderen Phase ihre Erziehung als missglückt erleben. Und das obwohl die besten Denker seit Jahrhunderten über dieses Thema philosophieren. Warum Theorie und Praxis bei der Kindererziehung auseinanderklaffen, darüber haben sich viele Autoren Gedanken gemacht. Wir stellen Ihnen in unserer KuraTour einige davon vor.

Beginnen wir mit dem Genfer Pädagogen Jean-Jacques Rousseau. Mit seinem „Zurück zur Natur!“ hat er die Idealisierung des unverdorbenen Kindes begründet. Teresa Teklić präsentiert sein zentrales Werk über die Pädagogik.

Die perfekte Kindheit

von

Teresa Teklić

Die perfekte Kindheit

von

Teresa Teklić

 Émile, ou de l’Éducation

Émile, ou de l’Éducation

Jean-Jacques Rousseau
Den Haag
1762
Herausgegeben von Jean Néaulme

Stellen Sie es sich bildlich vor: Sie wachsen außerhalb der Großstadt auf, in frischer Landluft, umgeben von Natur. Sie dürfen ihren Tagesablauf mehr oder weniger frei bestimmen, suchen sich selbst aus, was Sie lernen wollen, und müssen auch bis Sie zwölf sind keine Bücher lesen oder sich mit nervigen Rechenaufgaben herumschlagen. Derartige Ansätze – zurück zur Natur, Erlebnispädagogik, antiautoritäre Erziehungsmethoden und selbstbestimmtes Lernen – haben in den letzten Jahren durchaus Konjunktur. Sie sind aber keine neue Erfindung. Bereits im 18. Jahrhundert schrieb der Philosoph Jean-Jacques Rousseau sein Buch über die ideale Kindheit. Rousseau war davon überzeugt, dass Émile, oder über die Erziehung sein bestes Werk sei. Obwohl seine Ideen in späteren Jahrzehnten die moderne Pädagogik grundlegend beeinflussten, teilten viele seiner Zeitgenossen diese Auffassung aber erstmal nicht. 

Kinder wie kleine Erwachsene: Genau das wollte Rousseau nicht. Johannes Cornelisz Verspronck, Girl in a Blue Dress, 1641.

Artikeltext:

Kinder wie kleine Erwachsene

Jean-Jacques Rousseau wuchs in einer bürgerlichen Familie im 18. Jahrhundert in Europa auf. Erst lebte er in Genf, später lange in Paris. Hier wurden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt. Sie trugen hübsche Kleider, lernten Etikette, höflich knicksen, Klavier spielen und Fremdsprachen. Sie mussten stundenlang stillsitzen und sich von ihrem Privatlehrer lesen, rechnen und schreiben beibringen zu lassen. Es gab viele Vorschriften und Regeln, und wer diese brach, wurde bestraft. 

Rousseau war davon überzeugt, dass diese Art der Kindererziehung keine wirklich brauchbaren Menschen aus ihnen machte. Für ihn war der Mensch in seinem natürlichen Zustand von Geburt an frei und gut. Die Gesellschaft aber hielt er für problematisch. Er schrieb: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Die Menschen waren neidisch und eitel, sie gaben zu viel darauf, was andere von ihnen dachten und verbogen sich, um bestimmten Erwartungen zu entsprechen. Sie waren zwar frei geboren, ließen sich aber von der Gesellschaft in alle möglichen unnatürlichen Zwänge stecken, bis sie nicht mehr im Einklang mit sich selbst waren.

Dieses Bild repräsentiert eine andere Vorstellung von Kindheit: Die Kinder dürfen im Garten spielen; dass sie außerhalb des Zauns sind, symbolisiert ihre Freiheit von häuslichen Zwängen. Philipp Otto Runge, Die Hülsenbeckschen Kinder, 1805.)

Dagegen setzte Rousseau seine radikalen neuen Vorstellungen. Die Kindheit müsse als eigenständige Phase des Lebens betrachtet werden, die einen Wert für sich habe. Kinder sollten spielen können, sie sollten ihre körperlichen Kräfte, ihre Empfindungen und Neigungen frei von allen Zwängen entwickeln dürfen. Um diese Ideen zu veranschaulichen, geht Rousseau nun her und denkt sich einen Jungen aus, Émile, und seinen Lehrer, der zufällig genau wie er selbst Jean-Jacques heißt. In einer Art Roman erzählt er dann die Geschichte von Émile und seinem Tutor und illustriert an diesem Beispiel seine pädagogischen Ideen.

Rousseau findet Vorbilder für seine pädagogische Agenda in der griechischen Mythologie: Der Zentaur Cheiron unterrichtet den Jungen Achilles.

Die Natur als Lehrer 

Die Natur spielt eine zentrale Rolle in Rousseaus Utopie. Émile wird auf dem Land erzogen, fernab der bösen Gesellschaft und mit viel frischer Landluft und Bewegung, um seine körperlichen Kräfte zu entwickeln. Die Illustration zeigt eine Szene aus der griechischen Mythologie, die als Vorbild dienen soll: Der Zentaur Chiron unterweist den jungen Achilles in Flora und Fauna. Chiron war in der Welt der alten Götter hochangesehen und der beliebteste Privatlehrer für einen ganzen Haufen junger Heroen, darunter auch Jason und Odysseus. So wie Achilles soll auch Émile natur- und praxisnah die Welt entdecken.

Eine andere wichtige Metapher in Rousseaus Abhandlung ist die, dass Kinder selbst wie Pflanzen sind. Sie sollen natürlich wachsen und wenn man nur genug Wasser und Sonne an sie lässt, tun sie das auch. Statt des traditionellen Bildes eines Lehrers, der dem Kind möglichst früh möglichst viel Wissen ins Hirn trichtert, nimmt Jean-Jacques vielmehr die Rolle des Gärtners ein. Seine Hauptaufgabe ist es, die Pflanze vor schädlichen Einflüssen zu schützen, sodass sie sich frei entfalten kann. Dieser Ansatz wird auch als negative Pädagogik bezeichnet und kann ziemlich radikal antiautoritär ausfallen: So spricht der Tutor Jean-Jacques niemals Verbote oder Vorschriften aus, sondern „lenkt“ (man könnte auch sagen: manipuliert) den jungen Émile subtil so, dass er sich von alleine die guten und richtigen Dinge aussucht.

Learning by doing

Einen hohen Stellenwert nimmt bei Rousseau außerdem das erfahrende Lernen ein. Indem Émile Experimente macht und selbst beobachtet, wie sich Gegenstände verhalten, lernt er etwas über ihre Eigenschaften. Die dahinterstehende Grundüberzeugung ist, dass ein gesunder Menschenverstand in der Lage ist, sich allein anhand von Erfahrungen und Empfindungen zu entwickeln. Es ist gut möglich, dass Rousseau auch auf Grund seiner eigenen Lebensgeschichte zu dieser Auffassung kam. Er hatte eine turbulente Kindheit, in der seine Ausbildung immer wieder unterbrochen wurde und die ihn letztendlich zu einem brillanten Autodidakten machte. 

Thetis taucht ihren Sohn Achilles in den Fluss Styx, um ihn unverwundbar zu machen. So einen Schutz soll eine gute Erziehung dem Kinde mitgeben, allerdings dürfe das Kind nicht verhätschelt werden. Nur Abhärtung macht gesund.

Experimentelles Lernen, ganzheitliche Erziehung, freie Entfaltung des Kindes: Was sich für uns heute vielleicht gar nicht so falsch anhört, war damals ein Skandal. Zwar behauptete Rousseau nicht, dass die Vernunft grundsätzlich schädlich sei, wohl aber, dass zu viel Vernunft zu früh im Leben schaden kann. Stattdessen plädierte er dafür, auch körperliche Fähigkeiten und emotionale Empfindungen gleichberechtigt zu behandeln. Damit trat er seinen Zeitgenossen, bei denen die Vernunft über alles ging, gehörig auf den Schlips. 

Es half auch nicht, dass Rousseau in dem Émile eine gut fünfzigseitige Predigt eines fiktiven „Savoyer Vikars“ einbaute. Hier erklärte der Autor unter dem Decknamen des Vikars seine religiösen Überzeugungen. Er war gegen die katholische Kirche, gegen die Calvinisten, eigentlich gegen jegliche Form der institutionalisierten Religion. Glaube war für ihn etwas sehr persönliches, eine Angelegenheit des Herzens. Er glaubte zwar an die Existenz Gottes und daran, dass er sich in allen Aspekten der von ihm geschaffenen Natur ausdrückt – aber ob man an etwas, das über diese grundlegende Naturreligion hinausgehe, glaube, müsse jeder Leser selbst entscheiden. 

Schon wenige Tage nach Erscheinen des Émile im Jahre 1762 wurde das Buch in Paris und Genf verboten und öffentlich verbrannt. Die Ausgabe in der Sammlung des MoneyMuseums wurde deshalb, wie es bei kontroversen Schriften aus der Zeit so häufig der Fall war, in Den Haag gedruckt. Wie es ebenfalls bei kontroversen Schriften der Fall war, wurde das verbotene Werk gerne gelesen und verbreitete sich schnell in Europa. Seine Ideen beeinflussten Denker wie Immanuel Kant und Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi und Maria Montessori. 

So einflussreich sein theoretisches Werk auch war, so sehr versagte Rousseau selbst als Vater. Seine fünf Kinder gab er ins Findelhaus – eine Tat, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigen sollte. Woran wir wieder einmal sehen, dass diejenigen, die auf dem Papier große Ahnung von etwas haben, nicht immer die sind, die sich damit auch im echten Leben auskennen…

Was Sie sonst noch interessieren könnte: 

Einen Ausschnitt aus Émile, oder über die Erziehung in deutscher Übersetzung können Sie hier lesen.

Hier finden Sie den vollständigen Text des französischen Originals.

Falls Sie sich noch intensiver mit dem Buch auseinandersetzen wollen, empfehle ich den ausgezeichneten Podcast von BBC In Our Time. In der Folge „Rousseau on Education“ unterhalten sich drei ausgewiesene Rousseau-Experten über Ideen und Kontext des Émile (auf Englisch).

Nur einen Monat nach Erscheinen des Émile veröffentlichte Rousseau seine berühmte Theorie zum Gesellschaftsvertrag. Das Buch haben wir von Bookophile hier vorgestellt.

Ein Blick in das Buch

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Suspendisse varius enim in eros elementum tristique. Duis cursus, mi quis viverra ornare, eros dolor interdum nulla, ut commodo diam libero vitae erat. Aenean faucibus nibh et justo cursus id rutrum lorem imperdiet. Nunc ut sem vitae risus tristique posuere.

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Suspendisse varius enim in eros elementum tristique. Duis cursus, mi quis viverra ornare, eros dolor interdum nulla, ut commodo diam libero vitae erat. Aenean faucibus nibh et justo cursus id rutrum lorem imperdiet. Nunc ut sem vitae risus tristique posuere.

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Suspendisse varius enim in eros elementum tristique. Duis cursus, mi quis viverra ornare, eros dolor interdum nulla, ut commodo diam libero vitae erat. Aenean faucibus nibh et justo cursus id rutrum lorem imperdiet. Nunc ut sem vitae risus tristique posuere.

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Suspendisse varius enim in eros elementum tristique. Duis cursus, mi quis viverra ornare, eros dolor interdum nulla, ut commodo diam libero vitae erat. Aenean faucibus nibh et justo cursus id rutrum lorem imperdiet. Nunc ut sem vitae risus tristique posuere.

Wenn Sie interessiert, welche Wichtigkeit Rousseau sich selbst zumaß, dann verpassen Sie auf keinen Fall den Artikel zu seiner Autobiographie!

Rousseaus Selbstbildnis: Ich fühle alles und sehe nichts

von

Teresa Teklić

Rousseaus Selbstbildnis: Ich fühle alles und sehe nichts

von

Teresa Teklić

Selbstbildnis

Selbstbildnis

Jean-Jacques Rousseau
Genf
1782
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1960

Diesem Manesse Band der Weltliteratur liegen Jean-Jacques Rousseaus „Confessions“ zu Grunde, autobiographische Aufzeichnungen des gebürtigen Genfers, welche die ersten 53 Jahre seines Lebens umspannen. Diese „Bekenntnisse“, häufig als erste moderne Autobiographie gehandelt, werden erstmals 1782 und 1789 in mehreren Bänden herausgegeben. Ergänzt werden sie in dieser Ausgabe von einigen anderen autobiographischen Schriftstücken, von denen einer Sammlung loser Manuskripte, die Rousseau „Mein Bildnis“ genannt hat, besondere Beachtung geschenkt werden soll.

Der Originaltitel der „Confessions“ bezieht sich offensichtlich auf die damals bekannteste Autobiographie, die „Confessiones“ des Augustinus. Während Augustinus‘ Schrift jedoch eine religiöse ist, die sowohl im Sinne des Schuldbekenntnisses, als auch des christlichen Glaubensbekenntnisses verstanden werden kann, nimmt sich Rousseau erstmalig der persönlichen und vor allem weltlichen Erfahrungen des Autors, seiner Kindheit und seinem Dasein als sozialer Mensch in der Gesellschaft an. 

In den Bekenntnissen lernt der Leser in über 60 kurzen Berichten also allerhand über den Menschen Rousseau, seine Kindheit, seine erste Liebschaft, Reisen, Vorlieben und Abneigungen, seine Vaterlandsliebe zur Schweiz. Das Buch muss mitnichten von der ersten bis zur letzten Seite gelesen werden, diese Fundgrube kluger Gedanken und Anekdoten bietet sich wunderbar zum Blättern an. In „Anlagen und Neigungen“ etwa erfahren wir einiges über Rousseaus Verhältnis zum Geld. Als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie mit 14 Geschwistern besitzt er davon eher zu wenig als zu viel, was sich sein Lebtag nicht wesentlich ändern wird. Geld ist für ihn vor allem eins: lästig. Hat er keins, muss er sich Sorgen machen, wie er es beschaffen könnte. Hat er welches, mag er es nicht ausgeben, aus Angst, dass es ihm wieder ausgeht. Vor allem aber ist es ihm ein Verdruss, dass Geld an sich keine Freude bereitet, sondern lediglich das, was man damit kaufen kann. Und um diese Freuden – gutes Essen oder erlesenen Wein – zu erwerben, muss er sich in die Öffentlichkeit begeben, feilschen, überteuerte Preise zahlen und am Ende auch noch minderwertige Waren erhalten – alles Dinge, gegen die er eine tiefe Abneigung empfindet. 

Bescheidenheit ist wohl nicht das erste Wort, das einem in den Sinn kommt, will man Rousseau beschreiben. Er eröffnet die Bekenntnisse mit der Ankündigung, sein Werk sei in der Geschichte einmalig und er selbst einzigartig. Aber es wäre zu leicht, diese vielschichtige und komplizierte Persönlichkeit auf ihre durchaus selbstbewussten Töne zu reduzieren. In anderen Berichten ist der Autor entwaffnend ehrlich und nahbar, weist sich als Neurotiker und Sozialphobiker aus, dem selbst das Summen einer Fliege Angst macht und der in Gesellschaft vor Nervosität keinen geraden Satz herausbringt. Hier kommt die Idee des titelgebenden „Selbstbildnis“ ins Spiel. Der Autor weist in „Mein Bildnis“ auf die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, hin, sich selbst ganz und gar wahrhaftig darzustellen, ohne sich dabei auch nur ein bisschen zu verstellen. So kann man die Episoden seines Lebens vielleicht als Bruchteile eines in tausend Stücke zersprungenen Spiegels begreifen, durch die wir den Menschen nie auf einmal und nie ganz sehen, wohl aber einzelne Facetten, die sich nach und nach zu einem immer noch widersprüchlichen, aber sich langsam verdichtenden, Ganzen zusammensetzen. Rousseau schreibt, dass er die Welt in ihrer Fülle oft intuitiv begreift, lange bevor er sie in Worte fassen kann: „Ich fühle alles und sehe nichts.“ Vielleicht gilt das auch für den Leser. 

Überleitung

Fortan glaubten die Aufklärer nicht mehr an das Böse im Menschen, sondern begründeten jedes Verhalten mit einer erfolgreichen oder eine verfehlten Erziehung. Fortschrittliche Pädagogen wetteiferten überall um die kindgerechteste Schule. Zu ihnen gehörte der Pensionatsbesitzer Rodolphe Töpffer. Seine Form der Bildung schildert er in einer Art Comic, den Reisen im Zickzack.

Die Comics der Aufklärung

von

Ursula Kampmann

Die Comics der Aufklärung

von

Ursula Kampmann

Voyages en Zigzag ou Excursion d’un Pensionnat en Vacances

Voyages en Zigzag ou Excursion d’un Pensionnat en Vacances

Rodolphe Töpffer
Paris
1844

Es gab da in Genf diesen gescheiterten Maler, der wegen seines Augenleidens gerade mal als Hilfslehrer in einem Pensionat eine Stelle fand. Er bewährte sich und eröffnete 1824 seine eigene Privatschule. Der Mann hieß Rodolphe Töpffer und war ein pädagogisches Genie. Seine Schüler liebten ihn. Mit denen, die während der Ferien nicht zu ihren Eltern fahren konnten, machte er große Reisen zu Fuß. Die konnten schon einmal mehrere Hundert Kilometer über die Alpen nach Venedig führen. 

Heute würde man das, was Rodolphe Töpffer da mit seinen Schülern anstellte, als Erlebnispädagogik bezeichnen. Seine Jungs mussten sich mit Hilfe des wenigen, das sie auf ihrem Rücken mitnehmen konnten, bewähren. Da gab es keine Reservierungen in Jugendherbergen. Man übernachtete, wo es eben kam. Im Heustadel eines Bauern, auf dem Boden einer Gaststube. Und wenn kein Bauernhof oder Gasthaus am Wege lag, schlief man eben auf dem Boden, während der Magen vor Hunger knurrte.

Artikeltext:

Wie Jungs halt so sind

Rodolphe Töpffer, der auf diesen Reisen all die Mühsal mit seinen Jungs teilte, war ein großartiger Beobachter, der seine Erinnerungen mit viel Humor nicht nur in einem Tagebuch, sondern auch mit dem Stift festhielt. Er scheint lieber zugeschaut als kommandiert zu haben. Auf seinen Zeichnungen sind seine Jungs die Stars, und wir stellen schmunzelnd fest, dass sie sich genauso benehmen, wie kleine und große Jungs es heute noch tun:

Sie klettern auf Bäume, schleppen zweifelhafte Tiere an, haben ständig Hunger und fallen am Abend todmüde in die Betten - ganz egal, wie diese aussehen. Töpffer überliefert all die kleinen und großen Erlebnisse der Reisen zweimal, einmal im geschriebenen Wort, dazu im Bild.

So schildert er detailliert sein Entsetzen, als eine gierige Gastwirtin ihn, unterstützt von einem leicht brutal aussehenden Mann, anscheinend ausnehmen will. Sie fordert 400 Francs allein für den Wein! Töpffer ist bereit, ihr 40 Francs zu geben - für alles: Wein, Mahlzeit und Quartier. Die beigegebene Zeichnung zieht den Leser sofort in ihren Bann. Wir fühlen mit dem kleinen, bescheidenen Lehrer, der da mit Doppelkinn, dickem Bauch und schäbigem Rock vor der adretten Wirtsfrau steht. Wie standhaft er die Interessen seiner Schüler verteidigt!

Wie werden die Schüler daheim über diese Auseinandersetzung gelacht haben! Denn Töpffer fertigte seine Notizen und sein Skizzenbuch nicht an, um es zu publizieren. Daraus wurde zunächst nur ein hübsches Album, das einzig den Zweck hatte, mit seiner Hilfe den Daheimgebliebenen von den Erlebnissen des Sommers zu erzählen.

Die ersten Bildergeschichten

Publiziert wurde der erste Band der Reisen im Zickzack erst 1844 in Paris, und zwar nachdem sich Töpffer mit seinen Bildergeschichten bereits einen Namen gemacht hatte. Er wird heute als der Gründervater des Comics gefeiert: Seine Bildergeschichten waren nämlich eine Mischung von Bildern, auf denen die Akteure ähnlich wie im Theater miteinander agierten, und einem kleinen Text, der das Geschehen erklärte. Neu daran war, dass der Text nicht ohne das Bild, das Bild nicht ohne den Text funktionierte, genau wie heute beim Comic.

Auch diese Bildergeschichten waren schon wesentlich früher entstanden - die erste zeichnete Töpffer 1827 - und wie die Reisebeschreibungen ausschließlich für die Bewohner seines Pensionats bestimmt. Doch ein Freund schickte Goethe zwei davon inklusive eines Reiseberichts. Der große Goethe äußerte sich außerordentlich positiv: „Es ist wirklich zu toll! Es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich! Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bisschen mehr zusammennähme, so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären. [...] Töpffer scheint mir [...] ganz auf eigenen Füßen zu stehen und so durchaus originell zu sein, wie mir nur je ein Talent vorgekommen.“

Wenn ein Genie einen so lobte, war das natürlich ein Ansporn, das Material doch zu veröffentlichen. Töpffer überarbeitete also seine Zeichengeschichten und beauftragte 1835 einen Genfer Drucker, mal ein paar Hundert davon zu produzieren. Sie verkauften sich wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln! Ständig mussten neue Auflagen herausgegeben werden. Und bald gab es auch Übersetzungen. In Deutschland zum Beispiel erschien bereits 1846 eine zweisprachige Ausgabe, die indirekt Wilhelm Busch inspirierte.

Bei seinem Tod im Jahr 1846 war Töpffer in der ganzen gebildeten Welt bekannt. Seine Werke wurden in Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Schweden, in Frankreich, Deutschland und - in einem ins englische übersetzten Raubdruck - sogar den USA herausgegeben.

Den gesamten Text der französischen Erstausgabe der Reisen im Zickzack finden Sie bei den erara der ETH Zürich.

Einen französischen Artikel zu diesem Buch hat Olivier Hoibian publiziert.

2019 fand in Genf eine Ausstellung zu Rodolphe Töpffer statt, SRF berichtete darüber.

Ein Blick in das Buch

Vignette des Titelblatts: Beachten Sie die Jungs, die sich in den Buchstaben von VOYAGE verstecken. Sie tragen ihre Schuluniform und hören auf ihren Lehrer, der ihnen mit feinem Rock und Perücke den Lehrstoff vorträgt. Unten sind dieselben Jungs in entspannter Haltung zu sehen. Derselbe Lehrer trägt nun statt Perücke einen gigantischen Sonnenhut und beobachtet sie bei ihrem Tun.

Eine Pause, die durch eine reiche Mahlzeit verschönt wird: Im Hintergrund schöpfen einige größere Jungs Wasser, damit jedes Gruppenmitglied seine Feldflasche füllen kann. Die anderen warten derweil auf das Essen, das Töpffers Frau Kity austeilt, während der Pädagoge selbst entspannt auf der anderen Seite des Flusses sitzt, um seinen Jungs zuzusehen.

Und trotzdem klappte es einfach nicht mit der harmonischen Familie, was viele Schriftsteller thematisierten. Wir illustrieren das mit Honoré de Balsacs Vater Goriot. Darin erzählt der Autor vom schlimmen Schicksal eines Vaters, der seine Töchter bedingungslos liebt.

Vater Goriot

von

Annika Backe

Vater Goriot

von

Annika Backe

Vater Goriot

Vater Goriot

Honoré de Balzac
Paris
1835
Publiziert von Diogenes, 2007

„Geld ist Leben. Vermögen bedeutet alles.“ Das sind die verzweifelten Worte von Vater Goriot in einem der Schlüsselmomente des gleichnamigen Romans von Honoré de Balzac. Gerade hat der frühere Nudelfabrikant erfahren, dass seine beiden Töchter dem finanziellen Ruin nahe sind. Dabei hatte er sie reich verheiratet, sein eigenes Wohl immer hintan gestellt. Gedankt wird es ihm nicht. Verleugnen lassen sich Delphine und Anastasie, als er krank und verarmt um ihren Besuch bittet. So stirbt er einsam „wie ein Hund“. Er, der sich zuvor „wie ein Hund“ um ihre Zuneigung bemüht hatte.

Mit „Vater Goriot“ beleuchtet Honoré de Balzac beispielhaft den Aufstieg und Fall von einem, der mit Spekulation reich geworden ist und doch alles verliert. Zu spät begreift der alte Mann, dass alles und alle am Geld hängen, sich die wirklich wichtigen Dinge aber für Geld nicht kaufen lassen. 

In nur wenigen Wochen geschrieben und 1834/35 in einer Pariser Zeitschrift veröffentlicht, bildet das Werk mit den „Szenen aus dem Privatleben“ („Scènes de la vie privée“) den Romanzylus „Die menschliche Komödie“ („La Comédie humaine“). Entgegen Dantes „Göttlicher Komödie“ geht es Balzac nicht um die Menschenseelen im Jenseits, sondern um menschliches Dasein im Diesseits. Zeitlich siedelt der Autor das Geschehen in der Folge der Französischen Republik an, in der Restauration bis 1830. Die Pariser Gesellschaft zeichnet er als durch und durch verdorben, korrupt und geldgierig. 

Illustrierte Titelseite von Le Père Goriot aus einer Ausgabe von 1897.

Der Schauplatz für das Treffen archetypischer Personen ist die leicht schmierige Pension der Madame  Vauquer im Paris des Jahres 1819. Da gibt es den jungen Rastignac, der zur feinen Gesellschaft gehören will. Dort angekommen, stößt ihn deren Verkommenheit ab. Der Halunke Vautrin hat das alles bereits durchschaut und ist doch genauso kalt und berechnend. 

Die Töchter Delphine und Anastasie streben nach guten Partien, die sie sich von ihrem Vater aufwändig einfädeln lassen. Einmal erreicht, schauen sie auf ihren Vater herab. Vater Goriot wiederum verdankt seinen Reichtum der Spekulation mit Getreide. Es ist also das Elend anderer, das ihn und seine Familie ernährt. 

Der Macht des Geldes erliegen sie schließlich alle. Von Luxus und Wohlstand geblendet, spielen und manipulieren sie. Immer in der Hoffnung, zu den Gewinnern eines gnadenlosen Systems zu gehören. 

Der Autor wusste, wovon er schrieb. Vor seinem Hauptwerk „Die menschliche Komödie“ hatte sich der 1799 in Tours geborene Honoré de Balzac an verschiedenen Werken und Formaten versucht. Ein gutes Auskommen sicherte ihm dieses literarische Schaffen nicht. So suchte Balzac schon früh die Nähe vermögender Damen, die ihm – Vater Goriot nicht unähnlich – finanziell unter die Arme griffen. Diesem erfolgreichen Prinzip sollte er lange treu bleiben, auch als er ab den 1830ern zu einem vielgelesenen Autor avancierte. Obwohl der arbeitswütige Honoré de Balzac 1845 das Kreuz der Ehrenlegion erhielt, bemängelten Kritiker seinen Stil als zu formlos. 

Dem Verdienst Balzacs tut dies keinen Abbruch. Bis heute hält er dem Menschen den Spiegel vor. Seine nüchterne Beschreibung, welche Macht die Menschen dem Geld verleihen, war selten so aktuell wie heute.

Auch der Russe Iwan Turgenjew stand fassungslos vor den fehlenden Idealen einer kommenden Generation. Sein Roman Väter und Söhne – eigentlich „Väter und Kinder“ – thematisiert den geradezu unvermeidlich scheinenden Konflikt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erfahrung und Enthusiasmus.

Wertewandel in Russland: Turgenjews Väter und Söhne

von

Ursula Kampmann

Vater Goriot

von

Annika Backe

Väter und Söhne

Väter und Söhne

Honoré de Balzac
St. Petersburg
1862
Publiziert von Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 1949

Wir schreiben das Jahr 1861. Die russische Regierung hat sich endlich der Moderne geöffnet und ihrem Volk die Bauernbefreiung verordnet. Das hat die Gesellschaft polarisiert. Während die radikale Linke klagt, die Bestimmungen würden nicht weit genug gehen, empfinden die Traditionalisten das Gesetz als skandalös. Nur wenige sind da noch in der Lage, beide Seiten anzuhören und zu verstehen. Zu dieser winzigen Minderheit gehört Iwan Turgenjew.

Artikeltext:

Die Mitte

Iwan Turgenjew verkörpert das, was wir heute „die Mitte“ nennen würden. Selbst aus einer wohlhabenden Adelsfamilie stammend, hat der Autor eine moderne Erziehung genossen. Er schätzt Berlin und Paris, hat dank seiner hervorragenden Sprachkenntnisse gute Kontakte ins Ausland. Im Jahr 1861 hat er seinen 40. Geburtstag schon hinter sich. Er ist damit in einem Alter, in dem er die Radikalität der Jugend überwunden hat und dem selbstherrlichen Starrsinn des Alters noch nicht verfallen ist. Und so ist sein Roman Väter und Söhne aus eben diesem Jahr 1861 eine Geschichte des Ausgleichs. Sie zeigt dem Leser auf liebevolle Art und Weise, dass Generationen unterschiedliche Meinungen vertreten, ja vertreten müssen. Einfach weil dies immer so war und immer so bleiben wird. Weil die Natur selbst den Menschen so gemacht hat.

Polarisierung

Turgenjew erzählt die Geschichte der beiden Freunde Jewgenji Basarow und Arkady Kirsanow. Anführer des ungleichen Paares ist der brillante Medizinstudent Basarow, ein eloquenter Nihilist, der keine Regeln, keine traditionellen Werte anerkennen will. Arkady schaut bewundernd zu ihm auf und schwatzt nach, was der Freund da von sich gibt. So fühlt sich auch Arkady modern und revolutionär. Dafür unterdrückt er geflissentlich die gelegentlich aufkommenden Zweifel, weil er eigentlich nicht alle Werte, die er von zu Hause mitbekommen hat, für überflüssig hält.

Turgenjew lässt die beiden Freunde das Gut von Arkadys Vater, Nikolai Kirsanow, besuchen. Dort treffen sie ein genauso ungleiches Paar, wie sie selbst es sind, allerdings eine Generation älter.
Arkadys Vater Nikolai ist der gutmütige Genießer, dessen Maxime man mit „leben und leben lassen“ umschreiben könnte. Er neigt zum Ausgleich, weiß um seine Mittelmäßigkeit, ist aber trotzdem fähig, ein lebenswertes Leben zu führen. Denn Nikolai ist ein Mensch, der viel Liebe zu geben hat: Er liebt seinen Sohn Arkady, seine längst verstorbene Frau, seine junge Braut Fenitschka und den kleinen gemeinsamen Sohn, nicht zu vergessen seinen Bruder Pavel.
Dabei ist Pavel ganz anders als Nikolai, ein Salonlöwe, der selbst im provinziellen Alltag kein Iota von seinen Ansprüchen abweicht. Jeden Tag putzt er sich, als müsse er in einem Pariser Salon Furore machen. Jeden Tag verschlingt er die neuesten Zeitungen und Journale, um auf dem Laufenden zu sein. Er eifert, wie es in seiner Jugend alle taten, dem Ideal des englischen Gentleman nach, und ist dabei genauso radikal wie Basarow. Beide verteidigen ihre Art zu leben glühend und verachten zutiefst die Ideale des anderen.

Damit führt uns Turgenjew zwei mal zwei Paare vor: Die Alten und die Jungen bzw. die Radikalen und die Gemäßigten.

Crazy little thing called love

Sobald alle vier sich gründlich über alles und nichts zerstritten haben, schickt Turgenjew Basarow und Arkady in ihr nächstes Abenteuer: Er konfrontiert sie mit zwei Frauentypen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Da ist zunächst Katya. Nicht auffällig, nicht außergewöhnlich, einfach ein hübsches, bescheidenes Mädchen, das gerne Klavier spielt, Puschkin liest und Blumen pflückt. Mit ihr freundet sich Arkady an.
Ihre Schwester und Herrin des Guts, auf dem Basarow und Arkady weilen, ist die stolze Odinzowa, eine Femme fatale, über die sich der ganze Bezirk das Maul zerreißt. Nein, natürlich nicht wegen ihrer politischen Ansichten! So was hatten Frauen damals nicht – oder jedenfalls glaubte Turgenjew, dass Frauen sich nicht für Politik interessieren. Aber die Odinzowa heiratete einen alten Mann, um finanziell abgesichert zu sein. Und das ohne wenigstens vorzugeben, ihn zu lieben. Inzwischen ist ihr Mann gestorben, und die Odinzowa lebt mir ihrer Schwester und einer alten Tante auf dem ererbten Gut. Sie ist zufrieden, vielleicht ein bisschen gelangweilt, bis Basarow ihre Ruhe aufstört.
Der unabhängige Basarow, der alle Konventionen so heftig ablehnt, verliebt sich nämlich rasend in die kluge, selbstsichere und dabei so schöne Odinzowa. Natürlich geht das schief. Die Odinzowa sucht Unterhaltung, mag die Diskussion, will sich aber nicht auf eine tiefer gehende Beziehung einlassen. Basarow kann es nicht lassen und gesteht ihr seine Leidenschaft. Danach bleibt ihm nichts anderes übrig, als abzureisen. Nachdem er sich auch bei Nikolai und Pavel Kirsanow unmöglich gemacht hat, muss er heim zu seinen Eltern.

Und damit kann uns Turgenjew einen weiteren Menschentyp vorführen: Zwei liebenswürdige, anspruchslose Menschen, die nur eine Leidenschaft in ihrem Leben haben, den eigenen Sohn. Für ihn haben sie sich aufgeopfert, haben sich sein Studium buchstäblich vom Munde abgespart, haben ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund gedrängt, um dem Sohn alle Wünsche von den Augen abzulesen. Es ist tragisch, dass Basarow dies nicht einmal wahrnimmt. Für ihn sind seine Eltern eine Art Möbelstück, das seiner Bequemlichkeit dient, aber keine Rücksichtnahme erfordert.
So endet das Buch mit einer Katastrophe: Der große Basarow, der die ganze Welt aus ihren Angeln heben wollte, infiziert sich über einen kleinen Schnitt mit Typhus und stirbt innert weniger Tage. Turgenjew schildert mitfühlend, welchen Schmerz das den Eltern zufügt. Basarow aber spottet bis zuletzt: „Wer weint dort? Du, Mutter? Arme Frau. Für wen wird sie jetzt ihren wundervollen Borscht kochen? Und du, Wassilij Iwanowitsch (gemeint ist der Vater), du scheinst auch zu plärren... Nun, wenn das Christentum dir nicht hilft, so versuch es doch wenigstens, ein Philosoph zu sein, meinetwegen ein Stoiker. Du hast doch immer geprahlt, dass du ein Philosoph bist.“

Während Basarows Eltern das Teuerste begraben, was ihnen das Leben geschenkt hat, lässt Turgenjew Arkady und seinen Vater ihr bescheidenes Glück finden: Arkady heiratet Katya, der Vater Fenitschka, bald sind beide stolze Väter – und wenn sie nicht gestorben sind...
Die Odinzowa heiratet auch, allerdings nicht aus Liebe, sondern aus Kalkül. Diesmal ist ihr Erwählter ein vielversprechender Politiker, der ihr eine aufregende Existenz in der Hauptstadt verspricht.
Pavel dagegen bleibt allein. Er geht in die Fremde und schlägt dort seine Zeit tot.

Die Welt hat keiner von ihnen verändert. Sie hat sich einfach weitergedreht.

Hate Speach im 19. Jahrhundert

Und damit könnte dieser Artikel enden, hätte der Roman nicht unter seinen Lesern eine Reaktion hervorgerufen, die an einen modernen Shitstorm erinnert. Die politisierte Jugend fühlte sich durch Väter und Söhne zutiefst beleidigt. Wie konnte ein alter Mann es wagen, ihre revolutionäre Gesinnung in der Person Basarows so vorzuführen!
Unzählige Rezensionen und Artikel zerrissen den Roman in der Luft. Die russischen Studenten von Heidelberg rügten Turgenjew öffentlich. Dessen Apelle an Vernunft und Toleranz verhallten ungehört.
Die offene Feindseligkeit, die ihm von der radikalen Jugend entgegenschlug, vergällte Turgenjew den Aufenthalt in Russland. Er zog es vor, im Westen zu leben, wo man seinen Roman als das schätzte, was er ist: eine wunderbare Analyse verschiedener Menschentypen.
Und so starb der große russische Dichter Iwan Turgenjew am 22. August 1883 in Paris. Angesichts der heutigen Entwicklung unserer Gesellschaft, sollten wir ihn und seinen Roman Väter und Söhne wieder einmal lesen – und uns danach nicht ganz so wichtig nehmen.

Wie stehen wir heute zum Thema Kindheit und Erziehung? Haben wir nicht manchmal geradezu den Eindruck, dass sich das Verhältnis zwischen Kind und Eltern umgekehrt hat: Nicht mehr der Erwachsene erzieht das Kind, sondern das Kind den Erwachsenen. Ein gutes Beispiel dafür wäre Der kleine Prinz oder – wie in unserem Fall – Momo: Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.

Momo: Der Kampf gegen den Stress

von

Ursula Kampmann

Rousseaus Selbstbildnis: Ich fühle alles und sehe nichts

von

Teresa Teklić

Momo

Momo

Michael Ende
Stuttgart
1973

Artikeltext:

Sie können sich sicher sein, ich habe viele Werke der Weltliteratur gelesen, und doch, wenn ich das für mich wichtigste Buch nennen soll, dann komme ich auf ein Kinderbuch zurück, auf das Buch Momo von Michael Ende.

Der Untertitel dieses in den 1980er Jahren äußerst erfolgreichen Werks heißt "Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte". Und das ist eigentlich auch schon der Inhalt des Buchs. Es geht um ein kleines Mädchen namens Momo, das eine Meisterin darin ist, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, und zwar gerade nicht im Sinne der Selbstoptimierung. Und dieses Mädchen nimmt auf einmal wahr, dass die Welt der Erwachsenen bedroht ist durch deren perversen Umgang mit der Zeit: Schuld daran sind die grauen Herren mit ihren grauen Aktentaschen und ihren eleganten grauen Autos. Sie flüstern ihren Opfern ein, dass Zeit Geld ist. Deshalb muss man sie auf die Zeitsparkasse tragen. Wichtig ist nicht, eine Arbeit mit Liebe zu tun, sondern sie schnell zu erledigen. Die grauen Agenten der Zeitsparkasse sind sehr erfolgreich. Immer mehr Erwachsene werden zu Zeitsparern. Auf der Strecke bleibt die Freude am (zeitraubenden) Miteinander, am (zeitaufwändigen) füreinander Dasein, kurz die innere Zufriedenheit.

Natürlich rettet Momo die Welt, und die Geschichte geht gut aus.

Kinder brauchen eben Märchen. Aber auch als Erwachsene bin ich beeindruckt, von den Bildern, mit denen Michael Ende arbeitet. So zum Beispiel, wenn die grauen Herren ihren potentiellen Kunden vorrechnen, warum man Zeit sparen müsse: Diese Vorstellung, dass man das Leben im hier und jetzt zur lustlosen Arbeitshölle macht, um ein Zeitkonto zu füllen, das einem irgendwann zur Verfügung steht. Kenne ich das nicht auch, wenn ich mich der Hoffnung hingebe, ich müsse nur hart genug arbeiten, um irgendwann alle Arbeit bewältigt zu haben?

Oder wenn Momo dorthin geht, wo die Zeit herkommt, und beobachtet, dass jede Stunde ihres Lebens eine wunderschöne Blume ist, die genau eine Stunde blüht und einmalig und unwiederbringlich ist. 

Momo ist deshalb ein wichtiges Buch, weil es uns zeigt, dass der heute gesellschaftlich so akzeptierte Umgang mit der Zeit nicht alternativlos ist. Michael Ende präsentiert seine Botschaft mit so einfachen Worten, dass niemand behaupten kann, er habe sie nicht verstanden.

Obwohl Momo ein Kinderbuch ist, sollte es Pflichtlektüre sein für alle unter Stress leidenden Erwachsenen.

Wie denken Sie über das Thema Erziehung? Möchten Sie selbst ewig Kind bleiben oder nervt sie das schlechte Benehmen der Jungs von nebenan? Schwimmen Sie mit dem Strom oder dagegen, wenn es ums Thema Bildung geht. Wir vom MoneyMuseum halten dieses Thema für außerordentlich wichtig und werden ihm 2025 eine eigene Ausstellung widmen.