Geld und Liebe - Teil 2
Es soll Jean-Jacques Rousseau gewesen sein, der 1761 in seinem Roman Julie oder Die neue Heloise erstmals publikumswirksam die Forderung erhob, eine Ehe nicht auf Pflicht, sondern auf Zuneigung zu gründen. Viele fanden diesen Gedanken verführerisch. Die Romantik erhob diese Idee zum Allgemeingut. Ihre Vorbilder fand sie in der mittelalterlichen Liebeslyrik. Geschichten wie Tristan und Isolde beeinflussen unsere Vorstellungen von der wahren Liebe bis heute.
Tristan und Isolde sind womöglich das berühmteste Liebespaar des Mittelalters. Naja gut, vielleicht das zweitbekannteste, nach Lancelot und Guinevere. Verständlich, denn die Legende erfüllt alle Voraussetzungen einer richtig guten Geschichte: Ein mystisches Setting, blutige Kämpfe, ein bisschen Magie, leidenschaftliche Liebe, Loyalität und Verrat, und ein tragisches Ende. Kein Wunder, dass sie über Jahrhunderte in Europa tradiert und in unzähligen Versionen niedergeschrieben wurde. Historisch lässt sich kaum beweisen, ob der Ursprung jetzt keltisch, englisch oder französisch ist. Trotzdem meinen Forscher wie Joseph Bédier manchmal, so einen Ur-Tristan gefunden zu haben…
Artikeltext:
Ritter aus Cornwall trifft Prinzessin aus Irland
Die Geschichte ist ganz schön lang und verwickelt, wir wollen uns deshalb hier auf das Notwendigste beschränken. Wir befinden uns auf den britischen Inseln, irgendwann zwischen etwa 500 und 1000 n. Chr. Marke, der König von Cornwall, soll Isolde, die Tochter des irischen Königs, heiraten. Er schickt seinen Neffen Tristan nach Irland, um dort in seinem Namen um ihre Hand zu bitten. Die Mutter der schönen Isolde, die ebenfalls Isolde heißt, will ganz sichergehen, dass ihre Tochter auch eine glückliche Ehe führt und gibt ihr deswegen einen Liebestrank für sie und Marke mit. Und das ist der erste große Fehler. Der zweite große Fehler ist, dass Tristan und Isolde den Trank auf der Überfahrt von Irland nach England aus Versehen trinken und sich unsterblich verlieben. Ups.
Die beiden führen dann lange eine heimliche Affäre, bis König Marke ihnen schließlich auf die Schliche kommt und Tristan nach Deutschland fliehen muss. Wo er – halten Sie sich fest – die dritte Isolde trifft, Isolde Weißhand. Er heiratet sie, um Isolde von England zu vergessen, bis er eines Tages in einer Schlacht von einem giftigen Speer verwundet wird und nur eine nach irischem Geheimrezept gebraute Salbe ihn noch retten kann. Die Rezeptur kennen nur Isolde Senior und Isolde Junior. Isolde Junior macht sich also mit der Salbe auf den Weg, um ihren geliebten Tristan zu retten, was jedoch durch eine List der deutschen Isolde verhindert wird. Tristan stirbt im Glauben, es gäbe keine Rettung mehr für ihn. Als Isolde von England kurz darauf doch mit der rettenden Medizin auftaucht, findet sie ihren Geliebten tot vor. Sie wird schwer krank und stirbt ebenfalls vor Trauer.
Ein europäisches Gemeinschaftswerk
Der genaue Ursprung des Stoffs lässt sich trotz umfangreicher Bemühungen der Forschung nicht mit Sicherheit bestimmen. Was wir wissen ist, dass es eine Reihe mündlicher Überlieferungen und keltischer Legenden gab, die die Geschichte gespeist haben. Seit dem Mittelalter gibt es dann zwar auch verschriftlichte Quellen, diese sind aber in der Regel nur Fragmente, also unvollständig. Zu den ersten uns überlieferten Manuskripten gehören die Fragmente eines gewissen Thomas, einem altfranzösischen höfischen Autor, bei dem nicht geklärt ist, ob sein Beiname korrekterweise von England, von Bretagne oder von Britannien sein müsste. Wir wissen einfach nicht genug über sein Leben. Nach dieser Vorlage verfasste dann der mittelalterliche Dichter Gottfried von Straßburg († um 1215) seinen Tristan. Allerdings starb er bevor er den Versroman beenden konnte, sodass wiederum andere mittelalterliche Autoren dazu verschiedene Fortsetzungen schrieben.
Ein angeblich französischer „Ur-Tristan“
Sie sehen also, anhand der schwierigen Quellenlage, der oft nur fragmentarischen Manuskripte und den vielen verschiedensprachigen Bearbeitungen des Tristan-Stoffs ist es extrem schwierig, eine „richtige“ Version oder eine eindeutige Traditionslinie zu bestimmen. Trotzdem behauptete im 20. Jh. Joseph Bédier, ein französischer Mediävist, dass es eine einzige Quelle für alle Varianten des Tristan-Stoffs geben müsse, einen „Ur-Tristan“ sozusagen. Die vorliegende Ausgabe von 1926 ist eine Nacherzählung Bédiers und der Versuch, diesen Ur-Tristan zu rekonstruieren. Besonders interessant ist hierbei der kultur-patriotische Ansatz, mit dem er versucht, den Stoff als ursprünglich Französisch zu beanspruchen und die nicht-französischen Bearbeitungen des Stoffes – wie z.B. die mittelhochdeutsche Gottfried von Straßburgs – als „imitations“ also Nachahmungen abtut. Dazu passt, dass das Buch den Zusatz „ausgezeichnet von der l’Académie Française“ trägt. Die Académie, in der übrigens auch Bédier Mitglied war, ist ja bekanntermaßen so etwas wie der selbsternannte Wächter zur Bewahrung der französischen Sprache und Literatur.
Das Buch ist eine deutlich modernisierte Fassung des Stoffs, die aber trotzdem auf seine mittelalterlichen Ursprünge verweist. So sind den einzelnen Kapiteln jeweils kurze Zitate der mittelalterlichen Versepen vorangestellt, z.B. von Béroul und Gottfried von Straßburg. Die Anfangsbuchstaben der Kapitel sind stilisierte, modernisierte Initialen und erinnern damit an die farbprächtigen Illuminationen mittelalterlicher Manuskripte.
Daran hat auch Richard Wagner seinen Anteil. Er popularisierte das mittelalterliche Versepos mit seiner weltweit bekannten Oper.
Bis zur Uraufführung von Richard Wagners großer Oper oder, wie der Komponist selbst gesagt hätte, seiner Handlung „Tristan und Isolde“ war es ein langer Weg. Der Stoff selbst beruht auf alten keltischen Sagen, wurde im 13. Jh. verschriftlicht und im 19. Jh. von Wagner rezipiert. Der wiederum arbeitete nochmal gute fünf Jahre daran, die Handlung zu kürzen, neu zu dichten und zu vertonen, das heißt wenn er nicht gerade mit anderen Projekten beschäftigt war. Als das Werk 1859 endlich vollbracht war, wollte es niemand aufführen. Mit vier Stunden Spielzeit brachte es „Tristan und Isolde“ damals auf einen Rekord für die längste Oper der Welt. Dementsprechend hoch waren die Anforderungen an die Darsteller und der Aufwand für die Inszenierung.
Zunächst sollte die Oper in Rio de Janeiro uraufgeführt werden, dann in Karlsruhe, schließlich in Wien, wo man alsdann mit den Proben begann. Nach fast 80 Proben allerdings brach man ab, verkündete das Stück sei unaufführbar und Wagner stand etwas ratlos da. Der rettende Geldsegen kam schließlich aus Bayern, wo König Ludwig II. Wagner bedingungslose Unterstützung versprach. Endlich war das Unterfangen von Erfolg gekrönt: Am 10. Juni 1865 fand die Uraufführung am Hoftheater in München statt – und war ein Riesenerfolg. Ein Glück für die Nachwelt, in der Wagners meisterhaftes Werk bis heute nachhallt.
Artikeltext:
Große Musik, große Dichtung
Sollten Sie sich nicht mehr so ganz genau an die Geschichte von Tristan und Isolde erinnern, können Sie die zweitbekannteste Affäre des Mittelalters hier nochmal nachlesen. Was Wagner aus dem Stoff macht, ist allerdings ganz erstaunlich. Er komponiert nicht nur die Musik, sondern verfasst auch den Text neu und erweist sich dabei als origineller und wortgewaltiger Dichter. „Wer ‚Tristan und Isolde‘ gehört hat, kann nie mehr die Dichtung von der Musik loslösen,“ begeistert sich Berthold Viertel im Nachwort.
Außerdem strafft er die Erzählung Gottfried von Straßburgs aus dem 13. Jh. stark und reduziert sie auf wesentliche psychologische Schlüsselmomente. Das ist der erste Geniestreich und führt dazu, dass Tristan und Isolde später gerne im Sinne der freudschen Psychoanalyse als ein Konflikt zwischen Trieb und gesellschaftlichen Vorschriften gelesen wird. Sein zweiter Geniestreich ist musikalischer Natur. Bereits im zweiten Takt des Vorspiels ertönt ein Akkord, der Musikwissenschaftler noch jahrzehntelang in den Wahnsinn treibt. Zum „Tristan-Akkord“ – F-H-Dis-Gis – gibt es zahlreiche Interpretationen und Lesarten, die Musikwissenschaftler deutlich besser erklären können als ich. Im Kern geht es sich wohl aber darum, dass der Akkord auf ungewöhnliche Art aufgelöst bzw. nicht so richtig aufgelöst wird, was ein tiefes Gefühl des Unbehagens und der Irritation im Zuhörer hervorruft. Dieser Akkord, der leitmotivisch immer wieder auftaucht, ist sozusagen die größtmögliche Steigerung von Romantik, eine musikalische Umsetzung unstillbaren, schmerzlichen Verlangens, dessen Nicht-Auflösung den Zuhörer verrückt macht. Mit der Kopplung dieser zwei Elemente – von Leitmotiven an psychologische Zustände – revolutioniert Wagner die Oper.
Sammlerausgabe aus dem Avalun-Verlag
Vorliegen haben wir eine Textausgabe des von Wagner verfassten Musikdramas. Erschienen ist das Buch im Avalun-Verlag, einem aus Wien stammenden und seit 1919 im Handelsregister als Verlags-, Buch- und Kunsthandel geführten Unternehmens. Unklar ist, wie lange der Verlag in Wien aktiv war; vermutlich bis Mitte der 1920er Jahre. Eine weitere Niederlassung wurde jedenfalls in Leipzig gegründet, was wir dank deutschen Publikationen aus den frühen 1930er Jahren wissen. Avalun hatte sich auf Luxusdrucke, Mappenwerke und bibliophile Ausgaben spezialisiert. Alle etwa 40 in der Reihe erschienenen Titel waren streng limitiert. Drucken ließ der Verlag bei angesehenen Pressen und Druckereien wie der Österreichischen Staatsdruckerei in Wien oder bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden. Häufig wurden die Bände von bekannten Künstlern bebildert, wie etwa eine Ausgabe von Hans Christian Andersens „Reiseblätter aus Österreich“ mit Originalradierungen von Luigi Kasimir.
Die Bildsprache: Keltische Knoten, Drachen und Langschiffe
Aber schauen wir uns einmal die Bildsprache des uns vorliegenden Bands genauer an. Satz und Radierungen stammen von Alois Kolb, einem deutsch-österreichischen Maler, der ab 1907 Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig war. Dort machte er die Radierabteilung zur Musterschule ihrer Art, die später viele bekannte Künstler hervorbrachte. (Leipzig verbindet ihn übrigens mit Wagner, der hier geboren ist.)
Den oberen Rand der linken Titelseite ziert ein Flechtband, das lose an die Ornamentik der insularen Buchmalerei erinnert. Zum Vergleich: Rechts sehen wir einen Ausschnitt aus dem berühmten Evangeliar von Lindisfarne, einem Meisterwerk der Buchkunst aus dem 8. Jh. Kolbs Umsetzung dieses Flechtbands ist allerdings deutlich verspielter, irgendwo zwischen Romantik und Art Déco. Eben jenes Kloster von Lindisfarne wurde bekanntermaßen 793 von Wikingern überfallen – und zu denen kommen wir als nächstes.
Die runde Vignette auf der rechten Titelseite zeig nämlich ein furchteinflößendes Bild: Meterhohe Wellen einer aufgepeitschten, stürmisch-dunklen See, ein Wikinger-Langschiff mit überdimensioniertem Bug und abschreckender Drachenkopfverzierung, besetzt mit kampfbereiten Kriegern, und ebenso über-lebensgroße Wildgänse, vermutlich aus der nordischen Mythenwelt entlehnt. Signiert ist die Radierung, wie alle anderen im Buch, von Alois Kolb.
Auf der letzten Seite des dramatischen Texts sehen wir unten eine Schlussszene der Oper. Die zusammengekauerten Gestalten am unteren Bildrand sind König Marke und sein Gefolge, die um den toten Tristan trauern. Links im Bild spielt jemand Orgel. Letzteres ist wohl der künstlerischen Freiheit Kolbs zuzurechnen – in Wagners Oper kommt auf jeden Fall keine Orgel vor. Die Ornamentik im oberen Bildabschnitt erinnert wieder an die Ursprünge der Sage im keltischen Kulturraum. Die Linien scheinen wie eine verspieltere Variante eines keltischen Knotenmusters, wie es im Vergleich oben rechts zu sehen ist.
Die gesamte Motivik des Kunstbandes orientiert sich also stark an keltischer Buchkunst und damit nicht an Wagners romantischer Umsetzung des Stoffes, sondern am Zeitraum, in dem die Liebesgeschichte historisch spielt. Die insulare Buchmalerei setzt etwa im 6. Jahrhundert in Irland und Nordengland ein, die Wikinger fallen zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert dort ein und irgendwann in dieser Zeit wird die Geschichte von Tristan und Isolde sich abspielen. Und zwar zwischen Irland, Cornwall und der Bretagne. Geographisch passt es also auch.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Mehr zur Entstehung der mittelalterlichen Handschrift von Tristan und Isolde durch Gottfried von Straßburg.
Die Faszination des Tristan-Akkords erklärt Ihnen dieser Video-Podcast der Bayreuther Festspiele.
Diese Folge des Podcasts WDR3 Meisterstücke bringt Ihnen Tristan und Isolde aus musikalischer Sicht näher.
Englische Alternative zu WDR3 Meisterstücke
Wagners Musik hat auch im modernen Film Echos. Hier zum Beispiel im bildgewaltigen Drama Melancholia des experimentellen Regisseurs Lars von Trier.
Wagner ist leider auch für sein problematisches Verhältnis zum Antisemitismus bekannt. Das hier auszuführen, sprengt leider den Rahmen unseres Formats, wir verweisen aber auf den Artikel „Richard Wagners Antisemitismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).
Überleitung
Doch während Klein Lieschen Müller vom großen Glück träumte, sahen kritische Geister, dass Liebe keine Garantie für eine glückliche Ehe war. Scott Fitzgerald schildert in Die Schönen und Verdammten sogar, dass selbst das Dreigespann Liebe, Ehe und viel Geld kein Glück garantiert.
Was macht man, wenn man nicht arbeiten muss? Wie gibt man seinem Leben einen Sinn? Diese Frage stellt sich unwillkürlich bei der Lektüre von „Die Schönen und Verdammten“. Als der amerikanische Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald den Roman 1922 veröffentlichte, war er gerade mal 26 Jahre alt, dank seines zwei Jahre zuvor erschienen Erstlings „Diesseits des Paradieses“ reich und berühmt; und mindestens ebenso berüchtigt für sein exzessives Partyleben und seine glamouröse Ehefrau Zelda. Die Fitzgeralds stehen ikonenhaft für die „Roaring Twenties“, die kurze Zeit, in der eine Generation feierte, weil sie den grossen Krieg überlebt hatte, ohne zu wissen, wohin ihr Leben gehen sollte; die Zeit, in der Jazz den ekstatischen Soundtrack lieferte; die Zeit, die in den USA von Gegensätzen wie Prohibitionismus und Speakeasies geprägt war, von Weltwirtschaftskrise und Flappers, von einer „Lost Generation“, die sich mit Drogen und Exzessen betäubte.
Kaum ein anderer Schriftsteller hat das Lebensgefühl dieser Generation im „Jazz Age“ eingefangen wie F. Scott Fitzgerald. Er schrieb, wovon er etwas verstand, er schrieb von sich. Das war so klar, dass das Buchcover der Erstausgabe von „Die Schönen und Verdammten“ ein Paar zeigte, dessen Züge auf den ersten Blick denen der Fitzgeralds glichen. Dabei hiessen die beiden Hauptfiguren des Romans Anthony und Gloria. Egal, denn ihre Geschichte ist ebenfalls von sorglosem Feiern geprägt. Anthonys Lebenssinn besteht darin, auf das Erbe seines reichen Grossvaters zu warten, Gloria denkt nur an Konsum und Luxus. Sie verlieben sich, heiraten. Sie ist das ideale schmückende Beiwerk an seiner Seite, gemeinsam ist ihnen ihr Egoismus. So gut es geht, finanziert er seine anspruchsvolle Gattin, doch dann droht das Ende: Anthonys sittenstrenger Grossvater erwischt ihn beim Feiern und enterbt ihn. Zwar bekommt Anthony am Ende doch noch ein paar Millionen. Aber auf die Idee, eine Stiftung zu gründen oder Bedürftigen zu helfen, kommt er nicht. Masslos verprassen beide ihr Geld – wie die Fitzgeralds. Das beschleunigt nur noch den Zerfall der Beziehung, weil beide nun ihrem sinnlosen Zeitvertreib völlig hemmungslos nachgehen können. Es reisst sie in Alkoholismus und eine zerstörerische Hassliebe.
Fitzgerald schrieb hier vieles nieder, was ihm und seiner Frau in den folgenden zehn Jahren passieren würde. Ihr Glamourleben wurde zum Alptraum für beide. Zelda endete als psychisch krankes Wrack, der grosse Schriftsteller als Alkoholsüchtiger, der zwar ein echtes Lebensziel hatte, daran aber vermeintlich gescheitert war: als grösster Schriftsteller seiner Generation zu gelten. Tatsächlich erlebte Fitzgerald nicht mehr seinen dauerhaften Erfolg bei Kritikern und Lesern, als gnadenlos präziser Beobachter der Upper Class seiner Zeit – selten so pessimistisch wie in „Die Schönen und Verdammten“.
Auf den ersten Blick könnte man das Leben der Fitzgeralds für ebenso oberflächlich und konsumorientiert halten wie das der Romanfiguren. Aber mit einem Unterschied: Gloria und Anthony sehen in ihrem Leben keinen Sinn. Sie haben keine tiefen Wünsche und Werte, keine Aufgaben und Ziele. Die Fitzgeralds strebten beide nach literarischem Ruhm. Ihr Jet-Set-Leben genossen sie in vollen Zügen, es war aber vor allem ein Vehikel, um die beiden als Traumpaar ihrer Zeit zu etablieren und ihnen ständige Aufmerksamkeit zu sichern. Als Scott und Zelda sich ruiniert hatten, wandte sich das öffentliche Interesse von ihnen ab. Ihre Werke blieben.
Die Leere all derer, die den Glücksvorstellungen der Romantik hinterherhechelten, beschreibt Fitzgerald in seinem Roman Der große Gatsby. Liebe wird in diesem Buch zu einer bloßen Chiffre für einen Lebensinhalt, das mit der geliebten Person selbst nicht mehr in Verbindung steht.
„Der große Gatsby“ zählt heute zu den bekanntesten Romanen moderner amerikanischer Literatur, nicht zuletzt weil er die Faszination und inhärente Widersprüchlichkeit des American Dream einfängt wie kaum ein anderer. F. Scott Fitzgeralds Werk erzählt die Geschichte des „großen“ Gatsby, eines geheimnisvollen, neureichen Gentlemans, berüchtigt für die legendären Parties in seiner palastartigen Villa. Anders als viele Bewohner des reichen New Yorker Vororts ist Gatsby jedoch nicht in die Oberschicht hineingeboren, sondern hat sich seinen Wohlstand, ganz im Sinne des amerikanischen Volksmythos, selbst erarbeitet. Mit seinem spektakulären sozialen Aufstieg verfolgt Gatsby ein ganz besonderes Ziel: die schöne, reiche Daisy Buchanan.
Neben einer tragische Liebesgeschichte erzählt der Roman auch von einer Gesellschaft, die betört ist vom Glanz und Glitzer des modernen, kapitalistischen Reichtums. Die 1920er Jahre sind nicht nur bekannt für kurze Cocktailkleider, volle Champagnergläser und Jazzmusik, die Ära wird auch als „Gilded Age“ – als vergoldetes Zeitalter – bezeichnet; denn es ist nicht alles Gold was glänzt. Gatsbys Wohlstand gründet sich nicht auf harter Arbeit, sondern auf Betrug und Korruption. Daisy, ebenso wie die gesamte Oberschicht, scheint hinter ihrem schönen Äußeren dekadent, moralisch ausgehöhlt und im Verfall begriffen.
Der Abgrund zwischen Schein und Sein in einer solchen Gesellschaft zeigt sich nirgends deutlicher als im Kontrast zwischen Gatsbys gold-glitzernden, verschwenderischen Luxusfesten und der tristen, grauen Realität der Kohlearbeiter im „Tal der Asche“. Hier wird die Widersprüchlichkeit einer zunehmend von Konsumgier getriebenen Gesellschaft offenbar, welche die realen Produktionsverhältnisse nicht sehen will: der Reichtum der einen gründet sich auf der Armut der anderen.
Fast 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans im Jahre 1925 ist die Frage, wie die Wohlstandsverteilung in einer gerechten Gesellschaft aussehen könnte von gleichbleibender Aktualität, wenngleich sie mit der Globalisierung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten eine neue Bezugsgröße geschaffen hat. Aber weder klagt „Der große Gatsby“ mit erhobenem Zeigefinger an, noch will er moralisieren. Die große Stärke des Romans ist es vielmehr, dass er den Leser in seinen Bann zieht, die Verlockung des Geldes und die Faszination des maßlosen Reichtums greifbar macht. Denn wir erleben die fiktiven Geschehnisse aus der Perspektive eines jungen Mannes, Nick Carraway, der sein Glück an der New Yorker Börse versuchen will. Und ebenso wie Nick vom schnellen Geld des Finanzmarktes angelockt und von Gatsby verführt wird, werden wir es.
Lesenswert ist „Der große Gatsby“, der selbst schwere Themen charmant und mit Leichtigkeit erzählt und sich darum auch gut als Urlaubslektüre eignet, unbedingt. Fitzgeralds Roman ist inzwischen fester Bestandteil des Kanons amerikanischer Klassiker und hat es sogar auf die Liste der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts geschafft. Zu Recht.
Ist die Liebe wirklich der einzige Lebensinhalt einer Frau? Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Frage immer öfter gestellt. Bekannte Mythen und Erzählungen wurden umgewertet. So interpretieren wir heute Carmen als eine unabhängige Frau, während das 19. Jahrhundert nur das Skandalöse ihres Verhaltens sehen konnte.
Sie ist ein Skandal diese Carmen, die da das Herz des braven spanischen Offiziers José betört! Eine Zigeunerin! Eine Fabrikarbeiterin! Treulos, gesetzlos und doch so betörend. Carmen, wie sie Prosper Mérimée 1845 schuf, war ganz anders als die sittsamen Jungfern, die im väterlichen Wohnzimmer saßen und darauf warteten, dass um ihre Hand angehalten würde.
Schon die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die diese Carmen hat! Sie verdient sich selbst das Geld, das sie zum Leben braucht, und zwar in einer Zigarrenfabrik. Doch sie ist kein ausgebeutetes Opfer, sondern Herrin ihres Schicksals. Als sie durch eine impulsive Tat straffällig wird und ihre ehrliche Arbeit verliert, wird sie Mitglied einer Schmugglerbande.
Artikeltext:
Kein sittliches Frauenzimmer
Am skandalösesten aber ist ihre sexuelle Freiheit, und das 1845! Sie schläft mit Don José, um ihm für seine Hilfe bei ihrer Flucht zu danken, nur um ihn am anderen Morgen mit der Erklärung zu verlassen, man sei halt nicht füreinander geschaffen. Carmen ist verheiratet mit einem Räuberhauptmann, und liebt Don José, als der zum Räuberhauptmann wird. Als dieser jedoch ihren Ehemann ermordet und mit ihr ein neues Leben in Amerika beginnen will, verlässt ihn Carmen für einen Torero.
Carmen ist der Gegenentwurf zu allen weiblichen Tugenden, die man sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert nur vorstellen konnte. Sie ist nicht lieb, nicht nett, nicht fürsorglich, nicht treu. Dafür strahlt sie eine Sexualität aus, die Männer wie Motten in ihren Lichtkreis zieht.
Nur ein mögliches Ende konnte man sich damals für so eine Frau vorstellen: Don José ersticht sie im Affekt und büßt am Galgen für seine Untat.
Mérimée hat mit dieser Gestalt einen weiblichen Urtyp geschaffen. Dessen Geschichte wurde und wird immer wieder neu erzählt, als Oper von Georges Bizet (1875) und als Film von berühmten Regisseuren wie Cecil B. DeMille (1915), Ernst Lubitsch (1918) und Carlos Saura (1983). Ob Eisrevue oder Ballett, Carmen ist in der Populärkultur angekommen und noch der größte Opernverächter ist in der Lage, wenigstens die Habanera zu summen.
Emanzipation!
Die uns hier vorliegende Prachtausgabe in französischer Sprache erzählt die Geschichte der Carmen illustriert von der Malerin Marguerite Frey-Surbeck. Erschienen ist das Buch im Kunstverlag Gonin, der 1926 gegründet wurde, nicht um Bücher zu produzieren, sondern um kleine Gesamtkunstwerke zu schaffen, bei denen sich Text und Bild gegenseitig in der Aussage unterstützen.
Die Illustratorin ist dabei nicht zufällig gewählt. Marguerite Frey-Surbeck war eine frühe Vertreterin der weiblichen Emanzipation und eine engagierte Kämpferin für das Frauenwahlrecht. Als Nichte eines Bundesrats, brach sie mit den bürgerlichen Kreisen, heiratete einen Künstler und behielt doch ihre Eigenständigkeit. Man sieht es an einer kleinen Geste: Sie stellte ihren eigenen Familiennamen dem ihres Mannes voran.
Marguerite Frey-Surbeck ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Rolle der Frau verändert hat, seit eine Carmen zum Bestseller wurde. Ein Skandal aber bleibt: Der Skandal, dass eine Carmen einen Don José nicht zu lieben vermag, gleich wie viele Opfer er seiner Liebe bringt. Kürzlich erließ Deutschland ein verschärftes Gesetz gegen Stalker, die Menschen verfolgen, weil sie genau dieses Skandalon nicht zu ertragen wissen.
Die Entwicklung gipfelt in einem neuen Frauentyp, der Männer verachtet und ihnen die eigenen Regeln aufzwingt. So wie Dürrenmatts alte Dame, deren immenses Vermögen die Bürger ihrer Heimatstadt dazu bringt, ihren treulosen Geliebten umzubringen.
Als die Milliardärin Claire Zachanassian nach jahrelanger Abwesenheit in ihrer früheren Heimat, der Kleinstadt Güllen, ankommt, ändert sich alles mit einem Schlag. Sie bietet den Bürgern Güllens an, ihnen aus ihrer finanziellen Not zu helfen, aber nur, wenn sie im Gegenzug ihren Mitbürger Alfred Ill töten. Dieser hatte in seiner Jugend verleugnet, der Vater von Claires Kind zu sein und hatte auf diese Weise ihr Leben ruiniert. Von allen geächtet musste sie Güllen verlassen und wurde zur Prostituierten. Nach der Heirat mit einem Ölquellenbesitzer und weiteren acht Ehen konnte sie jedoch genug Reichtum anhäufen und nach und nach genug Grundstücke in Güllen kaufen, um die Stadt schließlich erpressen zu können. Nun fordert sie Gerechtigkeit. Die Bürger stehen vor einer schweren Entscheidung. Und obgleich sie Claires Angebot zunächst als moralisch verwerflich abtun, beginnen sie trotzdem einen komplett neuen Lebenswandel in Erwartung des baldigen Reichtums.
Die Tragikkomödie „Der Besuch der alten Dame“ ist eins der bekanntesten Werke Friedrich Dürrenmatts und wurde nach seiner Uraufführung in Zürich im Jahr 1956 unzählige Male inszeniert. Es wurde weltweit erfolgreich und bietet seit über 60 Jahren erfahrenen, älteren Schauspielerinnen eine einzigartige Frauenrolle. Mit Claire Zachanassian schuf Dürrenmatt (1921-1990) eine Figur, die sowohl auf antike Rachemotive zurückgreift als auch groteske, abstruse Elemente beinhaltet. So reist die moderne Medea-Figur Claire stets mit ihren Exmännern XII-IX, einem Butler, zwei ehemaligen Gefängnisinsassen als Diener, zwei lispelnden, blinden Eunuchen und einem schwarzen Panther. Ihr gesamter Körper besteht aus Prothesen und auch sonst ist Claire Zachanassian eine gänzlich unheimliche Figur.
Dazu schafft Dürrenmatt in diesem Drama eine Situation, die das Moralverständnis des Lesers herausfordert. Denn auch wenn Claire völlig verrückt scheint, so wurde ihr doch Unrecht getan. Wie aber soll sich die Kleinstadt entscheiden, die ja durch Claires finanzielle Erpressung selbst vor dem Ruin steht? Ist es unter solchen Umständen vertretbar, einen Menschen zu opfern, der zwar Schuld auf sich geladen hat, dies aber seit 45 Jahren bereut?
Dürrenmatt verarbeitet mit dieser Parabel gleich zwei gesellschaftliche Defizite. Zum einen beschäftigt er sich mich Geldgier und den Gefahren materialistischen Denkens. Es ist scharfe Kapitalismuskritik anhand einer komisch-tragischen Handlung. Zum anderen spricht er jedoch auch das jahrhundertealte philosophische Problem der Opferung eines einzelnen Menschen für das Wohl der Masse an. Beide thematische Aspekte haben in den letzten Jahrzehnten noch mehr an Bedeutung gewonnen, was beispielsweise die große Resonanz von Ferdinand von Schirachs Erfolgsstück „Terror“(2015) in neuester Vergangenheit belegt.
„Der Besuch der alten Dame“ ist zwar an vieler Stelle auch eine Komödie, doch der Text ist gleichermaßen tragisch und schrecklich und zwingt den Leser schonungslos zu einer Entscheidung über Recht und Unrecht. In einer Welt, in der der Kapitalismus letztendlich gesiegt hat und einige wenige Reiche das Leben von tausenden anderen bestimmen, müssen Fragestellungen dieser Art wieder Gehör finden. Denn am Ende muss jeder für sich selbst beschließen, in wie weit Geld unser moralisches Handeln beeinflussen darf.
Ist es nicht bemerkenswert, dass die hohe Literatur immer schon die gescheiterten Liebesbeziehungen bevorzugte, während die Schilderung einer geglückten Partnerschaft oft als Kitsch abqualifiziert wird?
Wenn Sie Teil 1 dieser KuraTour lesen möchten, klicken Sie hier.