Arbeit: Zwischen Utopie und Wirklichkeit
Nein, während der Arbeit sollten Sie diese KuraTour sicher nicht lesen! Aber jetzt im August, wenn die Arbeitswelt eine kleine Ruhepause einlegt, ist es vielleicht an der Zeit sich zu überlegen, wie wir gemeinsam eine bessere Arbeitswelt schaffen können. Dazu einige literarische Anregungen.
Beginnen wir mit einem positiven Aspekt, nämlich der Tatsache, dass die Geschichte uns zeigt, dass sich Arbeitsbedingungen verändern lassen – vielleicht nicht in ein, zwei Monaten, aber sicher in Generationen. Wenn nämlich keine Änderung möglich wäre, würden wir heute noch so arbeiten wie die Bergarbeiter in der Kohlengrube von Voreux im Roman Germinal.
Wir leben in einer konsumorientierten, schnelllebigen Zeit, in der Meldungen über Ungerechtigkeiten jeglicher Art kurz über soziale Medien geteilt, und dann wieder vergessen werden. So scheint es sehr leicht, sich mit dem Leid anderer auseinander zu setzen und der Illusion zu verfallen, man wüsste über ihre missliche Lage Bescheid. Dass dies jedoch ein Trugschluss ist, werden all jene bemerken, die sich an die Werke von Émile Zola herantrauen.
Émile Zola (1840-1902) schaffte es vor allem mit seinem weltberühmten Roman „Germinal“, die vertrackte Lage der Unterschicht ohne künstlerische Romantisierung darzustellen. Er zeigt darin, was wahre Armut ist und wie die Menschen damit ihr tägliches Leben bestreiten, wenn sie, nur mit einem Butterbrot und einer Kanne Kaffee im Gepäck, stundenlang härteste körperliche Arbeit in einer Mine verrichten müssen.
Der Roman ist Teil des großen naturalistischen Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“, der ab 1871 veröffentlicht wurde und aus stolzen 20 Bänden besteht. In diesem Zyklus versucht Zola darzustellen, wie sehr die Menschen durch ihre Herkunft, ihren sozialen Stand und durch ihre Genetik bestimmt werden - wie wenige Aufstiegsmöglichkeiten sie in Wahrheit haben.
Der Band „Germinal“ erzählt die Geschichte des Maschinisten Étienne Lantier und dessen Erlebnisse in der Bergbausiedlung des Schachtes Le Voreux. Nachdem er dort bei der Familie Maheu untergekommen ist und zu arbeiten beginnt, stellt er bald fest, unter welch schrecklichen Bedingungen die Arbeiter in der Kohlegrube ihr Geld verdienen. Er ist schockiert von den Zuständen in Le Voreux und beginnt, die Menschen im Ort zu einem Aufstand zu bewegen. Jedoch wird dadurch alles nur noch schlimmer, denn nicht alle beteiligen sich an dem Streik, sodass dieser bloß noch in mehr Lohnkürzungen und Leid für die Arbeiter endet. Die Situation eskaliert, bis sich am Ende sogar das Militär einschaltet. Étienne muss schließlich auf bittere Weise lernen, dass sein Idealismus ihn und seine Mitmenschen um kein Stück weiter gebracht hat.
Der Roman ist wahrlich nichts für schwache Nerven. Auf über 800 Seiten schildert Zola das packende Schicksal der Bergarbeiter von Le Voreux, wobei es den Menschen immer schlechter geht, sodass dem Leser nichts übrig bleibt, als weiterzulesen, in der trügerischen Hoffnung, dass es irgendwann besser wird.
Doch genau darin liegt auch die Stärke des Werks. „Germinal“ zieht einen immer tiefer in eine ausweglose Geschichte, ein Labyrinth aus Einzelschicksalen, in dem das moralische Denken des Lesers immer wieder aufs Neue herausgefordert wird. Denn gemeinsam mit Étienne merkt der Leser langsam, dass die Welt nicht einfach aus Guten und Bösen besteht. Stattdessen sind alle verstrickt in ein kaputtes System, aus dem man nicht einfach durch einen kurzen Streik entfliehen kann. Mit anderen Worten: Nicht die Grubenherren sind schuld, das gesamte gesellschaftliche System muss verändert werden.
Diese wertvolle, übergreifende Erkenntnis lässt sich auch heute nicht durch kurze Internetartikel und dergleichen erlangen. Es sind nach wie vor Romane wie „Germinal“, die uns merken lassen, dass wir nicht an punktuellen Problemen arbeiten müssen, sondern dass unser gesamtes gesellschaftliches System zutiefst fehlerhaft ist. Denn die Schere zwischen Arm und Reich scheint im Zuge der Globalisierung immer größer statt kleiner zu werden.
Folglich können und dürfen Romane wie „Germinal“ nicht in den Hintergrund treten. Für eine kritische Reflektion über Ausbeutung bedarf es mehr als eine schockierende Schlagzeile oder ein kurzes Video auf sozialen Medien zu teilen.
Viele Menschen hatten gute (und manchmal auch nicht ganz so gute) Ideen, wie man das System grundlegend ändern könnte, um bessere Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Sie kennen sicher Karl Marx und das Kapital. Aber wussten Sie, dass Karl Marx einen Schwiegersohn hatte, der eine ganz andere Utopie von der Arbeit entwickelte. Er setzte nicht auf anders, sondern auf weniger arbeiten. Sein Recht auf Faulheit wurde von den 1960ern mit Begeisterung wieder gelesen.
Im Jahr 1880 publizierte der berühmt-berüchtigte Sozialist Paul Lafargue in der Zeitschrift L’Égalité seine Streitschrift Le droit à la paresse, zu Deutsch, Das Recht auf Faulheit. Darin postulierte er, die Arbeiter hätten es selbst in der Hand, ihre Lebensumstände zu verbessern. Schuld an ihrem Elend sei ausschließlich ihre bürgerliche Arbeitsethik. Heutzutage, wo sogar Job-Ausschreibung das Schlagwort „Work-Life-Balance“ thematisieren, fragt man sich, ob die Thesen von Paul Lafargue in den Köpfen der Arbeitnehmer angekommen sind.
Artikeltext:
Wer war Paul Lafargue und wann lebte er?
Paul Lafargue (1842-1911) gehört zu den Berufsrevolutionären des 19. Jahrhunderts, die das Los der arbeitenden Klasse zu ändern versuchten, ohne je selbst körperlich gearbeitet zu haben. Seine Eltern ermöglichten ihm ein Medizinstudium in Paris. Doch Lafargue interessierte sich mehr für den Sozialismus als für Vorlesungen.
Eine leidenschaftliche (und vielleicht unbedachte) Rede während eines Studentenkongresses in Belgien trug ihm auf Lebenszeit die Verbannung von allen französischen Hochschulen ein. So bezahlten die Eltern eben das Studium in London. Dort suchte Lafargue wieder Kontakt zu revolutionären Kreisen. Dabei lernte er u. a. Friedrich Engels, Karl Marx und dessen Tochter Jenny besser kennen. Er heiratete sie, was ihm die großzügige finanzielle Unterstützung von Engels eintrug. So musste Lafargue nie praktizieren, sondern konnte sich unbeschwert von Geldsorgen auf die Agitation konzentrieren.
Sein Buch La droit à la paresse veröffentlichte er 1880 als Beitrag für eine sozialistische Zeitschrift. Es war sein erster eigenständiger Lösungsvorschlag hinsichtlich der Arbeiterfrage. Lafargue überarbeitete den Text während eines Gefängnisaufenthalts im Jahr 1883 und publizierte ihn als Monographie. Wenig später wurde Das Recht auf Faulheit bereits in die deutsche Sprache übersetzt. Dieses unterhaltsam geschriebene Büchlein wurde Paul Lafargues bekanntestes Werk.
Noch höheren Bekanntheitsgrad erlangte der Sozialist übrigens durch sein Ende: Er nahm sich und seiner Frau Jenny in der Nacht vom 25. auf den 26. November 1911 das Leben. Er hinterließ einen Brief, in dem er der Welt mitteilte, dass er sich vorgenommen habe zu sterben, wenn er der sozialistischen Sache nicht mehr von Nutzen sei. Mehr als 15.000 Menschen sollen damals dem Sarg gefolgt sein, darunter auch Lenin.
Die bürgerliche Arbeitsethik
Man kann Paul Lafargues Werk nicht verstehen, ohne sich vorher mit dem bürgerlichen Arbeitsethos zu beschäftigen. Das war im 19. Jahrhundert noch ziemlich neu. Durch die Bankrotterklärung der Standesgesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts, bei der die Geburt den Stand eines Menschen definierte, hatte sich eine neue Gesellschaftsform etabliert, die wesentlich durchlässiger war. Nun spielte das Geld die entscheidende Rolle. Wer auf Grund seiner eigenen Leistung genug Geld verdiente, konnte gesellschaftlich aufsteigen.
Paul Lafargues Eltern sind ein gutes Beispiel dafür, was diese „Leistungsgesellschaft“ ermöglichte: Die Arbeit auf ihrer kubanischen Kaffeeplantage verschaffte ihnen das Geld, um nach Frankreich zu gehen, als wohlhabende Rentiers zu leben und ihrem Sohn eine hervorragende Ausbildung zu finanzieren. Notwendig gewesen war für ihren Erfolg harte Arbeit, Fleiß, Geschick, Durchhaltevermögen und ein hoher Grad an Eigeninitiative, eben die Eigenschaften, die das bürgerliche Arbeitsethos verherrlichte.
Theoretisch stand jedem, der über diese Tugenden verfügte, der Aufstieg offen. Vom Tellerwäscher zum Millionär! Auch wenn dieses Bild erst Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten formuliert wurde, waren die damit verbundenen Möglichkeiten schon im 19. Jahrhundert attraktiv. Deshalb forderten die bürgerlichen Politiker nicht soziale Veränderungen, sondern Chancengleichheit. Sie hielten das für ausreichend, da so scheinbar jeder, der sich dem bürgerlichen Arbeitsethos unterwarf, die Möglichkeit zum Aufstieg hatte.
Die Arbeitssucht
Theoretisch galt diese Möglichkeit auch für Mitglieder der Arbeiterklasse. Praktisch war der Prozentsatz derer, die den Aufstieg schafften, verschwindend klein. Paul Lafargue thematisiert nun in seinem Buch die Gefahren, die eine Verinnerlichung der bürgerlichen Arbeitsmoral für den Fabrikarbeiter mit sich bringt. Er stellt dem Recht auf Arbeit (und Aufstieg) das Recht auf Faulheit gegenüber.
Dabei postuliert Paul Lafargue, dass die ganze Arbeiterschicht von etwas ergriffen sei, das er als Arbeitssucht bezeichnet. Diese Indoktrination sei durch „die Priester, Ökonomen und die Moralisten“ verbreitet worden, die „die Arbeit heiliggesprochen“ hätten. Dadurch sei es den Kapitalisten gelungen, die Arbeiter derart zu verblenden, dass „die Proletarier 1848 mit den Waffen in der Hand“ ihr Recht auf Arbeit „forderten“.
Damit hätten sie sich selbst geschadet. Zu viel Arbeit mache nämlich krank. Er vergleicht die bleichen und gebeugten „Maschinenmenschen“ Englands, der Auvergne und Oberschlesiens mit den „kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusiern“ in Spanien und mit den „stolzen Wilden“, die noch nicht „durch Christentum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpiert“ worden seien.
Er erinnert daran, dass es bei den freien Griechen einst nur den Sklaven „gestattet“ war zu arbeiten, und dass es gerade in den fortschrittlichsten und am meisten industrialisierten Regionen den Arbeitern am schlechtesten gehe.
Überproduktion als Grund der Kolonisation
Mag man auch den ersten Teil von Lafargues Buch für romantisierend und weltfremd halten, ist der zweite Themenkomplex hoch spannend und aktuell. Der Autor konstatiert, dass Überproduktion eine Folge aus der Kombination von unternehmerischer Gewinnsucht und Arbeitssucht der Fabrikarbeiter sei. Mit anderen Worten: Um möglichst viel Gewinn zu erzielen, müsse der Unternehmer möglichst viel produzieren. Dies sei aber nur möglich, weil ein Heer von arbeitssüchtigen Arbeitern bereit stehe.
Überproduktion zieht nicht nur fehlende Absatzmöglichkeiten – und dadurch hervorgerufen finanzielle Probleme für den Unternehmer – nach sich, sondern auch einen Mangel an Rohstoffen. Beides sei, so Lafargue, dafür verantwortlich, dass sich die westlichen Industriestaaten einen Wettlauf um Kolonien liefern würden. In den Kolonien hofften sie, gleichzeitig ihre überflüssigen Produkte zu verkaufen und zusätzliche Rohstoffe zu erwerben.
Lafargue schreibt dazu: „...sie schreien nach Handelskolonien am Kongo, sie verlangen die Eroberung Tongkings, sie zwingen ihre Regierung, die Mauern Chinas zu zertrümmern, nur damit sie ihre Baumwollartikel absetzen können. In den letzten Jahrhunderten kämpften England und Frankreich ein Duell auf Leben und Tod, wer von beiden das ausschließliche Privileg haben werde, in Amerika und Indien zu verkaufen.“
Faulheit als Motor der Innovation
Weil nun die Arbeiter nach Arbeit süchtig sind und dementsprechend günstig arbeiten, hat es der Unternehmer nicht notwendig, die menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Oder anders herum: Nur wo die Arbeit teuer ist, kommt es zu innovativem Denken. Er schreibt: „In Amerika bemächtigt sich die Maschine aller Zweige der Ackerbauproduktion, von der Butterfabrikation bis zum Getreidejäten. Warum? Weil die Amerikaner, frei und faul, lieber tausend Tode sterben, als das Viehleben eines französischen Bauern zu führen. Die im glorreichen Frankreich so mühsame, mit so vielem Bücken verbundene Arbeit ist im Westen Amerikas ein angenehmer Zeitvertreib in freier Luft, den man sitzend genießt und dabei gemütlich seine Pfeife raucht.“
Dieses faule Leben will Lafargue für alle Arbeiter. Die durch die Maschine gewonnene Zeit soll deshalb nicht genutzt werden, um noch mehr überflüssige Produkte herzustellen, sondern um dem Arbeiter mehr Freizeit zu schenken. Er schreibt: „Wenn denn ... die von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge notwendigerweise durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber gleichmäßig auf die 12 Monate verteilen und jeden Arbeiter zwingen, sich das Jahr über täglich mit fünf oder sechs Stunden zu begnügen, anstatt sich während sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben.“
Und damit leitet Lafargue über zu seiner Utopie einer großartigen Zukunft, in der die Menschen weniger arbeiten und in Eintracht das von ihnen Produzierte verzehren.
Der Denkfehler
Eigentlich scheinen die Ideen von Paul Lafargue auf den ersten Blick bestechend. Nur noch das produzieren, was die Welt wirklich braucht, das Produzierte gerecht verteilen und in Frieden und Freude gemeinsam verzehren. So müsste das Paradies auf Erden aussehen.
Das Problem dabei ist, dass die Bewohner dieses irdischen Paradieses keine Engel sind, sondern Menschen, denen ihr eigenes Wohlergehen am wichtigsten ist. Denken wir an den nationalen Egoismus. Wir erleben gerade wieder, wie unwillig selbst die Bürger der wohlhabendsten Nationen reagieren, wenn sie ihren Reichtum mit einigen wenigen anderen teilen sollen.
Man stelle sich vor, eine Weltregierung würde die westlichen Nationen dazu zwingen, ihren Überfluss mit den Bewohnern des globalen Südens zu teilen. Wir könnten nicht mehr reisen, müssten auf das Auto verzichten, und in der Freizeit würden wir Bibliotheksbücher lesen statt shoppen zu gehen. So eine Umverteilung wäre einvernehmlich nicht durchführbar, und zwar selbst wenn alle Menschen auf der Welt danach genau gleich viel Arbeit mit genau gleich viel Output leisten würden.
Denn da stehen wir vor dem nächsten Problem: Arbeit ist in unserer Welt nicht gleichmäßig verteilt. Und anders als Lafargue postulierte, geht es nicht denen schlecht, die in hochindustrialisierten Ländern leben, sondern im Gegenteil. Daran ändert sich seit Generationen nichts, und das obwohl unsere Ministerien für Entwicklungshilfe mit Hochdruck daran arbeiten, diese Situation zu verbessern.
Deshalb wirken Paul Lafargues idealistische Ideen sehr, sehr weltfremd. Sie erinnern mich ein wenig an das Perpetuum Mobile, das theoretisch durchaus funktionieren sollte - in einer perfekten Welt ohne Reibung. Aber weil es diese perfekte Welt nicht gibt, sind Lafargues Überlegungen für den Alltag genauso unbrauchbar wie das Perpetuum Mobile.
Was hat Paul Lafargue mit unserer Work-Life-Balance zu tun?
Aber, so könnte man widersprechen, wollen wir nicht die wunderbaren Ideen von Lafargue wenigstens für unsere eigenen Länder übernehmen? In Deutschland, der Schweiz, in Frankreich und vielen anderen Nationen Europas sollte es doch möglich sein, dass alle weniger arbeiten!
Nun, das tun wir doch schon. Wir leben in einer Welt, in der es selbstverständlich geworden ist, sich die Arbeit auszusuchen. Natürlich nicht irgendwelche Schwerarbeit: Für die Müllabfuhr und den Schlachthof holen wir uns unsere Ausländer ins eigene Land. Alles andere ist wir ausgelagert. Unsere Billig-T-Shirts werden in Billig-Lohnländern produziert. Wie unsere Nahrungsmittel hergestellt werden, wollen wir eigentlich gar nicht so genau wissen. Hin und wieder entrüsten wir uns über Blutdiamanten und Kinderarbeit und vergessen sofort, wer unseren Elektroschrott recycelt.
Eigentlich hatte Lafargue dafür exakt das richtige Bild: Wie die freien Griechen sich ihre politische Teilhabe nur deshalb leisten konnten, weil Sklaven für sie die Arbeit taten, leben wir im Luxus, weil unsere Sklaven im globalen Süden nicht das Glück hatten, in unserer Leistungsgesellschaft mit Aufstiegsmöglichkeiten zu leben.
Denn eines hat Lafargue natürlich nicht ahnen können: Dass die industrielle Revolution den Wohlstand der westlichen Welt so sehr heben würde, dass heute ein Arbeiter besser lebt als im 19. Jahrhundert ein wohlhabender Bürger.
Zur Nachwirkung von Paul Lafargues Recht auf Faulheit
Übrigens, es ist durchaus spannend, dass gerade der real existierende Sozialismus so gar nichts mit Lafargues Recht auf Faulheit anfangen konnte. In der UdSSR und der DDR waren seine Werke zwar nicht verboten, wurden aber auch nicht gedruckt oder übersetzt. Überraschend bei einem Schwiegersohn von Karl Marx, der zu seiner Zeit ein so bekannter Sozialist war.
Größere Aufmerksamkeit fanden Lafargues Thesen erst, als sich die Jugend der 1968er Jahre aufmachte, mit Blumen im Haar nach San Francisco zu ziehen, während ihre Eltern für sie die Brötchen verdienten.
Überleitung
Etwas später entwickelte William Morris seine Vorstellungen vom sinnhaften Arbeiten. Seine zentrale These war es, dass Arbeit Spaß machen soll. Das war Ende des 19. Jahrhunderts neu. Generationen glaubten an die biblische Vorstellung, dass Arbeit die Strafe der Menschen für den Sündenfall sei. Wie es bei 1 Mose 3,19 heißt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Heute sehen wir das in Westeuropa anders. Ein unglaublicher Luxus, der für William Morris noch Utopie war.
Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf und die Welt ist anders. Die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Die Straßen sind blitzeblank, das Wasser des Stadtflusses glasklar. Die Menschen sehen gut aus, sind gut gelaunt und grüßen freundlich. Sie fahren kostenlos mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie gehen in ein Geschäft und suchen sich aus, was Ihr Herz begehrt, ohne dafür zu bezahlen. Sie wählen frei, wann, was und wie viel Sie arbeiten möchten. Einen Tag backen Sie Brot. Sie arbeiten gerne mit den Händen, Sie schätzen gutes Essen und der Duft, wenn das frischgebackene Brot aus dem Ofen kommt – herrlich! Und Ihre Familie freut sich sowieso. Am nächsten Tag helfen Sie in der Fahrradwerkstatt um die Ecke aus. Sie basteln gerne, haben ein ruhiges Händchen und ein gutes mechanisches Verständnis. Sie flicken Schläuche, erneuern Bremsen und tauschen Glühbirnen aus. Am Ende des Tages haben Sie einem Haufen Menschen geholfen, die jetzt wieder Fahrrad fahren können. Sie sind glücklich und gehen zufrieden ins Bett.
Klingt nicht schlecht, oder? Eine Welt, die ökologisch nachhaltig ist, in der Sie sich keine Sorgen um Geld oder Ihren Arbeitsplatz machen müssen und nur arbeiten, worauf Sie Lust haben. Eine solche Welt imaginiert William Morris in seinem Buch Nachrichten von Nirgendwo (1890). Der englische Künstler, Buchdrucker und Textildesigner zeichnet hier einen krassen Gegenentwurf zu seiner Zeit. Denn was er in den Großstädten Englands im 19. Jahrhundert beobachtet, gefällt ihm überhaupt nicht. Die Städte ersticken unter Smog, die Häuser sind rußgeschwärzt, die Kamine der Fabriken dominieren das Stadtbild. Viele Arbeiter verelenden, sind heruntergehungert, leben in katastrophalen sanitären Bedingungen.
Das Problem liegt für ihn im Kapitalismus. Diese Gesellschaftsordnung lässt zu, dass bestimmte Teile der Bevölkerung in Elend leben, benötigt riesige Fabriken, die die Umwelt verschmutzen, und produziert in Massen qualitativ minderwertige Produkte. Darüber lässt sich durchaus streiten, aber Morris ist nun einmal überzeugter Sozialist und das Buch keine Pro- und Contra-Diskussion über die kapitalistische Produktionsweise, sondern eine sozialistische Utopie. Wie also sieht diese aus?
In mancher Hinsicht war Morris’ Denken überaus fortschrittlich. Nachrichten von Nirgendwo wird manchmal als erste „Ökotopie“ gehandelt, eine Utopie also die sich auch oder vor allem eine ökologisch bessere Welt vorstellt. Besonders interessant ist er als Vorreiter der modernen Städteentwicklung. Denn er ist nicht grundsätzlich gegen urbane Räume, genauso wenig wie er grundsätzlich gegen maschinellen oder technologischen Fortschritt ist. Er findet lediglich, dass die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts – Stadtflucht, Überbevölkerung in den Städten und die Verdrängung der Natur aus den Städten – korrigiert werden sollen. Er plädiert dafür, das Beste aus Stadt und Land zu kombinieren. Die Stadt solle Teil vom Land werden und das Land Teil der Stadt. Städte mit ausreichend Grünflächen, sauberer Luft und Wasser. Ländliche Gegenden, die infrastrukturell gut angebunden und technologisch genauso fortschrittlich sind wie die Städte. Nichts anderes versucht man heutzutage im „urban development“ umzusetzen. Auf Häuserdächern in Innenstädten wachsen neuerdings Bäume und der Netzausbau auf dem Land – nun ja, er ist immerhin geplant…
In anderen Aspekten ist die sozialistische Utopie hingegen ausgesprochen fortschrittshemmend. Die Welt, in die sich der Protagonist William Guest über Nacht transportiert findet, ähnelt eher einer pastoralen Idylle mit Mittelaltereinschlag als irgendeinem futuristischen Szenario – und das, obwohl wir uns im Jahre 2102 befinden. Im 22. Jahrhundert gibt es keine Flugzeuge, kein Internet und schon gar keine KI-Roboter. Denn bei aller berechtigten Kritik am Kapitalismus hat er eines doch geschafft: Dass viele Waren mit der Zeit immer günstiger wurden und der materielle Wohlstand in vielen Teilen der Welt kontinuierlich stieg. In den 1920er Jahren konnten sich nur wenige Wohlhabende ein Auto leisten, einige Jahrzehnte später fast jeder im Land. Diese Art von Fortschritt gibt es hier nicht. Stattdessen wird im Nirgendwo immer noch viel handwerklich und händisch gearbeitet. Guest hilft bei der Heuernte, schlendert über den Wochenmarkt, auf dem regionale Agrarprodukte angeboten werden, oder bewundert Holzschnitzer bei der künstlerischen Veredelung eines Hausfrieses.
Das liegt vor allem an Morris tiefer Liebe für das Mittelalter, die er während seines Studiums für sich entdeckte. Ob gotische Architektur, Buntglasfenster, Schmiedewerk oder Initialen-verzierte Manuskripte, Morris begeisterte sich für all diese Formen der Handwerkskunst. Vor allem gefiel ihm, dass hier das Nützliche und das Schöne zusammentrafen. Gegenstände herzustellen, die sowohl funktional als auch schön waren, wurde zur Leitidee seines Lebens. 1861 gründete er Morris & Company, eine Kunstgewerbefirma, die Möbel, Metallarbeiten, Teppiche, Tapeten, Buntglas und Wandgemälde fertigte. 1891 gründete er die Kelmscott Press, eine Privatdruckerei, die in limitierten Auflagen und mit erheblichem Aufwand Bücher druckte, die sich stilistisch an mittelalterlichen Bilderhandschriften orientierte. Mit seiner Forderung, Handwerk zu Kunst zu erheben, beziehungsweise die Trennung zwischen Handwerk und Kunstwerk aufzuheben, wurde Morris zu einem wichtigen Vorläufer des Bauhaus. Mit seiner Forderung nach dem schönen Buch beeinflusste er die Buchkultur nachhaltig und war maßgeblich für das Aufkommen der Buchkunstbewegung in England verantwortlich.
Diese ästhetische Vision ist wahrscheinlich der reizvollste Aspekt an Morris’ Roman. Denn dem Wunsch, dass eine Gesellschaft lediglich Dinge produziert, die qualitativ hochwertig, mit Sorgfalt hergestellt, nützlich und zudem noch wunderschön sind, kann man schwerlich widersprechen. Keinen billigen Ramsch mehr! Keine Massenware, die in Windeseile produziert wird und genauso schnell wieder kaputt geht. (Diesen Wunsch haben übrigens Marken wie manufactum längst verstanden und zu einem einträglichen Geschäftsmodell gemacht.) Die Vision bezieht sich aber nicht nur auf die Gegenstände, die hergestellt werden, sondern – und das ist besonders wichtig – auf die Qualität der Arbeit.
Denn die Frage nach der Arbeit ist ein Knackpunkt in jeder sozialistischen Theorie. Die Kritik sagt: Es würde doch niemand mehr arbeiten gehen, wenn er nicht müsste! Darauf gibt es verschiedene Antworten. Der Amerikaner Edgar Bellamy, der kurz vor Morris ebenfalls eine erfolgreiche sozialistische Utopie veröffentlicht, sieht Arbeit als notwendiges Übel und die Lösung darin, ihre Quantität so viel wie möglich zu reduzieren. Nicht so Morris. Seine Philosophie ist optimistischer. Arbeit ist für ihn nicht nur etwas, das wir tun müssen, um zu leben, sondern ein Geschenk. Denn, so Morris, Arbeit kann Spaß machen und der Mensch kann Freude an seiner Arbeit finden – wenn man einige Dinge beachtet. Man sollte Arbeiten wählen, die den eigenen Fähigkeiten und Talenten entsprechen. Man sollte die Anzahl der Arbeitszeit auf ein angenehmes Maß reduzieren. Dann könne man auf jeden Fall Freude empfinden, sowohl während des Arbeitsvorgangs als auch am fertigen Produkt. Diese Philosophie der Arbeit ist überzeugend, ein Ideal nach dem zu streben sich lohnt. (Fußnote: Auch Morris gibt zu, dass manche Arbeiten niemals schön oder angenehm sein werden. Diese – monotonen, körperlich stark belastenden oder anderweitig widerstrebsamen – Tätigkeiten wie etwa Straßenreinigung oder Toilettenputzen sollen idealerweise weitestgehend von Maschinen übernommen werden.)
In dieser oftmals gelungenen Zeichnung einer schönen neuen Welt gibt es aber auch weniger schöne Flecken. Aus heutiger Perspektive wirkt zum Beispiel die Tatsache, dass alle Bewohner dieses Nirgendwo ausgesprochen gut und gesund aussehen, etwas gruselig. Einerseits stimmt es natürlich, dass physische Gesundheit und damit auch Erscheinung eines Menschen stark von seinen Lebensbedingungen abhängen. Die ausgemergelten, unterernährten und mit Kohlestaub geschwärzten Arbeiter, die Morris womöglich im Kopf hatte, waren wohl kein schöner Anblick. Darüber hinaus aber suggeriert der Text, dass sich der moralische Charakter eines Menschen in seiner Physiognomie spiegelt. Diese Vorstellung wurde im 18. Jahrhundert durch die Schriften Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe des Schweizers Johann Caspar Lavatar populär und im 20. Jahrhundert auf grausamste Weise für die Rassentheorie der Nationalsozialisten missbraucht.
Einen regelrechten Aussetzer scheint der Autor diesbezüglich gehabt zu haben, als er eine Figur ohne erkennbare ironische oder kritische Distanz Folgendes erzählen lässt: „Ehedem sollen viele mit einem ‘Faulheit’ genannten Erbübel behaftet gewesen sein, weil sie in grader Linie von Leuten abstammten, die in der bösen alten Zeit gewohnt gewesen waren, andere für sich arbeiten zu lassen--von jenen Leuten, die man in den Geschichtsbüchern Sklavenhalter oder Arbeitgeber nennt. Diese faulheitbehafteten Leute nun füllten zu Anfang unserer Epoche ihre ganze Zeit damit aus, in den Läde zu bedienen, da sie zu anderen Dingen kein Geschick hatten. Und ich glaube sogar, daß man sie eine Zeitlang tatsächlich zwang, irgendwelche Arbeit zu verrichten, weil sie und die Frauen sonst zu häßlich wurden und zu häßliche Kinder bekamen, so daß die Nachbarn es nicht länger mitansehen konnten. Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei.“ Man sollte dagegen halten: Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen man solche abstrusen Beziehungen zwischen dem Aussehen und dem Inneren einer Person behaupten und dafür von einem Menschen mit Verstand ernst genommen werden kann. Hoffentlich!
Während manche Stellen in diesem Mittelalteridyll ideologisch hässlich sind, bleiben andere ganz leer. Zum Beispiel können die Nachrichten von Nirgendwo nicht umfassend erklären, wie die Gesellschaft wirtschaftlich und politisch genau funktionieren soll. Es gibt zwar einen längeren Teil in der Mitte des Buchs, in dem William Guest anhand eines für Utopien typischen Fragenkatalogs einen Bewohner diese neuartigen Landes über dessen Gepflogenheiten befragt, die Antworten sind jedoch oft lückenhaft. Das ist schade, denn die Fragen sind wahnsinnig spannend! Wie funktioniert eine Gesellschaft ohne Geld? Kommt es wirklich nie zu Hungersnöten oder Mangelerscheinungen? Gibt es keine Streitigkeiten, wenn plötzlich viel weniger für alle da ist, und einer findet, er habe doch mehr verdient als der andere?
In Morris’ Utopie sind die Menschen furchtbar vernünftig, bescheiden und am Gemeinwohl orientiert, manchmal in geradezu lächerlichem Ausmaß. Das ist doch unrealistisch!, protestiert da lautstark eine innere Stimme. Worauf eine andere antwortet: Genau, es ist ja auch eine Utopie. Ein schöner, guter, idealer Ort und gleichzeitig ein Nicht-Ort. Einer, der nur so schön und so gut sein kann, weil er nicht existiert. Für Nachrichten von Nirgendwo wählt Morris bewusst das Format einer Romanze und nicht das eines politischen Manifests, einer Abhandlung oder eines Essays. Morris hatte seine politischen Gedanken bereits in all diesen Medien geäußert, die Socialist League gegründet, im Commonweal, der Zeitschrift des Verbands, veröffentlicht und zahlreiche Vorträge gehalten. Aber Morris war überzeugt: Es reicht nicht, mit dem Verstand zu begreifen, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Man muss es fühlen. Und genau das will dieses Buch vermitteln: Das Lebensgefühl einer schöneren Welt.
Und immer noch sind wir nicht zufrieden. Trotz Lohnfortzahlung, Urlaubsgeld und Rente klagen wir über den Stress. Die wenigsten von uns machen sich klar, dass es häufig nicht der Arbeitgeber ist, der den Stress verursacht, sondern unsere eigenen Ansprüche an uns selbst und unseren Lebensstandard. Das stellte Michael Ende in Momo schon in den 1970er Jahren in Frage.
Artikeltext:
Sie können sich sicher sein, ich habe viele Werke der Weltliteratur gelesen, und doch, wenn ich das für mich wichtigste Buch nennen soll, dann komme ich auf ein Kinderbuch zurück, auf das Buch Momo von Michael Ende.
Der Untertitel dieses in den 1980er Jahren äußerst erfolgreichen Werks heißt "Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte". Und das ist eigentlich auch schon der Inhalt des Buchs. Es geht um ein kleines Mädchen namens Momo, das eine Meisterin darin ist, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, und zwar gerade nicht im Sinne der Selbstoptimierung. Und dieses Mädchen nimmt auf einmal wahr, dass die Welt der Erwachsenen bedroht ist durch deren perversen Umgang mit der Zeit: Schuld daran sind die grauen Herren mit ihren grauen Aktentaschen und ihren eleganten grauen Autos. Sie flüstern ihren Opfern ein, dass Zeit Geld ist. Deshalb muss man sie auf die Zeitsparkasse tragen. Wichtig ist nicht, eine Arbeit mit Liebe zu tun, sondern sie schnell zu erledigen. Die grauen Agenten der Zeitsparkasse sind sehr erfolgreich. Immer mehr Erwachsene werden zu Zeitsparern. Auf der Strecke bleibt die Freude am (zeitraubenden) Miteinander, am (zeitaufwändigen) füreinander Dasein, kurz die innere Zufriedenheit.
Natürlich rettet Momo die Welt, und die Geschichte geht gut aus.
Kinder brauchen eben Märchen. Aber auch als Erwachsene bin ich beeindruckt, von den Bildern, mit denen Michael Ende arbeitet. So zum Beispiel, wenn die grauen Herren ihren potentiellen Kunden vorrechnen, warum man Zeit sparen müsse: Diese Vorstellung, dass man das Leben im hier und jetzt zur lustlosen Arbeitshölle macht, um ein Zeitkonto zu füllen, das einem irgendwann zur Verfügung steht. Kenne ich das nicht auch, wenn ich mich der Hoffnung hingebe, ich müsse nur hart genug arbeiten, um irgendwann alle Arbeit bewältigt zu haben?
Oder wenn Momo dorthin geht, wo die Zeit herkommt, und beobachtet, dass jede Stunde ihres Lebens eine wunderschöne Blume ist, die genau eine Stunde blüht und einmalig und unwiederbringlich ist.
Momo ist deshalb ein wichtiges Buch, weil es uns zeigt, dass der heute gesellschaftlich so akzeptierte Umgang mit der Zeit nicht alternativlos ist. Michael Ende präsentiert seine Botschaft mit so einfachen Worten, dass niemand behaupten kann, er habe sie nicht verstanden.
Obwohl Momo ein Kinderbuch ist, sollte es Pflichtlektüre sein für alle unter Stress leidenden Erwachsenen.
Wenn wir es also selbst wieder einmal nicht schaffen, bei der Arbeit zwischen wichtig und dringend zu unterscheiden, dann braucht es einen aufmerksamen Vorgesetzten, der uns die Prioritäten vorgibt. Welche entscheidende Rolle so ein Vorgesetzter für das Wohlergehen ganzer Familie trägt, dafür ist wohl die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens das beste Beispiel.
Oh Du Fröhliche Weihnachtszeit: Charles Dickens Weihnachtserzählungen
Charles Dickens gehört noch heute zu den beliebtesten Autoren der englisch sprachigen Welt. Das liegt an seinen wunderbaren Charakteren. Sie geben dem Leser die Illusion, durch die Identifikation mit den liebenswürdigen Armen auf der richtigen, der guten Seite zu stehen. Charles Dickens ist Wohlfühlliteratur vom Feinsten, gerade in der Weihnachtszeit.
Es ist rund ein halbes Jahrhundert her, dass meine Mutter und ich in der Münchner Fußgängerzone unsere Weihnachtseinkäufe machten. Aber ich erinnere mich gut, dass sie an keinem der unzähligen Bettler vorbei gehen konnte, ohne ihm wenigstens 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Diese Gewohnheit hatte sie von ihrem Vater. Er war 1901 geboren und damit viel zu jung, um während des Ersten Weltkriegs an die Front geschickt zu werden. Diese Tatsache erfüllte ihn mit Dankbarkeit und einem schlechten Gewissen. Er lehrte meine Mutter, all den unglücklichen Kriegsversehrten, die nach dem Ersten Weltkrieg in den Straßen bettelten, wenigstens eine Kleinigkeit zu geben.
Jahrelang folgte ich brav und ein wenig ängstlich, wenn meine Mutter mich schickte, um dem Bettler seine 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Und dann kam die Pubertät. Ich machte mir so meine eigenen Gedanken und fühlte mich bald weit erhaben über solch nutzlose Symptombekämpfung! Ich diskutierte stattdessen in politischen Arbeitskreisen bei Cola und Salzstangen darüber, wie wir die Bauern in Nicaragua unterstützen und die Hungersnot in Äthiopien mildern könnten.
Weder die 20 Pfennig meiner Mutter, noch meine leeren Worte haben irgendwas gegen das Elend der Welt ausgerichtet. Aber sowohl sie als auch ich haben uns dabei als etwas bessere Menschen gefühlt. Und genau diese Sehnsucht nutzen heute unzählige NGOs für ihre Spendenkampagnen, nutzte vor rund anderthalb Jahrhunderten Charles Dickens, um seine Weihnachtsgeschichten zu verkaufen.
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Das Geschäftsmodell von Charles Dickens
Charles Dickens war nämlich nicht nur ein Autor; er war auch ein hervorragender Geschäftsmann, für den Geld eine entscheidende Rolle spielte. Das lag in seiner Kindheit begründet. Er stammte aus einer bürgerlichen Familie, doch die Sorglosigkeit seines Vaters in Gelddingen brachte die ganze Familie ins Schuldgefängnis und lastete dem 12-jährigen Charles die Verantwortung auf, zum Familienunterhalt beizutragen. Er musste die Schule verlassen, um in einer Fabrik für sechs Shilling die Woche Etiketten auf Schuhpolitur zu kleben. Nur eine glückliche Erbschaft verhütete es, dass der kleine Bub aus der Schicht der Bürger in die der Arbeiter abrutschte. Durch die Erbschaft kam der Vater aus dem Schuldgefängnis frei, Charles wurde wieder in die Schule geschickt und vergaß sein Leben lang nie mehr, dass nur ein geregeltes Einkommen soziale Sicherheit bietet.
Und genau dieses geregelte Einkommen war selbst für einen erfolgreichen Schriftsteller nicht ganz einfach zu erzielen, vor allem wenn er wie Charles Dickens einen großen Haushalt mit Frau und zehn Kindern sowie eine Schar armer Verwandter zu versorgen hatte. Deshalb erfand der Erfolgsautor eine völlig neue Form des Publizierens. Statt einen Roman erst zu schreiben, um ihn dann zu veröffentlichen, publizierte Charles Dickens in Teilen. Er ließ die einzelnen Teile in Zeitschriften drucken oder auf eigene Kosten billige Broschüren drucken, die für wenige Pence auch der einfachste Bürger kaufen konnte. Danach erst erschien das fertig gebundene Buch, das eher die reicheren Bürger erwarben.
Diese Form des Schreibens Dickens zusätzlich die Möglichkeit, Einblick in das Kaufverhalten seiner Leser zu gewinnen. Welche Geschichten liefen besonders gut? Welche verkauften sich schlecht, brauchten also noch einen zusätzlichen emotionalen Spin in der Handlung? Dickens lieferte, was seine Leser wünschten.
Wovon man zu Weihnachten träumen will
Und er kannte diese Leser genau. Er wusste, dass eine ordentliche bürgerliche Familie an den langen, kalten Winterabenden vereint im Salon saß und versuchte, sich die gepflegte Langeweile irgendwie gemeinsam zu vertreiben. Eine Geschichte vorzulesen, war da ein wunderbarer Zeitvertreib. Und so erschien A Christmas Carol punktgenau zu Weihnachten 1843.
Die Geschichte war so konzipiert, dass man zwischen den einzelnen Kapiteln Lunch und Tee einnehmen konnte. Sie war familienfreundlich und ihr Inhalt verärgerte nicht einmal die sittenstrengste Tante, die das Weihnachtsfest vom Land in die Stadt getrieben hatte. Der Plot war passend in die Weihnachtszeit eingebettet und stellte mit einer Variante zum reuigen Sünder ein anrührendes Thema dar, das jeden Leser überzeugte, dass die Welt letztendlich doch nicht ganz schlecht ist.
Denn die Protagonisten von A Christmas Carol kannten die Leser nur zu gut aus ihrem eigenen Alltag: Den gnadenlosen Menschenhasser Scrooge, für den zu Beginn der Geschichte nur sein Einkommen zählt, den armen, aber loyalen Sekretär Fezziwig, der trotz redlicher Arbeit nicht genug Lohn erhält, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu bestreiten. Seinen kleinen Sohn Tiny Tim, der eine Krankheit hat, die unbehandelt tödlich endet, aber mit nur etwas Geld besiegt werden kann. Da sind die wohlmeinenden Bürger, die in der Vorweihnachtszeit von Haus zu Haus ziehen, um für die Armen milde Gaben zu sammeln. Und da ist dieser so freundliche Neffe, der seinen einsamen und ziemlich unleidlichen Onkel zur heimatlichen Weihnachtsfeier einladen will.
Ach, was ist diese Geschichte doch für ein wunderbarer Balsam auf die wunde Seele! Die Armen sind geduldig und ertragen ihr Schicksal Gott ergeben. Ausbeuter Scrooge ist gar nicht so schlimm und sieht sofort seine Fehler ein, als man sie ihm eindringlich vor Augen stellt. Mit anderen Worten: Die Welt ist gut, exakt das, was man zu Weihnachten hören möchte. Am Ende sind alle glücklich und rufen lauthals durcheinander Fröhliche Weihnachtszeit!
Dickens Weihnachtsgeschichten: Ein finanzielles Erfolgsmodell
A Christmas Carol kam an. Es wurde ein einzigartiger finanzieller Erfolg. Bereits vor dem Weihnachtsfest 1843 waren 6.000 Exemplare davon verkauft! Und damit war die Nachfrage noch lange nicht befriedigt. A Christmas Carol wurde zu einem Longseller, der unsere Vorstellungen von Weihnachten nachhaltig beeinflusst hat.
So gab Dickens auch im folgenden Jahr eine Weihnachtsgeschichte heraus. Sie hieß Chimes – Die Glocken von London und war so traurig, dass die Leser sie nicht mochten – und nicht kauften.
Und das bedeutete für Dickens, dass seine nächste Weihnachtsgeschichte Das Heimchen am Herd wieder all das bieten musste, was man schon aus A Christmas Carol kannte: Eine entzückende arme Kranke, die ihr Leid geduldig erträgt. Einen reuigen Sünder und lauter wohlmeinende Leute, die den Geist der Nächstenliebe um sich herum verbreiten. Das traf ins Schwarze. Das Heimchen am Herd verkaufte sich nicht nur wie die sprichwörtlichen warmen Wecken, sondern siebzehn verschiedene Londoner Theater adaptierten es für die Bühne – und zwar innerhalb eines Monats nach Erscheinen des Buchs!
Auch wenn Dickens noch mehrere Weihnachtsgeschichten passend zum Datum ablieferte, kamen sie weder literarisch noch finanziell an A Christmas Carol und Das Heimchen am Herd heran. So wurden die beiden Geschichten immer wieder aufgelegt, und als Charles Dickens öffentliche Lesungen als einträgliche Geldquelle entdeckte, wurde A Christmas Carol sein Renommierstück.
Realität oder Märchen: An Weihnachten erlauben wir uns zu träumen
Natürlich weiß jeder Leser von A Christmas Carol, dass es sich dabei um ein Märchen handelt! Und trotzdem ist die Vorstellung, dass die Welt besser werden kann, zu schön, um sie aufzugeben. Besonders an Weihnachten träumen sogar eingefleischte Atheisten davon, dass Aschenputtel den Prinzen heiratet, der kleine Lord die Lebensumstände einer Grafschaft verbessert und Ebenezer Scrooge vom Ausbeuter zum Wohltäter wird.
Wir brauchen Geschichten wie diese, um angesichts der Realität nicht zu verzweifeln. Wir brauchen diese Geschichten genauso wie wir die kleinen Gesten der Mildtätigkeit brauchen: Die Gabe an den Bettler und das Reden darüber, wie man die Welt verbessern könnte. Aber wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Geschichten, kleine Gaben und wohlmeinende Reden nur uns selbst helfen, uns besser zu fühlen. Die Welt verändern, erfordert ein wenig mehr Anstrengungen.
Also, ganz egal ob Sie Chef oder Chefin, geschätzter Kollege oder geschätzte Kollegin sind, denken Sie daran, dass Sie selbst etwas an Ihren Arbeitsbedingungen ändern können. Und wenn es nur ein paar freundliche Worte, eine paar aufmerksame Gesten sind, durch die Sie das Arbeitsklima verbessern.