Stellen wir uns die bäuerliche Welt des 18. Jahrhunderts vor. Das Leben im kleinen Dorf ist geprägt von den täglichen Verrichtungen. Pflügen, säen, ernten, die Winterruhe, dazwischen die kirchlichen Feste - je nach Gegend katholisch oder protestantisch. Und das ist es dann. Nur ein relativ kleiner Teil der dörflichen Bevölkerung kann lesen. Eine Zeitung leistet sich niemand, und Besuch aus der großen weiten Welt gibt es kaum.
In dieser Gesellschaft hatten die von der modernen Forschung so genannten „Volkskalender“ großen Erfolg. Sie waren zwar auch ein Kalender, hatten aber noch viele weitere Funktionen.
Artikeltext:
Heiliger, Mondphase, Aderlass
Stellen wir uns eine Welt ohne die Tagesschau vor, ohne den täglichen Wetterbericht, und das obwohl die Menschen damals in weit höherem Maß vom Wetter abhängig waren, als wir das heute sind. In dieser Welt war der Kalender von entscheidender Bedeutung. Man konsultierte ihn regelmäßig. Deshalb hing er in der Schweiz gerne in einem eigens für ihn angefertigten Rahmen an der Wand der guten Stube. Wie häufig diese Kalender zur Hand genommen wurden, sieht man daran, wie zerlesen sie sind.
So ein Kalender teilte dem Bauern nicht nur mit, welches Datum man heute schrieb, und ob es sich um einen Kirch- oder Arbeitstag handelte. Er erfuhr auch, für welche Tätigkeiten sich der Tag besonders gut eignete. War es gut, an diesem Tag den Acker zu bestellen, das Holz zu fällen, die Haare abzuschneiden? War der Tag mehr oder weniger gut geeignet, um zur Ader zu lassen? Wenn mancher Gärtner heute darauf besteht, dass er mit dem Mondkalender ganz besonders gute Gartenergebnisse erzielt, dann greift er auf ein Mittel zurück, das der bäuerliche Bevölkerung des 18. Jahrhunderts als Hilfsmittel diente, weil sie eben keine anderen hatte.
Für alle, die sich kein teures personalisiertes Horoskop leisten konnten, gab es im Volkskalender das Sternzeichen mit dem Aszendenten des Tages zum Sondertarif. Dazu ersetzten die Bauernregeln den Wetterbericht und eine Liste informierte über die wichtigsten Märkte des Monats.
Ein Blick in die Welt - aber bitte in einfacher Sprache
Das war die Basisversion, die der Hausierer für 2 1/2 Kreuzer an der Tür verkaufte. Für 5 Kreuzer gab es den großen Kalender, in dem sich alles fand, was wir heute in einer Boulevardzeitschrift erwarten würden - nur halt nicht einmal pro Tag, sondern einmal pro Jahr. 5 Kreuzer waren nicht viel in einer Welt, in der selbst eine Wäscherin 12 1/2 Kreuzer, ein Schneider 30 Kreuzer am Tag verdiente. Deshalb waren Publikationen wie der Appenzeller Kalender so weit verbreitet.
Die Nachrichten stammten - wie noch heute in jeder guten Zeitung - aus der näheren Umgebung und dem Rest der Welt. Schauen wir uns doch an, was die beiden im MoneyMuseum liegenden Kalender zu bieten haben. Da gibt es für die nähere Umgebung einen Nachruf auf den verstorbenen Abt von St. Gallen, dazu die Namen all derer, die im Alter von über 90 Jahren verstorben sind, sowie eine Statistik der Geburten, der Sterbefälle und der Heiraten.
Die Nachrichten aus aller Welt werden der politischen Geographie nach geordnet. Dabei gilt die alte Regel: Umso näher, umso ausführlicher ist der Bericht.
Wir freuen uns natürlich, wenn wir in diesen Kalendern auf Ereignisse stoßen, die wir aus unserem Geschichtsunterricht kennen: So zeigt der Appenzeller Kalender von 1797 ein Porträt des jungen Napoleon Bonaparte, der gerade Italien aufmischte. Der Kalender von 1793 vermerkt die spektakuläre Ermordung des schwedischen Königs Gustavs III., räumt ihr aber wesentlich weniger Raum ein, als dem Tod von Kaiser Leopold II. Die benachbarten Habsburger waren den Appenzellern eben näher als die Schweden im hohen Norden.
Alle Texte sind in einfacher Sprache gehalten. Sie wollen belehren, aber ohne Überheblichkeit. Sie greifen Themen auf, von denen auch ein Bauer etwas gehört haben konnte, so zum Beispiel die Ostindische Handelskompanie, die ganz Europa mit den neuen Kolonialwaren versorgte, die auch ein Bauer für viel Geld auf den Jahrmärkten vielleicht nicht kaufen, aber doch wenigstens sehen konnte.
Auf der Seite einer bäuerlichen Bevölkerung
Volkskalender wie der Appenzeller Kalender kennen ihr Klientel und bedienen seine Bedürfnisse. Wer kam denn da noch mit, wenn der reiche Nachbar, bei dem man einen Kredit für eine Woche haben wollte, die Zinsen berechnete? Der Appenzeller Kalender machte es dem Zinsnehmer leicht zu überprüfen, ob der ihm vorgeschlagene Vertrag sich an den von der katholischen Kirche festgesetzten und als angemessen betrachteten Zinssatz in Höhe von 5 % hielt. Auch die Tabelle zum Multiplizieren war äußerst nützlich. Mit ihr konnte man diese schwierige Rechenform beherrschen - und das ohne Taschenrechner und höhere Schulbildung. Dazu kam noch ein bisschen Allgemeinbildung. Kein Wunder, dass die Volkskalender in den gerade aufkommenden Volksschulen als Lesebücher genutzt wurden.
Dazu die Unterhaltung
Neben Bildung und Nützlichem boten die Volkskalender Unterhaltsames fürs ganze Jahr. Da gab es die Kalendergeschichten, die ein Johann Peter Hebel zu einer Kunstform machte. Noch beliebter war all das Skurrile, Spektakuläre und Merkwürdige, das heute noch die Menschheit dazu bringt, die Lektüre der Tageszeitung mit der Seite „Vermischtes“ zu beginnen.
Ein gutes Geschäft
Der Appenzeller Kalender war in der deutschsprachigen Schweiz wohl der am weitesten verbreitete Volkskalender, und so kann man ihn heute noch für sehr wenig Geld in vielen Antiquariaten und gut sortierten Brockenstuben erwerben - wie wir es getan haben. Das liegt daran, dass bis zu 60.000 Stück pro Jahr gedruckt wurden. Gegründet von Johannes Tobler im Jahr 1722, hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Ulrich Sturzenegger das Geschäft übernommen. Der kam aus dem Bauernstand, verfügte über keinerlei höhere Bildung und hatte sich all das mathematische und astronomische Wissen, das es brauchte, um so einen Kalender zusammenzustellen, selbst beigebracht. Für die beiden Kalender, die uns vorliegen, zeichnete sein Sohn Mathias Sturzenegger zusammen mit seinem Bruder verantwortlich, der sie in der hauseigenen Druckerei in Trogen produzierte.
Zu diesem Zeitpunkt war der Appenzeller Kalender übrigens nicht mehr konkurrenzlos. Der eifrige St. Galler Aufklärer Johannes Zollikofer hatte 1790 das „Christliche Jahrbuch ohne Aberglauben“ ins Leben gerufen. Sein Kalender verzichtete auf alle Horoskope und sparte dafür nicht mit Belehrungen. Er hatte gegen den Appenzeller Kalender keine Chance - und das nicht nur, weil er nicht 5, sondern 6 Kreuzer kostete.
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Ein Verbund der Bodensee Bibliotheken stellt über Digishelf kostenlos Digitalisate sämtlicher Appenzeller Kalender seit 1722 zur Verfügung.
Nicht über Kalender oder Horoskope, sondern über Comics der Aufklärung haben wir hier berichtet.
Ähnlich nützlich wie der Appenzeller Kalender war Samuel Tissots Buch über die großen Volkskrankheiten seiner Zeit und wie man sie durch gesündere Ernährung verhindern könne.