Eine 600seitige Geschichte der Perücke, das kann man sich kaum als Kassenschlager vorstellen. Und doch war das erste Buch zu dem Thema vom französischen Geistlichen Jean-Baptiste Thier (1636 -1703) gefragt genug, dass man es noch 20 Jahre später auch in deutscher Sprache veröffentlichte. Eigentlich ist das kein Wunder. Die Perücke war um 1700 als modisches Accessoire der letzte Schrei und ein absolutes must have in der gehobenen Gesellschaft in ganz Europa.
Schuld daran war der französische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV., dessen Hof, Regierungsstil und Mode europaweit nachgeahmt wurde.
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Eine Krankheit und ihre Folgen
Bevor dem aber so war, hatte der junge König eher Probleme mit der Mode, genauer gesagt mit den langen Haaren, die dem Zeitgeschmack entsprachen. Er litt nämlich schon mit 17 Jahren an nicht mehr zu verbergendem Haarausfall. Das war damals nicht so unüblich, wie man glauben mag. Grund dafür war die Syphilis, die in Europa seit etwa 150 Jahren in einem enormen Ausmaß grassierte. Gerade im französischen Hochadel, der es mit der ehelichen Treue oft weniger genau nahm, war die Geschlechtskrankheit eher die Regel als die Ausnahme. Ein Beispiel: Liselotte von der Pfalz, die Schwägerin des Königs und eine gute Quelle über Klatsch und Tratsch am Hofe, echauffierte sich 1721 in einem Brief: „Von neun Leuten von Qualität, so vor etlichen Tagen mit meinem Enkel, dem Herzog von Chartres, zu Mittag aßen, waren sieben, so die Franzosen hatten. Ist das nicht abscheulich?“ Bezeichnend ist der im deutschen Raum gebräuchliche Name für die Syphilis, den auch sie verwendet: Franzosenkrankheit. Die Franzosen selbst sprachen übrigens von der Italienischen oder Neapolitanischen Krankheit, die Schotten von der Englischen Krankheit, die Polen von der Deutschen Krankheit und die Russen von der Polnischen Krankheit. Sie sehen, wie heute galt: Schuld sind immer die anderen.
Als bestes Mittel gegen Syphilis galt damals das hochgiftige Quecksilber. Wer damit behandelt wurde, verlor auch den Rest seiner Haare schnell. Der König war es, der aus dieser Not eine Tugend machte. Wie schon sein Vater griff er zur Perücke. Jedoch sollte die nun nicht mehr natürliches Haar vortäuschen, sondern wurde zum modischen Accessoire. Die gelockte Allongeperücke war geboren. Sie war ausladend und wurde ein wesentlicher Bestandteil der herrschaftlichen Majestät. So ein König muss schließlich Würde ausstrahlen. Die Perücke verdeckte nicht nur eine Glatze, sondern sorgte, genau wie die ebenfalls modischen Absatzschuhe, für ein paar entscheidende Zentimeter mehr, wie eine englische Karikatur eindrücklich zeigt.
Der Trend griff schnell um sich, sowohl bei Ludwigs Höflingen als auch im Ausland und unabhängig davon, ob man eine Perücke brauchte oder nicht. Als Statussymbol war die Perücke schnell nicht mehr wegzudenken, spätestens dann nicht mehr, als die Allongeperücke 1676 offiziell zur Staatsperücke erklärt wurde. Wer es sich leisten konnte, kaufte Perücken aus Menschenhaar, der Rest musste sich mit Pferde- oder Ziegenhaar begnügen. Nur dem Adel war es erlaubt, seine Perücken zu pudern. Der König selbst beschäftigte 48 Perückenmacher und ließ sich jeden Morgen fünf Perücken zu Auswahl vorlegen.
Ausgesprochene und unausgesprochene Kritik
Jean-Baptist Thier hatte mit seinem Buch weit mehr vor, als die Geschichte eines modischen Accessoires zu schreiben. Er verband historische Ausführungen mit einer umfangreichen Belehrung darüber, warum es für Mitglieder des geistlichen Standes nicht schicklich, ja sogar verboten sei, Perücke zu tragen, was aber kaum jemanden kümmerte. Vor allem die unnötig großen Allongeperücken seien nicht nur Ausdruck übertriebener Sucht nach Selbstdarstellung, sondern eitel und weibisch. Und sollten Geistliche nicht eigentlich sogar Tonsur tragen?
Wissen Sie, welcher Name in dem Buch gar nicht vorkommt? Der des Königs. Die klaffende Lücke, die die Nichtnennung des Erfinders der Allongeperücke und Verursacher des europaweiten Perückenmode hinterlässt, ist sicher kein Zufall. Sämtliche Kritik bezog der Autor laut Vorwort ausschließlich auf den geistlichen Stand. Wer hier zwischen den Zeilen liest, mag zum Schluss kommen, dass er es nicht sagen darf, aber auch im weltlichen Stand das Tragen der Perücke nicht billigt. Dazu ist auch diese Erläuterung zum Titel des Buches aus dem Vorwort spannend: „Ich hätte wohl können dieses Buch unter einem anderen Titul heraus gehen lassen, welcher sich vielleicht besser geschickt, und eine richtigere Vorstellung der Sache, welche ich behandle, hätte geben können. Allein die Art, und der Sinn der jetztigen Zeit hat es aus einer besondern Ursache nicht zulassen wollen, welche aber wohl denen meisten nicht schwehr wird zu errathen seyn.“ Das erklärt auch, warum Thier dieses Werk als einziges seiner 32 Bücher auf eigene Kosten herausgeben musste.
Wenn Sie in Thiels Werk über Perücken reinschmökern möchten, können Sie das hier tun.
Gekauft haben wir dieses Buch im Münchner Antiquariat von Thomas Rezek.