Was können wir wirklich wissen? Die Betonung liegt auf: wirklich. Heute nennen wir diesen Teilbereich der Philosophie Erkenntnistheorie. Ihr Begründer war einer der Titanen der Geistesgeschichte: René Descartes. Nebenbei legte er grundlegende Arbeiten im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften vor. Zwei seiner zentralen Arbeiten erschienen in der Wissenschaftssprache Latein 1685 in Amsterdam unter dem Titel „Opera Philosophica“, also: Philosophische Werke. Bevor wir einen Blick hineinwerfen, fragen wir uns noch, warum dieses Buch, das doch neben allem anderen vor allem die Existenz Gottes beweisen und nicht widerlegen wollte, auf dem berüchtigten Index der römisch-katholischen Kirche landete …
Artikeltext:
Descartes – Visionär und Aufklärer
Beginnen wir in Ulm, in einer Hütte während des Dreißigjährigen Krieges, mitten in einer kalten Nacht. Am Ofen saß der junge René Descartes und hatte angeblich eine Art Vision. Er überlegte, was in der Welt wir eigentlich so erkennen können, wie es ist. Unsere Sinne spielen uns immer wieder einen Streich und sind unzuverlässig. Vielleicht unserem Denken? Aber lässt sich nicht auch das manipulieren? Aber unsere Zweifel doch nicht! Wenn wir zweifeln, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir gerade zweifeln. Diese fundamentale Erkenntnis sollte Descartes über Jahrzehnte mit sich herumtragen und immer wieder wie ein liebgewonnenes Schmuckstück von allen Seiten betrachten und analysieren. Sie kristallisiert in dem berühmten Dictum: Ich denke, also bin ich (lateinisch: Cogito, ergo sum), das auch in diesem Band steht.
Descartes wurde als Sohn eines niederen Adligen 1596 in der Bretagne geboren und genoss eine hervorragende Ausbildung, studierte Jura und zog im Dienste verschiedener Herren als Soldat durch Europa. Dabei kam er nicht nur nach Ulm, sondern auch in die Studierzimmer der Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler. Der junge Mann war überzeugt von zwei Dingen. Erstens: Es muss eine universale Methode zur Erforschung der Wahrheit geben. Zweitens: Er, René Descartes, war dazu bestimmt, diese Methode zu entdecken.
Descartes suchte den Austausch mit Gelehrten und fing an zu publizieren. Dann kam ein Schuss vor den Bug: Der Prozess um Galilei machte ihm klar, in welcher Gefahr er selbst schwebte. Descartes wollte nämlich in seiner „Abhandlung über die Welt“ einen Gottesbeweis führen. Allerdings in einem naturwissenschaftlichen Werk. Und wie dünnhäutig die Kirche reagierte, hatte man an ihrer Reaktion auf die Schriften des gläubigen Katholiken Galilei gesehen. Es reichte nicht nur, Gott zu beweisen, auch das restliche Weltbild musste stimmen. Und bei Descartes tat es das nicht, wie wir noch sehen werden. Also ließ er diesen Entwurf sicherheitshalber in der Schublade.
Denn anders als Galilei schrieb Descartes nicht auf Latein. Er hielt, nicht zu Unrecht, seine Gedanken für zu wichtig, um sie nur den Kollegen in ihrem Elfenbeinturm zugänglich zu machen. Daher schrieb er in der Sprache des (französischen) Volkes, er verstand sich im besten Sinn als Aufklärer.
Überall Feinde
Doch diese Aufklärung gefiel nicht allen. Nach der begrabenen Abhandlung über den Gottesbeweis veröffentlichte Descartes ein Werk, das auch unsere Ausgabe enthält: Seine „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie als Versuchsanwendungen dieser Methode“ erschien zunächst 1637 – anonym. Trotzdem wusste schnell ganz Europa, wer hinter dem Werk stand. Aus gutem Grund hatte Descartes sich in die relativ liberalen Niederlande zurückgezogen. Zwar glaubte er durchaus an Gott, aber vor allem war er der Überzeugung, dass Gott eine Welt geschaffen hatte, die unabhängig von ihm nach festen Gesetzmäßigkeiten funktionierte. Und die Aufgabe der Gelehrten war es, diese Regeln zu erkennen und zu beschreiben. Innerhalb der Natur brauchte es also keinen eingreifenden Gott mehr. Wir nennen diese neue Denkrichtung heute Rationalismus. Das war starker Tobak. Descartes sah sich von vielen Seiten angefeindet und fürchtete Repressalien. Wollen wir ihn als paranoid bezeichnen oder nur als vorsichtig? Jedenfalls zog er ruhelos quer durch Europa. Dabei korrespondierte er mit den Geistesgrößen seiner Zeit, aber stets über einen guten Freund in Paris, der als einziger Descartes’ wechselnde Adressen kannte.
Wer denkt, ist. Aber was ist er?
Descartes hatte eine fundamentale Kehrtwendung im Denken vorgenommen. Bislang hatten Philosophen sich bemüht, die Welt zu beschreiben, wie sie ist. Descartes ging einen Schritt zurück und fragte: Was können wir überhaupt wissen? Er erkannte, dass wir mit Vorstellungen arbeiten, geformt in unserem Kopf, dass wir also gar keine objektive Erkenntnis erlangen können. Die Geburtsstunde der Erkenntnistheorie. Kurioserweise präsentiert sich die „Abhandlung“ von 1637 als eine Art Autobiografie. Das Vorgehen demonstriert der Autor an seiner eigenen Lebensgeschichte und seinem wachsenden Verständnis der Erkenntnistheorie. Er nimmt den Leser bei der Hand und erläutert, wie man Schritt für Schritt sauber und klar argumentiert. Die Handschrift des Mathematikers ist nicht zu verkennen.
Unsere Ausgabe präsentiert einen lateinischen Text, der erst 1656 in Amsterdam erschien, mittlerweile unter Descartes’ Namen, Versteckspielen war nicht mehr nötig.
Sehr praxisorientiert führt der Autor seine Methode anhand dreier Themen vor, die er untersucht: Lichtbrechung, Himmelserscheinungen und analytische Geometrie. Wir sehen: Der Mann war nicht nur Philosoph, sondern nebenbei Physiker, Astronom und vor allem Mathematiker.
Descartes fragt aber auch nach der konkreten Anwendung bei ethischen Fragen. Das war ein viel größeres Problem, denn Descartes’ komplexe, wir könnten sagen unendlich pingeligen, Analysen würden moderne Hochleistungsrechner wie Deep Blue auf Jahre beschäftigen. So lassen sich keine Alltagsprobleme lösen. Also spricht Descartes sich für eine provisorische Ethik aus, die man vorläufig praktiziert, bis man endgültige Antworten hat. Eine Prise Pragmatismus, um mit dem hohen Anspruch des Perfektionisten erhobenen Hauptes zu leben.
Es wird prinzipiell
Wenige Jahre nach seiner „Abhandlung“, im Jahr 1644, lässt Descartes ein anderes Buch drucken, diesmal auf Latein und damit explizit an seine Kollegen adressiert: die „Prinzipien der Philosophie“ („Principia Philosophiae“). Gewidmet sind sie seiner Brieffreundin und eifrigen Schülerin Elisabeth von der Pfalz. Um seine Gedanken mehr Lesern zu eröffnen, ließ Descartes auch dieses Buch drei Jahre später ins Französische übersetzen. Unsere Ausgabe enthält eine überarbeitete spätere Fassung des lateinischen Ersttextes.
In diesem Werk versucht Descartes den großen Wurf. Es ist tatsächlich die erste mechanistische Deutung der Welt und ihrer Gesetze. Ein Meilenstein der Philosophiegeschichte. Hier erwähnt Descartes nebenbei das, was wir heute als Trägheitsgesetz oder Erstes Newtonsches Gesetz kennen: Körper verharren in Ruhe, solange keine äußere Kraft auf sie einwirkt. Das borgte sich Newton später von Descartes.
(Und hier finden Sie übrigens im §7 das eingangs erwähnte berühmte „Cogito, ergo sum“ …)
Die von Blaeu (ja, die den ersten Atlas verlegt hatte) in Amsterdam besorgte Ausgabe von 1685, also eine Generation nach Descartes’ Tod erschienen, besteht aus diesen beiden Werken, den „Abhandlungen“ und den „Prinzipien“, beide in noch vom Autor besorgten überarbeiteten Auflagen und Latein. Wie damals üblich wurden die Hauptschriften immer wieder gedruckt und mal einzeln vertrieben, mal in unterschiedlicher Zusammenstellung zusammengebunden.
Damals hatten die einflussreichen Jesuiten längst dafür gesorgt, dass alles, was Descartes je veröffentlicht hatte, auf dem Index gelandet war. Ob Descartes an Gott glaubte oder nicht, war ihnen egal. Eine Welt, die man ohne direktes Wirken Gottes glaubte erklären zu können, war für sie nicht vorstellbar. Aber dieser naiv anmutende Versuch, eine neue Weltsicht unter den Teppich zu kehren, verhinderte natürlich nicht, dass diese Bücher trotzdem gedruckt und gelesen wurden. Descartes zählte über Jahrhunderte hinweg zu den wirkmächtigsten Figuren der Philosophiegeschichte. Wer in dieses Buch schaut, kann verstehen, warum.
Was Sie sonst noch interessieren könnte
Falls auch Sie in dieser Ausgabe (virtuell) blättern möchten, finden Sie die beiden Einzelwerke auch online.
Hier gibt es diese Ausgabe der „Principia philosophiae“.
Und hier die Abhandlungen, lateinisch „Specimina Philosophiae“.