Rund 10.000 Dinge besitzt der durchschnittliche Westeuropäer. Sammler jeglicher Couleur natürlich mehr. Viele Menschen fühlen sich davon erdrückt und deswegen ist Minimalismus gerade der Trend schlechthin, man will sich nicht mit viel belasten. Gleichzeitig suchen viele die Gemeinschaft mit anderen, gepaart mit einem „natürlichen“ Lebensstil auf dem Land oder zumindest mit der eigenen kleinen Parzelle für das Urban Gardening zwischen Autofahrbahnen in der Innenstadt. Natürlichkeit und Minimalismus waren aber schon vor fast 300 Jahren „in“. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau war damals der Ansicht, dass der Mensch im Naturzustand gut sei und erst die Kultur das Böse in ihm hervorbringe. Entweder man lebt also im Urzustand oder man muss sich eine möglichst „natürliche“ Form der politischen Organisation überlegen, um ein moralisch gutes Leben zu ermöglichen. Das erläuterte Rousseau ausführlich 1762 in seinem „Gesellschaftsvertrag“ – der umgehend verboten wurde.
Artikeltext:
Rousseau und die Welt des Absolutismus
Der Grund für dieses Verbot ist ganz einfach: In Rousseaus Utopie braucht es weder Gott (wir hören den Aufschrei der Kirche!) noch Aristokraten (das ging nun wirklich nicht!), sondern nur einen Souverän, nämlich das Volk. In einer durch und durch aristokratischen Welt wie der Rousseaus waren das unakzeptable und gefährliche Gedanken. Wir befinden uns in der Welt des Absolutismus, Ludwig XV. führt das Zepter entschieden, wer kann, lebt in Saus und Braus, es werden Schlösser gebaut und prunkvolle Feste gefeiert. Und dann kommt dieser Rousseau.
Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 in Genf geboren, seine Mutter starb nach seiner Geburt, sein Vater, ein angesehener Uhrmacher, lehrte den Jungen die Liebe zur Literatur – bis er nach einer Handgreiflichkeit gegen einen (aristokratischen) Offizier untertauchte und seinen Sohn damit in ein unstetes Leben stieß. Der junge Rousseau war ein schwieriger, eigenwilliger Charakter, der sich mal als Lehrer verdingte, dann als Sekretär und Geliebter einer reichen Dame aushalten ließ. Dabei bildete er sich autodidaktisch fort und zog von Ort zu Ort quer durch Frankreich. Bis er 1749 eine „Erleuchtung“ hatte, wie er selbst es nannte.
Die Preisfrage: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?
Zufällig stieß Rousseau auf eine Preisfrage, die sein Leben fortan bestimmen sollte. Die Akademie von Dijon fragte in einer Zeitung: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?“ Jeder Intellektuelle hätte das sofort bejaht. Doch Rousseau war ein Sturkopf und Eigenbrötler und liebte es zu provozieren. Nun legte er sich also mit Frankreichs gesamter Elite an und antwortete auf die Frage: Nein! Der Mensch war im Urzustand gut und wurde erst durch das menschliche Zusammenleben – und damit auch die Kultur – böse und lasterhaft. Kurioserweise fand Rousseau aber auch Zustimmung, er wurde über Nacht zu einem der meistgelesenen Autoren in Europa und gewann den ersten Preis des Ausschreibens. Der 37-jährige Rousseau machte es sich fortan bequem in der Rolle des enfant terrible und pflegte sie bis zu seinem Tod 1778.
Der Gesellschaftsvertrag: Grundlage einer Idee
Rousseau publizierte Theaterstücke und Essays, in denen er immer wieder betonte, dass erst die Begründung einer Gemeinschaft zu Gier und übersteigerten Bedürfnissen unter den Menschen führe. 1762 entwickelte er aus dieser Grundannahme ein politisches Manifest, sein theoretisches Hauptwerk: „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes“. In weiser Voraussicht ließ er es nicht in Frankreich drucken, sondern in den liberaleren Niederlanden, in Amsterdam bei Marc Michel Rey. Rey war ein Förderer der Literatur der Aufklärung, wie wir diese Epoche nennen, in denen immer wieder Einzelne Ideen wie Rousseau hatten, die gegen den bisherigen Mainstream ankämpften und die Vernunft über Traditionen setzten. Rey hatte schon andere Schriften Rousseaus verlegt, doch mit dem „Gesellschaftsvertrag“ handelte er sich neben Ruhm auch Ärger ein. Das Werk wurde sofort nicht nur in Frankreich, Genf und Bern verboten, sondern auch in den Niederlanden selbst. Rousseau musste flüchten und erhielt Asyl bei Friedrich dem Großen von Preußen.
Wir haben hier eine Erstausgabe des „Gesellschaftsvertrags“, der Furore in ganz Europa machte und für Jahrhunderte Philosophen, politische Denker und schließlich sogar Verfassungsrechtler und Soziologen beeinflussen sollte. Aber wie konnte jemand, der die menschliche Gemeinschaft als Grund allen Übels ansah, eine politische Organisation für eine gute Gesellschaft entwerfen?
Freiheit ist nicht gleich Freiheit
In der Natur ist der Mensch zunächst gut, so Rousseau. Er lebt in „natürlicher Freiheit“ und nur seine eigene Stärke setzt ihm Grenzen. Dann kam es irgendwann zu Eigentumsverhältnissen, und damit begannen die Probleme. Denn „alles verschlingender Ehrgeiz“, „künstliche Leidenschaften“ und die „Sucht, sein Glück auf Kosten anderer“ zu machen, sind Übel, die entstanden sind durch „die erste Wirkung des Eigentums und das untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit.“
Rousseau schildert das sehr bildhaft: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ,Dies gehört mir‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört.‘“ Marx? Lenin? Mao? Rousseau!
Doch Rousseau war klar: Um in einer gefährlichen Welt mit wilden Tieren und Naturkatastrophen zu überleben, ist eine Gemeinschaft unumgänglich. Aber wie verhindert man den fortschreitenden Niedergang der Sitten? In dieser Gemeinschaft sollen die Bürger so viel Gebiet erhalten, wie sie benötigen (Minimalismus avant la lettre). Die natürliche Freiheit hatte bedeutet: Wir dürfen uns wünschen, alles zu nehmen, was wir nur wollen, wenn wir es können. Die bürgerliche Freiheit hieß: Wir respektieren, dass auch andere etwas haben, so wie diese unser Eigentum respektieren; wir dürfen also nicht mehr alles begehren.
Dies ist der Gesellschaftsvertrag, den alle Mitglieder miteinander abschließen. Man kann auch sagen: Zunächst treten alle Individuen ihre potenziellen Rechte an die Gemeinschaft (den Souverän) ab, die ihnen dann wiederum Eigentum zuteilt. Der Vorteil? Nicht jeder muss sein Eigentum für sich alleine verteidigen, sondern alle stehen füreinander ein.
Diese vernunftgetränkte Theorie kennt nur eine legitime Grundlage von Macht: den allgemeinen Willen, volonté générale. Dieser Wille, der von allen Einzelnen ausgeht, kann nur das wollen, was für die Gemeinschaft das Beste ist, und ist damit losgelöst von den subjektiven Interessen. Er existiert nur dadurch, dass die einzelnen Bürger ihren Willen und ihre Rechte gewissermaßen aufgegeben und auf diese öffentliche Person übertragen haben.
Klingt gut. Aber sind die Menschen so? Nun ja, auch Rousseau ist klar: Falls Bürger mehr Rechte als Pflichten für sich beanspruchen würden, würde das irgendwann zum Untergang des Staates führen. Ergo darf die Gemeinschaft ein Mitglied zum Gemeinwillen zwingen, „was nichts anderes heißt, als das man ihn zwingt, frei zu sein“, wie Rousseau formuliert. In all diesen Konstrukten gibt es weder Gottesgnadentum noch die traditionelle Ständegesellschaft.
Damit hatte der gute Rousseau den Bogen, wie gesagt, zunächst überspannt. Aber die Idee war gedruckt, der Gedanke ließ sich nicht mehr unterdrücken. Die Saat wurde gegossen vom Leid des einfachen Volkes und den aufklärerischen Gedanken einiger Intellektueller und ging bald in der französischen Revolution auf. Deren radikaler Vorkämpfer Robespierre zeigte sich stark von Rousseaus „Gemeinschaftsvertrag“ inspiriert. Ob das Ergebnis die Gesellschaft war, die Rousseau vor Augen stand? Wohl kaum. Er war dann doch sehr Theoretiker und wollte eigentlich nur seine Ruhe haben. Ein Werk, das ganz pragmatisch eine realistische und umsetzbare Gesellschaftsordnung entwickelte, wäre von ihm kaum zu erwarten gewesen.
Aber sein Ansatz wurde immer wieder aufgegriffen, seit er 1762 in die Welt gesetzt wurde und dient Theoretikern noch heute als Wetzstein zum Schärfen ihrer Gedanken.
Was Sie sonst noch interessieren könnte
Den Text der Erstausgabe finden Sie in der Genfer Nationalbibliothek.
Textlog bietet eine deutsche Übersetzung von 1880.
Rousseaus „edlen Wilden“ meinte man im 18. und 19. Jahrhundert in der Südsee oder in den Schweizer Bergen zu finden …