Gesundheit ist heute Kult. Und die wird nicht als Gott gegebenes Schicksal begriffen, sondern als ein Resultat dessen, wie der Mensch seinen Alltag gestaltet. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass derjenige, der nach Gesundheit strebt, möglichst im Einklang mit der Natur leben müsse – und das obwohl wir in unserer hochzivilisierten Gegenwart, die jede Verbindung zur natürlichen Pflanzen- und Tierwelt verloren hat, ein durchschnittliches Lebensalter erreichen, das wesentlich höher liegt als je zuvor. Und das obwohl ein Mensch der Antike oder des Mittelalters mit Sicherheit näher an der Natur lebte, als wir das trotz Reformhaus und Bio jemals tun können.
Einer, der diese Bewegung befeuert hat, ist der zu seiner Zeit hoch berühmte Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot (1728-1797), der den größten Teil seines Lebens in Lausanne verbrachte. Berüchtigt ist er wegen seiner Schriften gegen die Onanie. Einen mindestens genauso großen Einfluss aber entfaltete sein Buch über die Krankheiten vornehmer und reicher Personen an Höfen und großen Städten. Darin wendete er sich gegen die ungesunde Lebensweise des Adels und seiner Nachahmer, die trotz bester medizinischer Versorgung eben auch nicht viel länger lebten als das einfache Volk.
Wo der Genfer Jean Jacques Rousseau sein „Zurück zur Natur“ ausrief, forderte Tissot die Reichen und Schönen auf, über ihre Essgewohnheiten nachzudenken. Diese Massen an Fleisch, Süßigkeiten, Kaffee, Tee und Alkohol, die sie da täglich verspeisten, könnten beim besten Willen nicht gesund sein. Und auch die Korsetts, die damals nicht nur die Damen trugen, um eine attraktive Taille vorzutäuschen, jener „Zwang der Fischbeine“, sei der Gesundheit nicht förderlich, schließlich würde er den Magen und die Eingeweide zusammenpressen.
Dieses Buch haben wir hier vor uns. Und es dürfte wohl niemanden geben, der Dr. Tissots Kernaussagen nicht zustimmen würde. Dies taten schon seine Zeitgenossen. Genauso wie sie die Thesen seiner „Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit“ für richtig hielten. Schließlich passten sie zu den Ideen der Aufklärung. Tissot sagte dem Aberglauben den Kampf an, war für Hygiene und Impfungen, und hatte Ideen, wie man den damals grassierenden Bevölkerungsrückgang auf dem Land beheben könne.
Tissot wurde mit seinen Schriften berühmt. Sie wurden in knapp 20 Sprachen übersetzt und nicht nur von der geistigen Elite, sondern auch von den Fürsten gelesen. Der König von Polen lud ihn ein, nach Polen zu kommen. Der Kurfürst von Hannover, der Prinz von Württemberg und der Markgraf von Hessen-Kassel wollten ihn ebenfalls in ihre Reiche locken. Kaiser Joseph II. besuchte ihn persönlich. Und Napoleon schrieb einen Dankesbrief. Dr. Tissot dürfte der einflussreichste Mediziner seiner Generation gewesen sein. Er wurde zum Vorreiter der Rolle des Staates im öffentlichen Gesundheitswesen, indem er es zur Aufgabe der Politiker machte, die Verantwortung über die Gesundheit des unwissenden Volks zu übernehmen.
Wenn Politiker heute diskutieren, in wie weit die Lebensweise des einzelnen auf seine Krankenkassentarife Einfluss haben soll, dann stehen wir doppelt seiner Tradition: Zum einen weil die allgemeine Gesundheit zur Sache des Staates geworden ist, zum anderen weil man glaubt, die Gesundheit durch die eigene Lebensweise im Griff zu haben.