Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist kein Buch, das man in einem Zug durchliest. Es ist ein Buch, durch das man sich quält, das man immer wieder weglegt, um sich dem Sog der Geschichte zu entziehen, die so unweigerlich auf den Abgrund zusteuert und im letzten Moment so etwas wie ein Happy End offeriert. Wenn es denn überhaupt ein Happy End geben kann für einen Mörder.
Artikeltext:
Der absurde Plot
Denn ein Mörder ist jener Offizier, der da durch die öden Wüsten Abessiniens stolpert. Und zumindest bei einem Mord ist der Leser dabei. Wobei, ist es denn überhaupt ein Mord? Ist es nicht vielmehr ein schrecklicher Unfall, eine Verkettung unglücklicher Zufälle, die dazu führen, dass da eine junge, schöne Abessinierin tot am Boden liegt? Er hat sie doch nur vergewaltigen wollen, jener Offizier, nur ein bisschen Spaß haben, und dann weiter. Und die Frau hat so willig mitgemacht! Aber dann ist er erschrocken, hat geschossen, und irgendwie - ein Querschläger? - ist da plötzlich ein großes Loch in ihrem Körper. Vielleicht könnte ein Arzt sie retten, aber der Weg ist weit, die Chance gering, viele Fragen müssten beantwortet werden, also setzt ihr der Offizier die Pistole an die Stirn und erschießt sie. Macht nichts. Das Dorf, aus dem sie kommt, wird in der folgenden Nacht eh vernichtet. Es ist eines der vielen, die ein Massaker des italienischen Militärs von der Landkarte löscht. Also, tot wäre sie eh gewesen, ob auf Befehl während eines der vielen Massaker erschossen oder aus eigenem Entschluss.
Aber dann zeigen sich ein paar Tage später merkwürdige Flecken auf der Hand des Offiziers. Er konsultiert einen Arzt und deutet sein Benehmen so, dass ihn die Abessinierin mit dem Aussatz infiziert hat. Zurück zum Heer kann er nicht. Man würde ihn isolieren und eine Heimreise zu seiner Geliebten wäre für immer dahin. So irrt der Offizier durchs kriegszerstörte Abessinien, bis ihn ein alter Abessinier aufnimmt und gesundpflegt. Der Offizier hält ihn für den Vater der Erschossenen und interpretiert die Heilung als Zeichen der Vergebung. Wie der Titel des Buchs schon andeutet: Es gibt für alles eine Zeit: Eine Zeit zu töten, eine Zeit zu heilen. Das sagt zumindest das Alte Testament. Und für Flaiano war es eben "Tempo di Uccidere".
Man könnte es aber auch formulieren wie sein Kamerad: "Die anderen sind zu sehr mit ihren eigenen Verbrechen beschäftigt, um die unseren zu bemerken."
Eine italienische Biographie
Der diese merkwürdig absurde Episode aus dem Abessinienkrieg fabuliert, heißt Ennio Flaiano, wurde 1910 geboren und gehört zu den bekanntesten Intellektuellen der italienischen Nachkriegszeit. Der hoch gebildete Kaufmannssohn ist Kolumnist, Theaterautor und Drehbuchschreiber. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Fellinis Klassiker "La strada", "La dolce vita" und "8 1/2". Flaiano ist bekannt für seine messerscharfen Analysen und für seine ironische Unbeschwertheit, mit der er ein städtisches Publikum verzaubert.
Und dann gibt es da in seinem Oeuvre jenen Monolith, der nicht hineinpasst, seinen einzigen Roman, den Flaiano kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vier Monaten niederschrieb. Es ist sein Buch über den Abessinienkrieg, an dem auch der Autor selbst teilgenommen hat.
Der erste Krieg der Faschisten
Der 25-jährige Flaiano erhielt wie hunderttausende andere im Herbst des Jahres 1935 seinen Einberufungsbescheid. Der Duce plante einen großen Krieg, der zum ersten Angriffskrieg eines faschistisch regierten Landes werden sollte. Begleitet von den Begeisterungsstürmen der italienischen Öffentlichkeit und gesegnet von der katholischen Kirche, überschritten die faschistischen Truppen am 3. Oktober 1935 die Grenze nach Abessinien. Das war vollwertiges Mitglied des Völkerbundes und eines von nur zwei von einer einheimischen Regierung beherrschten Länder Afrikas. Kriegserklärung? Nein. Natürlich nicht. Als sich überlegen dünkende Rasse glaubten die Italiener, Anspruch auf mehr Lebensraum zu haben.
Gegen dunkelhäutige Menschen schienen ihnen alle Mittel erlaubt, vor allem als es nach ersten Erfolgen zu Rückschlägen und einem kräftezehrenden Guerillakrieg kam. Hunderte von Luftangriffen wurden durchgeführt, Zehntausende von Splitter-, Brand- und Gasbomben abgeworfen, chemische Kampfmittel eingesetzt. Systematisch erschossen die italienischen Soldaten den Viehbestand der Bauern und Nomaden, brannten ganze Landstriche nieder. Dass Flaianos Offizier durch eine wüste Landschaft geistert, in der kein Baum Schatten wirft, ist nicht der Natur des Landes geschuldet, sondern der Gründlichkeit, mit der die italienische Armee alle Bäume Abessiniens vernichtete.
Das war nur eines der unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die italienische Soldaten in diesem Krieg begingen. Massaker, Gruppenvergewaltigungen, Angriffe auf Feldspitäler des Roten Kreuzes (sieben geplant, acht ein Kollateralschaden), die systematische Hinrichtung aller gefangenen Soldaten, Konzentrationslager, die zu Todeslagern wurden, um nur einige zu nennen. Dass keine biologischen Waffen eingesetzt wurden, lag nur daran, dass der Entwicklungsstand dafür noch nicht ausreichte. Aber auch so wurden Hunderttausende - Schätzungen reichen bis zu 760.000 - von Abessiniern und Abessinierinnen getötet und noch mehr traumatisiert, ehe es im Rahmen der britischen Afrikafeldzüge des Zweiten Weltkriegs gelang, Äthiopien zu befreien.
Der Umgang mit der Schuld
Auch Flaianos Hände werden dabei nicht sauber geblieben sein. Als Offizier dürfte er Befehle erteilt und die Folgen davon gesehen haben. Doch die Heimat, in die er zurückkehrte, feierte ihn als Helden. Denn ein Kriegsverbrechertribunal, wie es in Deutschland und in Japan durchgeführt wurde, kam in Italien auf Wunsch der Alliierten nicht zustande. Man wollte nicht riskieren, im Kalten Krieg verlässliche Verbündete zu verlieren. Schließlich amtierten einige der Hauptverantwortlichen für die Gräuel des Abessinienkriegs als angesehene konservative Politiker im Nachkriegsitalien. Sie stellten sicher, dass Italien nicht zum damals weit im Land verbreiteten Kommunismus abdriftete.
Kein Italiener wurde für seine Verbrechen an den Äthiopiern je belangt. So trugen die vielen Hunderttausenden von Soldaten, die in diese Verbrechen involviert gewesen waren, ihre Schuld im Geheimen, kamen wie der Offizier Flaianos mit seinem Mord an der Äthiopierin davon, ohne dass sich einer für sein Verbrechen überhaupt interessierte.
Schlechte Träume
Flaiano beschreibt diesen Zustand in seinem Roman als Aussatz, der für ihn weit mehr als eine Krankheit ist: „Vielleicht handelt es sich nicht mehr um Aussatz, sondern um ein noch subtileres und unbesiegbareres Übel, das uns zugefügt wird, wenn die Erfahrung uns dazu bringt, zu entdecken, was wir wirklich sind.“
Auch mein Vater hat als kleiner Bub von 13 Jahren die schweren Bombenangriffe auf München miterlebt. Er sprach nie darüber, legte sich aber zeitlebens seine Kleidung für den nächsten Tag so zurecht, dass er sie auch im Dunkeln fand. In den Wochen vor seinem Tod schrie er jede Nacht laut im Schlaf. Aus Angst vor den Bomben? Vor Verzweiflung über das, was er im kriegszerstörten München sehen musste?
Ich möchte wissen, ob auch Flaiano vor seinem Tod die gebrochenen Augen seiner Opfer im Traum sah.