Was tat man als französischer Adliger im 18. Jahrhundert, wenn man die Juristerei, wie Vater und Großvater sie betrieben hatten, zu dröge fand? Man wurde Schriftsteller. Kein besonders erfolgreicher, muss man im Fall von Claude-Joseph Dorat (1734-1780) leider sagen. Zu Lebzeiten war er durchaus als Autor zahlreicher Theaterstücke bekannt, aber heute kräht nach seinen literarischen Ergüssen kein Hahn mehr. Es sei denn, sie sind wie seine Gedichtsammlung Les Baisers (dt. Küsse) so schön illustriert wie in der uns vorliegenden Ausgabe.
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Von berühmten und weniger berühmten Leuten
Ähnlich wie der Autor gehört auch der Illustrator dieses Buches in diejenige Kategorie Künstler, die bekannt genug sind, um mit einem kleinen Wikipedia-Eintrag gewürdigt zu werden, aber nicht bekannt genug, dass man außer Eckdaten über ihr Leben und Werk viel herausfinden könnte. Umberto Brunelleschi (1879-1949) heißt unser Mann, ein italienischer Illustrator, Buchdrucker und Kostümdesigner, der lange in Paris lebte und auch für Josephine Baker Kostüme designt haben soll. Als Illustrator veredelte er unter anderem Bücher von Voltaire (dem zynischen Philosophen der Aufklärung), Charles Perrault (dem französischen Märchensammler, bei dem die Grimms abgeschrieben haben) und Denis Diderot (dem berühmten Enzyklopädisten und Revolutionär). Sie sehen, der Ruhm der Autoren übersteigt hier den des Illustrators bei Weitem. Aber das macht gar nichts – es braucht schließlich nicht immer einen großen Namen, um interessante Kunst zu produzieren.
Was Brunelleschi farbenfroh in Szene setzt, sind Gedichte über „Küsse“ und „den Monat Mai“. Liebesgedichte, die nicht an eine konkrete Person gerichtet sind, sondern vielmehr die Liebe an sich zelebrieren. So findet sich hier eine „Hymne an den Kuss“, es gibt Gedichte über Liebeswahn, Eifersucht und Ekstase. Sprachlich ist das Ganze wenig originell. Dorat arbeitet sich – wie viele seiner Kollegen im 18. Jahrhundert – ziemlich konventionell am Katalog griechischer mythologischer Figuren und Geschichten ab. Die wesentlich besseren Liebesgedichte haben dann erst etwas später die Romantiker geschrieben!
Wonnemonat Mai
So viel zur Liebe. Aber was hat es mit dem Monat Mai auf sich? Nun ja, bekanntermaßen ist der Frühling eine gute Zeit, sich zu verlieben. Alles sprießt und gedeiht, Blüten verbreiten einen betörenden Duft, die Triebe erwachen in der Natur wie im Menschen, die gesamte Jahreszeit ein Aphrodisiakum. Der Mai trägt nicht umsonst den Beinamen „Wonnemonat“, denn Wonne bedeutet so viel wie Lust. Ähnlich wie in Botticellis berühmtem allegorischen Gemälde des Frühlings tummeln sich auch in Dorats Gedichten Faune, Dryaden, Nymphen und sonstige Wald- und Wassergeister im bunten Reigen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Im Mittelpunkt von Botticellis Gemälde steht Venus, die Göttin der Liebe, in Dorats Gedichten Thaïs. Eine Prostituierte.
Kleine Prostitutiertenkunde
Thaïs aus Athen war eine berühmte griechische Hetäre aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Erzählungen zufolge soll sie eine Geliebte Alexanders des Großen gewesen sein und ihn auf dem Persienfeldzug dazu angestachelt haben, den persischen Königspalast in Persepolis niederzubrennen – dieses Wissen ist aber historisch nicht gesichert. Als beliebte Figur trat sie später häufiger in Kunst und Literatur auf, zum Beispiel in Dantes Göttlicher Komödie.
Was aber sind Hetären? Hetären waren weibliche Prostituierte im Altertum, die eine hohe Bildung in den Bereichen Kunst, Kultur und Philosophie besaßen sowie tanzen und Instrumente spielen konnten. Der Umgang mit Ihnen war sozial anerkannt, ja, es gab zeitweise sogar eine Prostitutionssteuer in Athen mit dem schönen Namen pornikon telos. Und wenn Ihnen das Ganze irgendwie vertraut vorkommt: Solche Frauen gab es natürlich nicht nur in der Antike und nicht nur in Griechenland. In Frankreich nannte man sie Mätressen, in Italien und Frankreich Kurtisanen und in Japan Geishas. Und das war sie, die kleine Prostituiertenkunde.
Bleibt nur noch zu sagen: Schrecklich erotisch sind Dorats Gedichte nicht, betrachtet man sie neben anderen bekannten Gedichten dieser Art wie etwa den „Erotischen Sonetten“, die Friedrich Schlegel zugeschrieben wurden. (Fußnote: Mit großer Sicherheit stammen sie nicht von Schlegel, sondern von einem Alexander Bessmertny.) In diesen Sonetten geht es hoch und ganz und gar nicht jugendfrei her. Genitalien, Körperflüssigkeiten, Orgasmen und Sexpraktiken werde hier sehr, nun, wie soll ich sagen, direkt beschrieben. Vielleicht wäre „Pornographische Sonette“ ein treffenderer Titel gewesen. Dagegen sind Dorats Frühlingsgefühle wahrlich zahm.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Den fast vollständigen Text von Les Baisers finden Sie hier als Digitalisat (auf Französisch).
Wenn Sie vergessen haben, wer mit wem und was mit wo in der Antike, Hederichs „Mythologisches Lexicon“ gibt Auskunft.
Nicht neu, aber immer wieder schön: Vivaldis „Primavera“ aus seinen Vier Jahreszeiten.
Aus seiner Gedichtsammlung „Die dreizehn Monate“, finden Sie hier Erich Kästners Verse über den Mai.
Und wenn es etwas zeitgenössischer sein darf: Die schottische Schriftstellerin Ali Smith veröffentlich seit 2016 eine hochgelobte Roman-Tetralogie im Format der vier Jahreszeiten. Hier die Besprechung ihres Romans Frühling im Deutschlandfunk.