Ein neues Zeitalter ist angebrochen, das Zeitalter der Aufklärung. Alles wird heller, besser und schöner, als es im dunklen Mittelalter unter der Herrschaft von Adel und Klerus war. So mögen die Intellektuellen gedacht haben, die angetreten waren, um die alten Zöpfe des Adels abzuschneiden.
Bildung war das Mittel ihrer Wahl, um die Autokratie zu besiegen. Wissen sollte – jenseits von Gott und den Schöpfungsmythen – die Welt zu einem begreifbaren Ort machen. Dieses Wissen durfte nicht auf eine herrschende Elite beschränkt bleiben, sondern musste allen zur Verfügung stehen. Schließlich würde, so die Überzeugung der Liberalen, das Wissen in den Köpfen der Menschen die Revolution in den autokratischen Staaten einleiten. Wobei sich der Begriff „Mensch“ damals ganz natürlich – auch die fortschrittlichsten Aufklärer waren schließlich Kinder ihrer Zeit – auf weiße Männer beschränkte.
Artikeltext:
Die Blütezeit der Lexika
Um Wissen leicht zugänglich zu ordnen, nutzten die Autoren das Medium „Realwörterbuch“, vulgo Lexikon oder Enzyklopädie. Ein Realwörterbuch präsentierte, im Gegensatz zum einfachen Wörterbuch, nicht nur die Übersetzung eines Begriffs, sondern detaillierte Sachinformationen.
Wer sich also grundlegend über ein Thema informieren wollte, fand in so einem Realwörterbuch alles, was er brauchte. Eine übersichtliche Ordnung der Begriffe nach dem Alphabet machte es zu einem Kinderspiel, an das Wissen zu gelangen. So entwickelten sich Lexika zu internationalen Bestsellern. Sie boten den Bürgern, die ihre Zeit mehr auf den Geld- als auf den Wissenserwerb verwendet hatten, die Möglichkeit, sich nachträglich die Kenntnisse anzueignen, die sie brauchten, um in den gelehrten Gesellschaften und Salons mithalten zu können.
Das wohl bekannteste Lexikonprojekt dieser Zeit ist die berühmte Encyclopédie des Denis Diderot. Sie war zum Zeitpunkt ihrer Publikation beileibe nicht der erste Versuch, das Wissen der Welt zusammenzufassen. Schriftsteller anderer Nationalität hatten in anderen Sprachen bereits umfassende Lexika zusammengestellt.
Der erste Band des Beispiels, das wir Ihnen hier vorstellen, nämlich das von Johann Jakob Leu publizierte „Eidgenössische Lexikon“, wurde 1747 – bereits fünf Jahre vor dem ersten Band der Encyclopédie – publiziert. Und auch das Eidgenössische Lexikon stand zu diesem Zeitpunkt bereits in einer langen Tradition. So war das bekannteste und umfangreichste deutsche Lexikon, der „Zedler“ mit seinen 63.000 Seiten in 64 Bänden mit 284.000 Einträgen, schon fast vollendet.
Und das sind nur drei Beispiele von vielen. Mitte des 18. Jahrhunderts war die Blütezeit der Lexika, vor allem wenn sie sich auf ein Spezialgebiet konzentrierten. Lexika waren ein gutes Geschäft für die Verleger. So listet ein bekannter Leipziger Verlag in seinem Katalog für das Jahr 1741 gleich 20 verschiedene Lexika und Enzyklopädien.
Doch dem Mann, der das Eidgenössische Lexikon verfasste, ging es nicht ums Geschäft. Während wirtschaftlich attraktive Projekte wie der Zedler oder die Encyclopédie über Subskriptionen finanziert wurden, bezahlte Johann Jakob Leu sowohl die Recherchen als auch den Druck des wichtigsten Schweizerischen Lexikons der frühen Neuzeit aus der eigenen Tasche.
Wer war nun der Mann, der ein so umfassendes Projekt begann und vor allem zu Ende führte? Und welcher geistige Hintergrund inspirierte ihn zu seinem Vorhaben?
Limmatathen
Johann Jakob Leu kam im Jahr 1689 als Sohn einer politisch und wirtschaftlich einflussreichen Zürcher Familie zur Welt. Zürich erlebte damals eine wirtschaftliche Blüte. Es war aus dem Dreißigjährigen Krieg, der viele Städte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hart getroffen hatte, mehr oder weniger unbeschadet davongekommen. Der Toggenburger Krieg hatte Zürichs Position als reformierte Handelsstadt in der Eidgenossenschaft weiter gestärkt. Das vorhandene Kapital, die hohen Renditen, die sicheren Handelswege und die niederen Steuern boten den Zürcher Kaufleuten Anreiz und Möglichkeiten im Überfluss, große Vermögen zu akkumulieren.
Das reiche Zürich war darüber hinaus in ganz Europa als intellektuelles Zentrum bekannt, wo fortschrittliche Geister unbeeinflusst von kirchlicher oder staatlicher Zensur diskutierten und publizierten. Das zog natürlich viele eigenständige Denker an. Der deutsche Dichter Wilhelm Heise wunderte sich darüber, dass von den damals rund 10.000 Einwohnern der Stadt rund 800 bereits publiziert hatten. Im 18. Jahrhundert – als es noch wesentlich teurer und elitärer war, ein Buch herzustellen – eine unglaubliche Zahl.
Mindestens genauso aussagekräftig ist eine andere Zahl: Um 1750 waren in zwei Dritteln der Zürcher Pfarreien bereits über 60 % der Bevölkerung in der Lage zu lesen. Man denke daran, dass zum Beispiel in der Habsburger Monarchie Maria Theresia erst 1774 die allgemeine Schulpflicht einführte!
Es gab also viele Menschen in Zürich, die die geschriebenen Bücher auch lesen konnten. Und so boomte Zürichs Buchhandel. Die Stadt verfügte über fünf größere Verlage mit angeschlossener Druckerei, über fünfzehn Verlagsbuchhandlungen und 27 kleinere Buchläden. Allerdings war das Buch nur einer von vielen Wegen, über die neues Wissen vermittelt wurde. Mindestens genauso wichtig waren die privaten Salons und noch mehr die Gelehrtengesellschaften, in denen Zürcher Bürger und geladene Gäste aus dem Ausland die neuesten Trends in Philosophie, Geschichtsforschung und Naturwissenschaften diskutierten. Dreißig solche Gesellschaften gab es alleine Zürich – der Löwenanteil der rund 120 Schweizerischen Gelehrtengesellschaften.
Star der gelehrten Zürcher Welt war der international bekannte Philologe Johann Jakob Bodmer, ein Zeitgenosse von Johann Jakob Leu. Er verdankte seinen Ruhm der Übersetzung des Homer und wurde zu seiner Zeit (fälschlich) als Entdecker des Nibelungenlieds gefeiert.
Leus Lehrer war ein Naturwissenschaftler: Johann Jakob Scheuchzer, Begründer der Paläobotanik und uns vor allem wegen seiner Sintfluttheorie bekannt. Er deutete die Fossilien als Überreste von Geschöpfen, die durch die Sintflut ums Leben gekommen waren. Was uns heute eher ein Schmunzeln entlockt, war zu Leus Zeiten eine heiß diskutierte Theorie, die Zar Peter den Großen zu seinem Versuch veranlasste, Scheuchzer mit einer hoch dotierten Stelle nach St. Petersburg zu locken.
Johann Jakob Leu
Schon dem jungen Johann Jakob Leu bot sich also ein anregendes Umfeld, das bereits den 15jährigen dazu inspirierte, eine umfangreiche Biographie des Zürcher Antistes Johann Jakob Breitinger zu öffentlichen. Das sollte nicht sein einziges Werk bleiben. Leu schrieb viele wichtige Bücher. Seinen Entschluss, ein Lexikon mit allem, was es über die Schweizerische Eidgenossenschaft zu wissen gab, zu verfassen, soll er im jugendlichen Alter von 17 Jahren gefasst haben. Er tat dies, nachdem er den hochbetagten Basler Historiker und Lexikographen Johann Jakob Hofmann getroffen hatte, dessen Lexikon wenig benutzt wurde. Hofmann hatte den Fehler gemacht, es in lateinischer Sprache zu verfassen. Latein beherrschte damals nur noch ein kleiner Teil der gebildeten Elite. Leu sollte es besser machen.
Aber damit sind wir ein bisschen vorausgeeilt. Zunächst studierte Johann Jakob Leu beide Rechte, was in der frühen Neuzeit eine grundlegende Voraussetzung für den Eintritt in den gehobenen Beamtendienst war. Er promovierte, besuchte im Rahmen seiner Grand Tour die Hauptstädte des protestantischen Europa und trat danach in den Zürcher Staatsdienst ein.
Wir müssen an dieser Stelle nicht alle Stufen von Johann Jakob Leus Karriere auflisten. Es genügt zu sagen, dass er begabt und fleißig war und seine Mitbürger seine Leistungen mit immer höheren Positionen honorierten. 1749 wurde er Seckelmeister, ein Amt, das eine Mischung aus Finanzminister und Präsident der Nationalbank darstellte.
Denn auch wenn wir uns an dieser Stelle nur am Rande mit Leus wichtigster Initiative beschäftigen können, sei doch erwähnt, dass unser Lexikonschreiber Mitinitiant und erster Präsident der berühmten Zürcher Zinskommission war, die wir als Bank Leu kennen. Diese Institution war zwar staatlich, agierte aber unabhängig von der städtischen Finanzverwaltung. Sie bot öffentlichen und privaten Anlegern in Zürich die Möglichkeit, ihr Geld gewinnbringend zu investieren. Die Geschäftsführer vermittelten seit 1755 Zürcher Kapital an kreditwürdige Staaten und Unternehmer im Ausland.
1759 krönte Johann Jakob Leu seine Karriere mit der Wahl zum Bürgermeister. Zu diesem Zeitpunkt hatte der umtriebige Mann schon seine wichtigsten Bücher veröffentlicht. Zu ihnen gehörte nicht nur die bereits erwähnte Biographie, sondern auch juristische Arbeiten, so eine umfassend kommentierte Neuausgabe von Simmlers eidgenössischem Staatsrecht sowie ein vierbändiges Kompendium des Schweizer Privatrechts. Diese Bücher blieben Jahrzehntelang Standardwerke und waren eine hervorragende Vorbereitung für das Eidgenössische Lexikon.
Das Eidgenössische Lexikon
In den Jahren zwischen 1747 und 1765 publizierte Leu das erste, ausschließlich der Schweiz gewidmete Lexikon, das bis zum letzten Band komplettiert wurde. Es umfasste 20 Bände im Quartformat. Sie stellten auf 11.368 Seiten in (geschätzt) 20.000 Stichwörtern alles dar, was an Informationen rund um die Schweiz zu finden war. Es handelt sich damit um das größte und vollständigste Lexikon, das in der frühen Neuzeit über die Schweizerische Eidgenossenschaft publiziert wurde.
Vervollständigt wurde das Lexikon 21 Jahre nach Abschluss der ersten Ausgabe. Der Zürcher Apotheker Hans Jakob Holzhalb veröffentlichte sechs Supplementbände, die noch von Leu selbst geplant und angekündigt worden waren.
Im Eidgenössischen Lexikon fand der Leser eine Fülle von Informationen: Biographien bedeutender Persönlichkeiten und Genealogien der wichtigsten Familien. Verzeichnet waren schweizerische und zugewandte Orte, Stifte, Klöster, Berge, Täler, Seen und Bäder genauso wie juristische und politische Fachbegriffe. Leu liefert Informationen zur Geschichte, zu bekannten Schweizer Produkten, zu Handel und zu Volksbräuchen.
Über die Qualität der Informationen kann man natürlich diskutieren. Manche Autoren werfen Leu vor, er sei eher effizient als perfektionistisch gewesen, eher ein Sammler als ein eigenständiger Forscher. Wobei man sich durchaus fragen darf, ob das in unserer Zeit überhaupt noch ein Vorwurf ist, der außerhalb der akademischen Welt Geltung hat.
Natürlich musste ein Einzelner, der ein so umfassendes Werk herausgab, sich bei der Beschaffung von Informationen auf andere verlassen. Und damit war kein Artikel besser als das Material, das Leu zur Verfügung stand. Vieles mochte er aus der reichhaltigen Büchersammlung der Zürcher Bürgerbibliothek schöpfen. Hier saß er an der Quelle, war er doch seit 1710 deren Bibliothekar, seit 1758 ihr Präses.
Dazu sammelte Leu viel Material während seiner Reisen, die er häufig im Auftrag der Stadt Zürich unternahm. Und wo er selbst nicht hinreisen konnte, schickte er seinen Sohn Johannes oder bat befreundete Politiker, ihm aus ihren Heimatstädten die benötigten Informationen zu beschaffen.
Besonders nützlich ist Leus Werk wegen der vielen wörtlichen Abschriften von uns heute nicht mehr erhaltenen Urkunden sowie wegen der ausführlichen Namenslisten von Amtsinhabern. Das Schweizer Lexikon überliefert uns diese Quellen mit einer Zuverlässigkeit und Objektivität, die es zu einer wertvollen, wenn nicht in Einzelfällen sogar zur einzigen Quelle für Historiker machen.
Problematisch dagegen sind Leus genealogische Artikel. Für deren Inhalt griff er auf das zurück, was ihm Mitglieder der betroffenen Familien sandten. Und das war natürlich alles andere als objektiv, sondern eine beschönigte Fassung, die Leu meist ungeprüft, aber oft gekürzt übernahm.
Und gerade diese Genealogien trugen Leu unter seinen Zeitgenossen die meiste Kritik ein. Sie waren dem potentiellen Kundenkreis, der sich aus den ratsfähigen Schweizer Familien rekrutierte, am wichtigsten. Und da reagierten die Leser sehr emotional. Wer wollte schließlich ein Lexikon in seinem Haus haben, das der konkurrierenden Familie mehr Platz einräumte als der eigenen, oder die eigene Familie gar mit Stillschweigen überging!
Wir wissen nicht, ob das tatsächlich der Grund war, warum sich Leus Schweizerisches Lexikon nur langsam verkaufte. Johannes Leu, der Sohn des Autors, musste jedenfalls im Jahr 1775, also 10 Jahre nach dem Erscheinen des letzten Bandes, immer noch nach Käufern suchen, denen er die letzten 30 kompletten Ausgaben hätte verkaufen können.
Erst die national gesinnten Historiker des 19. Jahrhunderts würdigten das Werk des Johann Jakob Leu in seiner vollen Bedeutung. Immerhin war es über ein Jahrhundert lang das wichtigste Nachschlagewerk zur alten Schweiz.
Heute stehen wir mit Hochachtung vor diesem Lexikon, das ein Mann schuf, dessen Leistungen für drei Biographien gereicht hätten. Er stieg in das höchste staatliche Amt seiner Heimat auf. Er war substantiell an der Gründung eines Finanzinstituts beteiligt, das mehr als 200 Jahre florierte. Und er schuf ein Lexikon, das ein Jahrhundert lang konkurrenzlos blieb, und heute noch von Historikern benutzt wird.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Ein digitales Exemplar des Eidgenössischen Lexikons findet sich bei e-rara.
Hier haben wir ein weiteres traditionsreiches Lexikon vorgestellt, das „Mythologische Lexicon“ von Benjamin Hederich.
Ebenfalls bereits auf Bookophile: Johann Jakob Bodmers „Historische Erzählungen die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken".