1976 fesselte die BBC die britische Nation: „I, Claudius“ brachte bereits bei der Erstausstrahlung wöchentlich 2,5 Mio. Zuschauer vor den Fernseher. Und dabei tat diese Serie eigentlich nichts anderes, als das Werk eines römischen Geschichtsschreibers in Szene zu setzen. Die Annalen des Tacitus waren die Vorlage, nach der das Drehbuch entstanden war, und dabei galt sein Buch schon seinen Zeitgenossen als schwer verdaulich und nicht für ein breites Publikum geeignet. Im Mittelalter wurde sein Werk geradezu vergessen, bis es durch einen frechen Diebstahl wieder ans Licht kam.
Artikeltext:
Freche Diebstähle aus deutschen Klöstern
Jahrhunderte lang hatte eine Handschrift mit Teilen der Annales des Tacitus im deutschen Kloster Corvey gelegen. Wer sie wann dem Kloster entwendete? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen ist, dass es Ende des 15. Jahrhunderts auch in Deutschland bekannt war, dass es da so merkwürdige Menschen in Italien gab, die unheimlich hohe Preise für alte Bücher zu zahlen bereit waren. Der in Corvey gestohlene Codex hatte schon mehrfach den Eigentümer gewechselt, ehe Papst Leo X. ihn für seine Bibliothek kaufte, das Manuskript drucken ließ und einen der Drucke zum Dank an die Abtei Corvey schickte. Dort freute man sich sehr über die päpstliche Aufmerksamkeit und den Ersatz.
Andere Klöster sahen das nicht so entspannt. Der italienische Humanist Poggio Bracciolini, der Anfang des 15. Jahrhunderts in Deutschland nach Handschriften suchte, schrieb darüber 1427 an einen Freund: „Wenn ich die Schrift von Cornelius Tacitus erhalte, werde ich sie gut verstecken – denn ich kenne ja das übliche Lied: Woher stammt sie und wer brachte sie hierher? Wer erhebt den Anspruch, ihr rechtmäßiger Besitzer zu sein? Aber mache dir keine Sorgen: nicht ein Wort wird über meine Lippen kommen.“
Auch wenn die italienischen Humanisten durch einen Diebstahl an die Codices gekommen waren, nutzten sie diese gut und sorgten für ihre Publikation und Verbreitung. Doch Tacitus war zunächst kein Erfolg. Er war nicht in diesem wunderbaren Latein geschrieben, das die Humanisten von Cicero kannten und so sehr liebten. Und außerdem: Livius schrieb ordentliche Militärgeschichte. Diese Intrigen dagegen, die Tacitus thematisierte, die waren der hehren Geschichtsschreibung wirklich nicht wert!
Reformation, Gegenreformation und welche politische Bedeutung der Glauben hatte
Und dann reformierten sich die Deutschen. Der Glaube mag dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Viel wichtiger aber waren die machtpolitischen Implikationen. Ein reformierter Fürst, eine reformierte Stadt war endlich in der Lage, diese Exklaven, in denen bisher die kirchliche Autorität entschieden hatte, dem eigenen Recht zu unterstellen. Denn der Landbesitz der Klöster, Bistümer, Stifte und all der anderen katholischen Institutionen folgte bisher kirchlicher Rechtsprechung und Besteuerung. Wer sein Land reformierte, konnte sich nicht nur einer moralischen Überlegenheit brüsten, sondern erfuhr einen echten Machtzuwachs. Kein Wunder, dass die deutschen Fürsten und Reichstädte so begeistert die Reformation willkommen hießen.
Doch Jahrhunderte lang hatte man zum Papst nach Rom geschaut und an ein universelles Reich geglaubt, nun brauchte man etwas anderes, das diese Vorstellung ersetzte. Die Idee einer deutschen Nation erlebte ihren Aufstieg. Und ein Schriftsteller, der den Deutschen eine Vergangenheit schenkte, hatte natürlich Bestsellerpotential.
Als die Römer frech geworden...
Tacitus lieferte erst einmal eine „Germania“. Geschrieben, um den Römern als Gegenbild zu ihrer korrupten und dekadenten Gesellschaft zu dienen, bot sie einer sich formenden deutschen Nation im 16. und 17. Jahrhundert so manches, das diese als schmeichelhaft interpretieren konnte.
Und dann dieser wunderbare Text in den Historien über den Cherusker Arminius, der die römischen Legionen vernichtet! Natürlich liebten die deutschen Leser das, und zwar in solch einem Ausmaß, dass die Schlacht im Teutoburger Wald selbst heute noch zahlreiche Fans nach Kalkriese lockt, wo außer dem Spiritus Loci und einem kleinen Museum nichts von der Schlacht zu sehen ist.
Nicht zu vergessen, die Intrigen am Kaiserhof, wie sie in den Annalen und den Historien geschildert wurden. Plötzlich glaubte jeder kleine Duodezfürst mit seinen Höflingen, diese Situationen aus eigener Anschauung zu kennen.
Kurz, Tacitus war relevant, so relevant, dass er immer und immer wieder gedruckt wurde.
Der Nachdruck eines Nachdrucks eines Nachdrucks
Der flämische Gelehrte Justus Lipsius gab 1574 eine erste kritische Ausgabe der Werke des Tacitus heraus. Diese entwickelte sich zu einem Bestseller. Sie wurde noch zu seinen Lebzeiten ständig nachgedruckt und die Antwerpener Druckerei Plantin-Moretus verdiente prächtig! Natürlich machte sie nach dem Tod von Lipsius weiter. In unserer Ausgabe von 1648 sind die vier Texte des Tacitus enthalten, die Historien, die Annalen, die Germania, die Biographie des Agricola sowie ein Werk des Velleius Paterculus, das das Geschichtswerk des Tacitus ergänzte.
So konnten die Diplomaten und Höflinge des Barock lernen, wie man sich an einem Herrscherhof benehmen sollte. Und natürlich wurde eifrig darüber diskutiert, wie viel Verstellung moralisch vertretbar, gut und nützlich sei. Schließlich hatte ein Gelehrter wie Claudius nur deshalb die Herrschaft von Tyrannen überlebt, weil er sein wahres Wesen verborgen hatte...
Vergessen Sie also nicht, bei Gelegenheit mal wieder die Serie „I, Claudius“ anzuschauen, wenn Sie verstehen wollen, mit welchen Problemen die Leser dieses Tacitus-Ausgabe es zu tun hatten.
Bei Google können Sie einen Blick in diese Ausgabe des Tacitus werfen.