Wie halten Menschen es eigentlich aus, in einem totalitären System zu leben? Diese Frage stellt sich jedem, der heutzutage Nachrichten konsumiert. Und warum werden all die totalitären Systeme unserer Erde nicht von der geballten Macht des Volkes hinweggefegt? Wer nach Antworten sucht, sollte Wladimir Korolenko (1853-1921) lesen. Er erzählt in seinem heute wohl bekanntesten Buch "Die Geschichte meines Zeitgenossen", wie sich Diktatur für den Unterdrückten anfühlt. Dafür besinnt er sich auf seine eigene Vergangenheit.
In der Reihe Manesse Bibliothek der Weltliteratur erschien im Jahr 1985 der erste Band seiner Autobiographie. Sie zieht den Leser sofort in ihren Bann. Korolenko fasziniert mit seiner Mischung aus dem liebevollen Blick auf eine harmlose Kindheit und einer minutiösen Beschreibung der damaligen Lebensumstände. Und ganz langsam, geradezu unterbewusst schleicht sich beim Leser die Erkenntnis ein, dass man Ungerechtigkeiten wunderbar ignorieren kann, solange man nicht über sie nachdenkt. Doch sobald der Verstand erwacht, realisiert man, dass es für einen integren Menschen keine Alternative als den Widerstand gibt. Wie dieser aussieht, hängt vom Mut und der Intelligenz des Betroffenen ab.
Wladimir Korolenko kommt also 1853 zur Welt, und zwar in Schitomir. Heute liegt diese Stadt in der Ukraine. Zu Korolenkos Zeiten wurde die von Russland beherrscht, und das war für ihn und seine Familie ein Problem. Nicht etwa, dass die Familie etwas gegen die Russen gehabt hätte - nein, der Vater arbeitete, obwohl eigentlich ukrainischer Kosak, als getreuer Richter für die Obrigkeit. Doch die Mutter des kleinen Wladimir ist Polin und darüber hinaus Katholikin, eine Tatsache, die vom eigentlich doch so netten Religionslehrer abfällig bewertet wird. Denn für ihn sind alle Katholiken zur Hölle verdammt. Und das kann der Bub einfach nicht verstehen. Genauso wenig, wie die Angst seines Vaters vor dem Kontrolleur des Zaren. Schließlich kennt Wladimir keinen einzigen Beamten, der weniger korrupt und ehrlicher ist als sein Papa! Der Kleine erklärt sich das irgendwie damit, dass die Welt so ist wie sie eben ist; und den Willen vom lieben Gott kann er genauso wenig ergründen wie den des Zaren.
Nicht dass Wladimir keine Tyrannen kennen würde! Er kennt viele, und zwar aus der Schule. Dort kommen ihm auch die ersten Zweifel an der Güte des Zaren. Dessen Gesetze besagen nämlich, dass alle Söhne von Beamten die Schule des Ortes besuchen müssen, wo der Vater das Amt ausübt. Nun gibt es in Rowno, wohin der Richter 1868 versetzt wird, nur ein mathematisches Gymnasium. Und die Mathematik ist für den sprachbegabten Wladimir ein Graus. Er bekommt es mit der Angst zu tun und zweifelt: Warum lässt der Zar ihn nicht lernen, was er liebt und worin er gut ist? Natürlich geht es dem Kind nicht um die zukünftige Karriere. Es geht um die Gegenwart der Prügelstrafe, die all denen droht, die dem Unterricht nicht folgen können.
Und damit sind wir im schulischen Alltag der Provinz angekommen. Dort sind Prügel und Karzer ein unumstrittenes Mittel der Pädagogik; man bedient sich ihrer oft und ausgiebig. Nicht nur wenn disziplinarische Vergehen bestraft werden müssen. Prügel erhalten vor allem die, die nicht schnell genug lernen. Und davon gibt es viele. Denn kein Lehrer gibt sich Mühe, seinen Unterricht interessant zu gestalten. Das liegt nicht an Bosheit oder Dummheit, sondern daran, dass die Lehrer ausgebrannt sind und müde. Sie sind durch die ständige Wiederholung des immer gleichen sinnlosen Stoffs zu Automaten mutiert, und geben zusammenhangslos Inhalte von sich, die ihre Schüler genauso zusammenhanglos reproduzieren.
Wladimir hat Glück. Er ist begabt. Die Prügel im dunklen Karzer bleiben ihm erspart. Aber er fühlt eine tiefe Sympathie mit all denen, die geprügelt werden.
Und so hält er zu ihnen. Wie alle anderen auch. Die Schüler entwickeln sich zu einer festverschworenen Gemeinschaft, die nur einen einzigen Feind kennt: die schulische Obrigkeit. Wenn es gegen Lehrer und Pedelle, Schulkontrolleure und Hausmeister geht, dann ist jedes Mittel recht, um es ihnen heimzuzahlen. Wehe dem Lehrer, der sich eine Blöße gibt! Sie wird gnadenlos ausgebeutet, um ihm zu schaden! Und die Lehrer schlagen mit dem zurück, was ihnen zur Verfügung steht. Schon die kleinste Respektlosigkeit wird mit gnadenlosen Prügeln geahndet.
Als nun Ende der 1860er Jahre eine neue Generation von Lehrern ans Gymnasium kommt, können die Schüler zuerst mit ihrer Freundlichkeit nicht umgehen. Sie sind es nicht gewohnt, dass ein Lehrer fair und gerecht ist, dass er sein Fach liebt, und es ihnen vermitteln möchte. Sie suchen ständig nach Hintergedanken! Es ist erschreckend, wie misstrauisch die vielleicht 15-jährigen geworden sind. Aber langsam entwickelt sich die Sache zum Besseren.
So gibt Awdijew, Korolenkos neuer Lehrer in russischer Literatur, seinem Leben die entscheidende Wendung. Dieser Awdijew ist so ganz anders als alle Lehrer, die Korolenko kennt. Er betrinkt sich und reißt Witze, die zwar unsagbar komisch sind, aber die Honoratioren der Kleinstadt der Lächerlichkeit preisgeben. Natürlich kann sich Awdijew nur wenige Monate halten, aber sein Unterricht zeigt den jungen Burschen, was Literatur eigentlich kann: Awdijew liest ihnen die neuen, die aufregenden, die kritischen Autoren der Gegenwart vor und regt so zum Denken an.
Nie vergessen wird Wladimir Korolenko den Eindruck, den eine Episode aus Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" auf ihn macht. Es geht darin um einen Herrn, seinen Leibeigenen und die Prügel, die der Herr dem Leibeigenen verabreicht. Das Merkwürdige daran ist die Tatsache, dass alle beide - Herr und Knecht - die Prügel völlig normal finden. Und da versteht der junge Wladimir Korolenko, dass weder Herr noch Knecht, sondern das System, in dem sie leben, falsch ist.
Das System! Es erscheint wie die Lösung von allem. Auf einmal versteht er, wie falsch es ist, dass der Vater sich sein Leben lang abrackert und die Mutter trotzdem kaum Rente bezieht, weil der Vater ein paar Monate zu früh gestorben ist. Er kann es auf einmal einordnen, dass Onkel Hauptmann zu ihm selbst so nett ist und dass er trotzdem einen Dienstmann wegen eines kleinen Vergehens mitten im Winter stundenlang im kalten Wasser ausharren lässt. Wladimir versteht, dass auch die Lehrer irgendwann mit dem Ehrgeiz, guten Unterricht zu geben, angetreten sind und das System sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind.
Es ist - diese Einsicht ist für Wladimir Korolenko fundamental - nicht der Fehler des einzelnen, sondern des Systems. Deshalb hat es keinen Sinn, die Symptome zu bekämpfen. Man muss das System ändern, um den einzelnen die Möglichkeit zu geben, sich moralisch anständig zu verhalten.
Soweit, so gut, aber wie kann ein kleiner Junge einen effektiven Akt des Widerstands begehen? Auch das erzählt uns Korolenko. Als der boshafte Pedell wie üblich während des Unterrichts durch das Schlüsselloch die Klasse ausspioniert, hört ihn Wladimir und bittet den Lehrer daraufhin leise, ihn austreten zu lassen. Der nickt; Wladimir geht ungesehen zur Tür und reißt sie plötzlich auf. Da steht er der Spitzel, gebückt am Schlüsselloch, bloßgestellt vor der gesamten Klasse. Der Pedell schäumt vor Wut, will Korolenko ernsthaft bestrafen lassen, wird aber vom Direktor zurecht gewiesen: der Junge hat nichts Verbotenes getan, ist einfach auf die Toilette gegangen...
Noch viele Jahre später sollte der gefeierte Autor und Schriftsteller Wladimir Korolenko immer wieder diejenigen bloßstellen, die sich zu demütigen Bütteln des Systems machten. Er tat es während der großen Hungersnot von 1891/2. Oder im Fall des Todesurteils gegen jene Udmurten, denen eine abergläubige Bevölkerung einen Ritualmord unterstellte. Korolenko kämpfte gegen Antisemitismus, gegen die Militärgesetzgebung und gegen die Todesstrafe. Er wurde dabei nicht zum Agitator, sondern zu einer Stimme der Vernunft, die an das Beste im Menschen appellierte, an das Mitgefühl und gleichzeitig an den Verstand.
Wladimir Korolenko entwickelte sich zu einem Mann, dessen Feder selbst die Obrigkeit fürchtete. Er galt als unbestechlicher moralischer Kompass, den weder Drohungen noch Strafen einschüchterten. Korolenko prangerte Unrecht an, gleich ob es von zaristischer, sozialistischer oder kommunistischer Seite begangen wurde, was ihm übrigens Lenin sehr übelnahm.
Es fällt leicht, Korolenko zu bewundern; und das tat auch Rosa Luxemburg. Es war ihr ein Anliegen, den 1914 erschienenen ersten Band seiner "Geschichte meines Zeitgenossen" zeitnah ins Deutsche zu übersetzen und so den deutschen Intellektuellen zugänglich zu machen. Sie übersetzte den Text während eines Gefängnisaufenthalts und beendete ihre Arbeit daran nur wenige Wochen vor ihrer Ermordung.
Ganz gleich, ob Sie Rosa Luxemburg schätzen oder ablehnen; unwichtig, welche politische Einstellung Sie haben: "Die Geschichte meines Zeitgenossen" ist es wert, gelesen zu werden. Denn sie ist weit mehr als eine Biographie, sie ist ein Buch das ohne jegliche Form von Agitation zeigt, wie Systeme funktionieren und dass man sie verändern kann; dass man sie verändern muss, wenn ein System zur Diktatur entartet ist.