Wir schreiben das Jahr 1861. Die russische Regierung hat sich endlich der Moderne geöffnet und ihrem Volk die Bauernbefreiung verordnet. Das hat die Gesellschaft polarisiert. Während die radikale Linke klagt, die Bestimmungen würden nicht weit genug gehen, empfinden die Traditionalisten das Gesetz als skandalös. Nur wenige sind da noch in der Lage, beide Seiten anzuhören und zu verstehen. Zu dieser winzigen Minderheit gehört Iwan Turgenjew.
Artikeltext:
Die Mitte
Iwan Turgenjew verkörpert das, was wir heute „die Mitte“ nennen würden. Selbst aus einer wohlhabenden Adelsfamilie stammend, hat der Autor eine moderne Erziehung genossen. Er schätzt Berlin und Paris, hat dank seiner hervorragenden Sprachkenntnisse gute Kontakte ins Ausland. Im Jahr 1861 hat er seinen 40. Geburtstag schon hinter sich. Er ist damit in einem Alter, in dem er die Radikalität der Jugend überwunden hat und dem selbstherrlichen Starrsinn des Alters noch nicht verfallen ist. Und so ist sein Roman Väter und Söhne aus eben diesem Jahr 1861 eine Geschichte des Ausgleichs. Sie zeigt dem Leser auf liebevolle Art und Weise, dass Generationen unterschiedliche Meinungen vertreten, ja vertreten müssen. Einfach weil dies immer so war und immer so bleiben wird. Weil die Natur selbst den Menschen so gemacht hat.
Polarisierung
Turgenjew erzählt die Geschichte der beiden Freunde Jewgenji Basarow und Arkady Kirsanow. Anführer des ungleichen Paares ist der brillante Medizinstudent Basarow, ein eloquenter Nihilist, der keine Regeln, keine traditionellen Werte anerkennen will. Arkady schaut bewundernd zu ihm auf und schwatzt nach, was der Freund da von sich gibt. So fühlt sich auch Arkady modern und revolutionär. Dafür unterdrückt er geflissentlich die gelegentlich aufkommenden Zweifel, weil er eigentlich nicht alle Werte, die er von zu Hause mitbekommen hat, für überflüssig hält.
Turgenjew lässt die beiden Freunde das Gut von Arkadys Vater, Nikolai Kirsanow, besuchen. Dort treffen sie ein genauso ungleiches Paar, wie sie selbst es sind, allerdings eine Generation älter.
Arkadys Vater Nikolai ist der gutmütige Genießer, dessen Maxime man mit „leben und leben lassen“ umschreiben könnte. Er neigt zum Ausgleich, weiß um seine Mittelmäßigkeit, ist aber trotzdem fähig, ein lebenswertes Leben zu führen. Denn Nikolai ist ein Mensch, der viel Liebe zu geben hat: Er liebt seinen Sohn Arkady, seine längst verstorbene Frau, seine junge Braut Fenitschka und den kleinen gemeinsamen Sohn, nicht zu vergessen seinen Bruder Pavel.
Dabei ist Pavel ganz anders als Nikolai, ein Salonlöwe, der selbst im provinziellen Alltag kein Iota von seinen Ansprüchen abweicht. Jeden Tag putzt er sich, als müsse er in einem Pariser Salon Furore machen. Jeden Tag verschlingt er die neuesten Zeitungen und Journale, um auf dem Laufenden zu sein. Er eifert, wie es in seiner Jugend alle taten, dem Ideal des englischen Gentleman nach, und ist dabei genauso radikal wie Basarow. Beide verteidigen ihre Art zu leben glühend und verachten zutiefst die Ideale des anderen.
Damit führt uns Turgenjew zwei mal zwei Paare vor: Die Alten und die Jungen bzw. die Radikalen und die Gemäßigten.
Crazy little thing called love
Sobald alle vier sich gründlich über alles und nichts zerstritten haben, schickt Turgenjew Basarow und Arkady in ihr nächstes Abenteuer: Er konfrontiert sie mit zwei Frauentypen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Da ist zunächst Katya. Nicht auffällig, nicht außergewöhnlich, einfach ein hübsches, bescheidenes Mädchen, das gerne Klavier spielt, Puschkin liest und Blumen pflückt. Mit ihr freundet sich Arkady an.
Ihre Schwester und Herrin des Guts, auf dem Basarow und Arkady weilen, ist die stolze Odinzowa, eine Femme fatale, über die sich der ganze Bezirk das Maul zerreißt. Nein, natürlich nicht wegen ihrer politischen Ansichten! So was hatten Frauen damals nicht – oder jedenfalls glaubte Turgenjew, dass Frauen sich nicht für Politik interessieren. Aber die Odinzowa heiratete einen alten Mann, um finanziell abgesichert zu sein. Und das ohne wenigstens vorzugeben, ihn zu lieben. Inzwischen ist ihr Mann gestorben, und die Odinzowa lebt mir ihrer Schwester und einer alten Tante auf dem ererbten Gut. Sie ist zufrieden, vielleicht ein bisschen gelangweilt, bis Basarow ihre Ruhe aufstört.
Der unabhängige Basarow, der alle Konventionen so heftig ablehnt, verliebt sich nämlich rasend in die kluge, selbstsichere und dabei so schöne Odinzowa. Natürlich geht das schief. Die Odinzowa sucht Unterhaltung, mag die Diskussion, will sich aber nicht auf eine tiefer gehende Beziehung einlassen. Basarow kann es nicht lassen und gesteht ihr seine Leidenschaft. Danach bleibt ihm nichts anderes übrig, als abzureisen. Nachdem er sich auch bei Nikolai und Pavel Kirsanow unmöglich gemacht hat, muss er heim zu seinen Eltern.
Und damit kann uns Turgenjew einen weiteren Menschentyp vorführen: Zwei liebenswürdige, anspruchslose Menschen, die nur eine Leidenschaft in ihrem Leben haben, den eigenen Sohn. Für ihn haben sie sich aufgeopfert, haben sich sein Studium buchstäblich vom Munde abgespart, haben ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund gedrängt, um dem Sohn alle Wünsche von den Augen abzulesen. Es ist tragisch, dass Basarow dies nicht einmal wahrnimmt. Für ihn sind seine Eltern eine Art Möbelstück, das seiner Bequemlichkeit dient, aber keine Rücksichtnahme erfordert.
So endet das Buch mit einer Katastrophe: Der große Basarow, der die ganze Welt aus ihren Angeln heben wollte, infiziert sich über einen kleinen Schnitt mit Typhus und stirbt innert weniger Tage. Turgenjew schildert mitfühlend, welchen Schmerz das den Eltern zufügt. Basarow aber spottet bis zuletzt: „Wer weint dort? Du, Mutter? Arme Frau. Für wen wird sie jetzt ihren wundervollen Borscht kochen? Und du, Wassilij Iwanowitsch (gemeint ist der Vater), du scheinst auch zu plärren... Nun, wenn das Christentum dir nicht hilft, so versuch es doch wenigstens, ein Philosoph zu sein, meinetwegen ein Stoiker. Du hast doch immer geprahlt, dass du ein Philosoph bist.“
Während Basarows Eltern das Teuerste begraben, was ihnen das Leben geschenkt hat, lässt Turgenjew Arkady und seinen Vater ihr bescheidenes Glück finden: Arkady heiratet Katya, der Vater Fenitschka, bald sind beide stolze Väter – und wenn sie nicht gestorben sind...
Die Odinzowa heiratet auch, allerdings nicht aus Liebe, sondern aus Kalkül. Diesmal ist ihr Erwählter ein vielversprechender Politiker, der ihr eine aufregende Existenz in der Hauptstadt verspricht.
Pavel dagegen bleibt allein. Er geht in die Fremde und schlägt dort seine Zeit tot.
Die Welt hat keiner von ihnen verändert. Sie hat sich einfach weitergedreht.
Hate Speach im 19. Jahrhundert
Und damit könnte dieser Artikel enden, hätte der Roman nicht unter seinen Lesern eine Reaktion hervorgerufen, die an einen modernen Shitstorm erinnert. Die politisierte Jugend fühlte sich durch Väter und Söhne zutiefst beleidigt. Wie konnte ein alter Mann es wagen, ihre revolutionäre Gesinnung in der Person Basarows so vorzuführen!
Unzählige Rezensionen und Artikel zerrissen den Roman in der Luft. Die russischen Studenten von Heidelberg rügten Turgenjew öffentlich. Dessen Apelle an Vernunft und Toleranz verhallten ungehört.
Die offene Feindseligkeit, die ihm von der radikalen Jugend entgegenschlug, vergällte Turgenjew den Aufenthalt in Russland. Er zog es vor, im Westen zu leben, wo man seinen Roman als das schätzte, was er ist: eine wunderbare Analyse verschiedener Menschentypen.
Und so starb der große russische Dichter Iwan Turgenjew am 22. August 1883 in Paris. Angesichts der heutigen Entwicklung unserer Gesellschaft, sollten wir ihn und seinen Roman Väter und Söhne wieder einmal lesen – und uns danach nicht ganz so wichtig nehmen.