Kennen wir eigentlich die Vornamen der griechischen Nymphen? Wie stellten sich die Römer den personifizierten Hunger vor? Und wieso tragen Hercules-Statuen eigentlich so oft ein Fell? Fragen wie diese interessieren heute kaum noch jemanden. Vor 250 Jahren war das anders: Wenn Sie wegen solcher Probleme nicht schlafen konnten, zeigten sie, dass Sie gebildet waren. Und wer wollte das nicht sein? Ein Buch durfte damals in keiner Handbibliothek des „politen Mannes“, also des Bildungsbürgers, fehlen: „der Hederich“, das „Mythologische Lexicon“ des Benjamin Hederich von 1724. Betrachten wir uns eine vom Autor selbst „verbesserte“ zweite Auflage von 1741.
Artikeltext:
Ein Schullehrer mit viel Freizeit
Im 18. Jahrhundert hatten die Lehrer – oder um im Zeitjargon zu bleiben: die Schulmeister – nicht nur vormittags recht und nachmittags frei, sie kämpften auch mit sehr viel weniger Zeitfressern als ihre heutigen Kollegen. Statt pädagogischer Vor- und Nachbereitung, Konferenzen und dergleichen konnte sich ein Lehrer wie Benjamin Hederich seinen umfangreichen Publikationen widmen. Hederich wurde 1675 im sächsischen Geithain geboren, studierte in Leipzig und Wittenberg und unterrichtete zunächst in einer Klosterschule und später als Rektor im sächsischen Großenhain. Bis zu seinem Tod 1748 veröffentlichte er fleißig Lehr- und Handbücher. Allerdings stellen sich einem die Nackenhaare bei dem Gedanken, dass damals tatsächlich Schüler oder Erwachsene die alten Sprachen mit Hederichs Schinken lernen sollten. Selbst in seinen Latein-Wörterbüchern sind nur die direkten Übersetzungen auf Deutsch, für alle weiteren Hinweise und Kommentare mussten die Schüler schon richtig fit sein, die waren nämlich auf Latein verfasst. Wie dann erst die Griechisch-Wörterbücher aussahen, können Sie sich wohl selbst vorstellen …
Hederich legte auch Nachschlagewerke zu Bereichen vor, die wir heute als historische Hilfswissenschaften bezeichnen: Heraldik, Numismatik und anderen. Das wirkmächtigste Buch aus seiner Feder war aber ohne Zweifel sein „Mythologisches Lexicon“. Der Titel alleine füllt eine komplette Seite und schon dieser barocke Wortreichtum zeigt, dass Hederich sich noch nicht als Aufklärer verstand, er sammelte einfach Wissen en masse.
Naiv, pöbelhaft, erfolgreich
Hederich nimmt die antiken Quellen wörtlich und erzählt viele Passagen sehr nah am Text nach. Man kann sich dann die Ovid-Lektüre sparen, zumal er in der Regel seine Angaben präzise belegt und auch die zitierten Autoren am Anfang auflistet. Auch der sächsische Schulmeister merkt allerdings, dass es nicht ohne Widersprüche zugeht. Hederich bügelt das nicht glatt, lässt solche Ungereimtheiten aber mit entwaffnender Naivität nebeneinander stehen. Da ist dann zum Beispiel eine gewisse Herophile „des Apollo, oder auch einer idäischen Nymphe und eines sterblichen Vaters, Cetophagus, Tochter.“ Nun zeichnet sich der antike Mythos dadurch aus, dass es zahlreiche Varianten gab und jeder Ort seine eigene Wahrheit von göttlichen Verwandtschaftsbeziehungen und Taten hatte. Hinterfragen ist jedoch nicht Hederichs Stärke.
1770 überarbeitete Johann Joachim Schwabe Hederichs Lexikon. Bei dem Umfang war das keine dankbare Aufgabe. Unsere Oktav-Edition von 1741 umfasst rund 1000 Druckseiten! Schwabe hinterfragte immer wieder die antiken Autoren. Der Geist der Aufklärung wehte nun auch in den als angestaubt empfundenen Hederich. Doch Schwabe war klug genug, den Hederich nicht komplett umschreiben zu wollen, schließlich hatte sich das Werk auch zuvor schon blendend verkauft. Eines aber störte ihn, wie er in seiner Einleitung gestand: „Hederich hatte manchmal die Laune, scherzen zu wollen, wozu die mythologischen Geschichten vielen Anlaß geben. Er that es aber gemeiniglich in einer Sprache, die etwas in das Pöbelhafte fiel. Dieß dünkte mich unanständig für einen Lehrer zu seyn, und ich wollte ihn lieber auch bey lustigen Sachen durchaus ernsthaft sehen.“
An dem pöbelhaften Lehrer hatten sich offensichtlich weniger die Leser gestoßen als der Bearbeiter. Aber für wen schrieb Hederich eigentlich sein Lexikon? Wer wollte so genau in die Untiefen des antiken Mythos eintauchen?
Wenn auch Goethe nicht mehr weiterweiß …
Der wohl bekannteste Nutzer war der Dichterfürst persönlich. Vom „Faust“ zum „Prometheus“ wimmelt Goethes Werk von mythologischen Bezügen. Da soll der „Hederich“ (in der Schwabeschen Überarbeitung) immer griffbereit gewesen sein. Und aus Goethes Tagebüchern und Gesprächsnotizen wissen wir, dass er auf das Lexikon gerne zurückgriff. Dem Weimarer Genie stieß allerdings das schulmeisterliche Auflisten von Erzählungen auf. In einem Gespräch mit dem Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf 1795 spottet Goethe über „die unnachahmliche Naivität des Magister Hederich“. Hederichs Einträge waren bisweilen durchaus ausführlich, um nicht zu sagen ausschweifend. In seinen Tagebüchern klagte Goethe, wie ihn Hederichs „mythologische Salbadereyen über Herkules“ nervten.
Und doch kursierte der „Hederich“ zwei Generationen nach seinem ersten Erscheinen unter den großen Schriftstellern der Weimarer Klassik.
Da hatte sich das Publikum gar nicht so geändert. Denn schon in seinem pompösen Titel hebt Hederich auf die Künstler ab: „Alles aber zum Nutzen und Gebrauch nicht nur der Studirenden, sondern auch vornehmlich vieler Künstler und anderer politen Leute“.
In seiner Einleitung betont er, dass gerade die Künstler in ihren Darstellungen in Wort und Bild die Götter und Heroen nach den Vorstellungen der Alten zu erschaffen hätten. Dafür mussten sie natürlich wissen, wie Homer und Co. sich das göttliche Personal so ausgemalt hatten.
Aber auch Mediziner und Wissenschaftler würden nach Hederichs Ansicht von mythologischen Kenntnissen in ihrer Arbeit profitieren. Hier kommt ganz der Schulmeister durch, demzufolge ein Arzt gefälligst zu wissen hatte, dass Narcissus und Crocus nicht nur Pflanzen der Heilmedizin, sondern ursprünglich Menschen gewesen waren …
Aber Hederich hat noch ein Argument: Selbst wenn die Mythologie keinen praktischen Nutzen im Berufsleben haben möge, so seien Kenntnisse auf dem Gebiet doch für jeden „Polit-homme“ unverzichtbar. Schließlich wimmelte es im Alltag eines gebildeten Menschen von Münzen, Medaillen oder Statuen. Es wäre überaus peinlich gewesen, wenn im Anblick eines bedeutungsschweren Kunstwerks ein „Polit-homme“, „da ihn ein anderer drum fraget, sich mit seiner Unwissenheit entschuldigen muss. Und dergleichen kan denn so wohl einem Hof-Manne und reisenden Cavaliere, als galanten Kauf-Manne und dergleichen begegnen, also, daß alle und iede, so nicht unter dem gar gemeinen Pöbel mithin lauffen wollen, etwas von dieser gelehrten Galanterie zu wissen nöthig haben.“
Eine gewisse Bildung setzt das „Mythologische Lexicon“ voraus: Beachten Sie die griechischen Namen in griechischer Schrift, die Beugungshinweise für die lateinischen Versionen. Das war alles nötig, denn zu dieser Zeit gehörten auch zumindest die lateinischen Namen dekliniert: „an statt des Iovis“ (Wissen Sie noch? Das ist der Genetiv von Jupiter!); „Tochter und Gemahlin des Teleontis“ usw. Damit man nicht den Überblick über die Seitensprünge und Verwandtschaftsbeziehungen verliert, fügte Hederich am Ende noch mehrere Stammbäume hinzu. Auch das dürfte in einer Zeit, in der es wichtig war, aus welchem Haus man stammte, noch wichtiger gewesen sein als heute.
Hederichs Lexikon war so erfolgreich, dass viele Artikel in den Brockhaus dieser Zeit übergingen, in das Zedler’sche Universal-Lexicon.
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