„Walls work“, Mauern funktionieren. So versichert uns ein gewisser amerikanischer Präsident heute oft. Nun, zumindest im Mittelalter taten sie das. Sie schützten Städte und Burgen vor feindlichen Armeen. Doch dann kam das Schießpulver und mit ihm die Kanonen. Die waren anfangs eher Spielerei und nicht die erhoffte „Wunderwaffe“. Mit der Zeit funktionierten sie immer besser, waren einfacher zu transportieren und trafen gelegentlich sogar, was sie sollten, nämlich die Mauern von Städten und Burgen. Die waren der explosiven Feuerkraft nicht gewachsen und stürzten ein. Mauern funktionierten also nicht mehr.
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Wie die Posaunen vor Jericho…
Diesen Aha-Moment hatte man in Europa etwa um 1450, als an entgegengesetzten Ecken des Kontinents Kanonen ihre Wirkung bewiesen: 1453 wurde das alte Konstantinopel von den Osmanen erobert. Die seit fast 1000 Jahren unüberwundenen Mauern hielten dem Beschuss der gewaltigen osmanischen Kanonen nicht mehr stand.
In Nordfrankreich ging etwa zeitgleich der 100jährige Krieg zwischen England und Frankreich in seine letzte Phase. Innerhalb nur eines Jahres konnte der französische König 70 Städte und Burgen, die die Engländer in den Jahrzehnten zuvor mühsam erobert hatten, mühelos zurückerobern. Denn seine Armeen verfügten über Kanonen. Allein deren Anblick veranlasste die Einwohner von unzähligen Städten dazu, sich ihre schönen Städte nicht für einen weit entfernten englischen König in Trümmer schießen zu lassen. Sie ergaben sich, ohne dass die Kanonen überhaupt zum Einsatz kamen.
Neue Ideen für alte Mauern
Nun stellte man sich also europaweit die Frage, wie man künftig Städte und strategische Positionen effektiv vor Kanonen schützten konnte. Viele bedeutende Denker - darunter sogar der große Leonardo und ein Albrecht Dürer - machten sich Gedanken über die ideale Festung. Es war Leon Battista Alberti, der in seinem 1452 erschienen Buch De Re Aedificatoria (= Über die Baukunst) die Grundzüge für eine neue Art von Befestigungssystem legte, das sich in der ganzen damals bekannten Welt durchsetzen sollte.
Das Konzept war dabei das Folgende: Statt hoher und vergleichsweise dünner Mauern baute man kleinere, aber dicke Mauern, hinter denen Erdreich aufgeschüttet wurde, das die Energie der Kanonenkugeln absorbierte. Die Anlagen erstreckten sich in mehreren Ringen weit um die eigentlichen Städte, damit die feindlichen Kanonen gar nicht erst in Reichweite kommen konnten. Durch die spitz zulaufenden Bastionen gab es zudem keine toten Winkel: Der anrückende Feind war damit von mehreren Seiten angreifbar. Vorfestungen deckten Schwachstellen zwischen den Bastionen ab und mussten vom Angreifer separat erobert werden. Zudem hatte man auf den Mauern genug Platz für eigene Kanonen.
Von oben betrachtet sahen solche Festungen aus wie Sterne. Bald erhielt, was immer schützenswert schien, so eine Festungsanlage. Doch deren Konstruktion war nicht so ganz einfach. Festungsbau wurde zu einer Kunst. Männer, die die Feinheiten des Festungsbaus beherrschten, waren begehrt. Schließlich entschied eine gute Festung über Fortbestand oder Untergang. Und wer wissen wollte, wie eine gute Festung aussah, der konnte das aus Büchern lernen.
Eine ungewöhnliche Karriere
Unser Buch schrieb ein Mann, der sich mit Festungen auskannte: Der Straßburger Daniel Specklin (1536–1589). Und dabei hatte er eigentlich die Seidenstickerei erlernt. Doch auf der damals unter Handwerkern üblichen Wanderschaft fand er seine wahre Berufung, den Festungsbau. Der ließ sich natürlich vor allem dort lernen, wo welche gebaut wurden. Das war damals vor allem in Ungarn, wo die Habsburger ihren Besitz gegen die Osmanen sicherten. Specklin war vor Ort, genauso wie in Wien, wo er am Bau der neuen Verteidigungsanlagen mitbaute, die 30 Jahre nach der (ersten) Belagerung durch die Türken errichtet wurden. Seine Fähigkeiten brachten ihm trotz seiner Jugend die Position eines Bauführers ein, als der er für eigene Baustellen die Verantwortung trug.
Danach zog es ihn überall dorthin, wo er Festungen bauen durfte. Leider konnte er davon nicht leben. So musste er einen Großteil seines Lebens in der Heimatstadt Straßburg als Seidensticker arbeiten. Der gelegentliche Ausbau nahegelegener Orte zu modernen Festungen blieb eine Nebenbeschäftigung.
Kein Wunder, dass Specklin in seiner Freizeit vom Festungsbau träumte und sein gesammeltes Wissen in einem Buch über das Festungswesen niederschrieb. Es erschien 1589, kurz vor seinem Tod. So erlebte der Autor den Erfolg seines Standardwerks nicht mehr. Seine Architectura von Vestungen galt damals und gilt uns heute als wichtigstes Buch über den Festungsbau in deutscher Sprache.
Seine Architectura ist ein Lehrbuch der Festungsbaukunst und deckt detailliert sämtliche Bereiche des Metiers ab. Es lehrt die Grundlagen, und wie diese bei verschiedenen Geländeformen anzuwenden sind. Wie kann man Hügel und Flüsse optimal in das Verteidigungssystem integrieren? Welche Gegenmaßnahmen sind bei den verschiedenen Belagerungstaktiken zu ergreifen.
Berühmt wurde Specklin wegen seiner Weiterentwicklung der Ravelins. Darunter verstand man damals Vorfestungen, die Schwachstellen von Festungsanlagen deckten. Seine Form der Ravelins wurde während der kommenden 150 Jahre zum Standard.
Wie erfolgreich und bedeutend sein Buch war, lässt sich auch daran ablesen, dass es immer wieder neu aufgelegt wurde: 10 Jahre später in überarbeiteter Form von seinem Schwager, weitere 10 Jahre später – 1608 – in der uns vorliegender Form erneut. Sogar noch im 18. Jahrhundert gab es mehrere Neuauflagen, denn sein Buch hatte nichts an Aktualität verloren. Gar nicht so schlecht für einen Seidensticker mit einer Neigung zum Festungsbau!
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Sie möchten selbst einen Blick ins Buch werfen?
Hier können Sie sich Neuf-Brisach aus der Luft anschauen.
Wenn Sie ein wenig mehr Zeit mitbringen, können Sie sich auf YouTube eine Arte-Dokumentation über den französischen Baumeister Vauban ansehen.