Bücher sind keine Spielzeuge, sondern echte Freunde, die uns über schwierige Zeiten hinwegtrösten können. Deshalb behandelt man sie sorgsam, so lehrte es mich meine Mutter. Sie musste es wissen. Sie las für ihr Leben gerne und hatte schwierige Zeiten erlebt: Den Zweiten Weltkrieg, die Flucht aus der Heimat, Aufbau einer neuen Existenz im fremden Land. Sie war 1947 ein bisschen jünger als das Geburtstagskind, das 1947 die Meistererzählungen des Anton Tschechow von einer gewissen Emmely geschenkt bekam.
Für uns soll in diesem Artikel ausnahmsweise nicht der Inhalt des Büchleins im Mittelpunkt stehen, sondern sein Preis. Denn als ich das perfekt erhaltene Bändchen im Antiquariat Tröger kaufte, fand ich darin nicht nur die Widmung von Emmely, sondern auch den Verlagsprospekt der Manesse Bibliothek der Weltliteratur. Ihm entnahm ich, was Emmely für das Geschenk bezahlte.
Was bedeuteten 7.70 CHF im Jahr 1947?
1947 kostete dieser Manesse-Band mit seinen 610 Seiten 7.70 CHF. Und damit stellt sich die Frage, was bedeuteten 7.70 CHF damals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg?
Sie bedeuteten zunächst, dass ein Schweizer Verlag Bücher nur auf dem Heimatmarkt verkaufen konnte. In Deutschland hatten die Menschen vor dem Währungsschnitt und nach dem Hungerwinter ganz andere Sorgen. Auch in der Schweiz stand das tägliche Brot im Mittelpunkt. Der größte Teil des Einkommens ging immer noch für Nahrungsmittel drauf, sofern man sie überhaupt erhielt. Mehl, Zucker und einige andere Lebensmittel waren rationiert. Doch die Schweizer Politiker konnten stolz darauf sein, dass sie fast die gesamte Bevölkerung – die damals wesentlich kraftraubendere Arbeit leistete als wir heute – mit 2.160 Kalorien täglich versorgte.
Schauen wir einmal genauer hin, was eine Schweizer Durchschnittfamilie für ihr monatliches Einkommen kaufte. Das Eidgenössische Statistische Amt stellt dazu genug Material zur Verfügung.
1947 verdiente eine Familie im Jahr(!) 8.204 Franken. Zum Vergleich: Heute liegt der Medianlohn im Monat(!) bei 6788 Franken; ein durchschnittliches Haushaltseinkommen beträgt 117.456 Franken. Familien mit Kindern haben etwas mehr, nämlich 157.008 Franken. Setzen wir das ins Verhältnis entspricht 1 Franken von 1947 19,13 Franken heute – die 7,70 Franken für den Tschechow entsprächen also 147,36.
Mit anderen Worten: Als Emmely am 18. März 1947 ihre Widmung in die Meistererzählungen von Anton Tschechow schrieb, hatte sie kein kleines, sondern ein sehr großes Geschenk gemacht. Wir dürfen annehmen, dass Emmely über ein eigenes Einkommen verfügte, selbst arbeiten ging und wahrscheinlich eine (verhältnismäßig) gut bezahlten Stelle vielleicht in der Verwaltung hatte. Wenn das so war, dann musste sie bei einem Stundenlohn von 1,33 bis 1,73 Franken viereinhalb resp. sechs Stunden arbeiten, um den Gegenwert des Buchs verdient zu haben.
Kino im Kopf
Emmely griff bei der Auswahl des Buchs also wahrscheinlich nicht einfach nach dem nächstbesten Gegenstand, sondern überlege sorgsam, mit was sie am meisten und am längsten Freude machen würde. Sie entschied sich für die Meistererzählungen von Anton Tschechow, der berühmt dafür ist, das russische Leben detailliert und nuancenreich zu schildern. Emmely schenkte Kino im Kopf zu einer Zeit, in der noch kaum jemand wusste, wie die russischen Steppen aussahen. Niemand reiste damals so weit; die Wochenschauen waren kurz und konzentrierten sich auf spektakuläre Ereignisse. Wer wusste damals, wie „der Russe“ ist? Jener „Russe“, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg anschickte, von Osteuropa Besitz zu ergreifen und den kalten Krieg anzuzetteln.
Ich wüsste nur zu gerne, wie das kleine Zimmerchen aussah, in dem dieses Büchlein gelesen wurde. War sein Leser, seine Leserin satt oder hungrig? War das Zimmer warm und behaglich? Oder wurde dieses Büchlein im Café gelesen, lange Stunden neben einer einzigen Schale Kaffee, aber dafür im geheizten Raum?
Wir werden es nie wissen. Was ich aber weiß, ist, dass der Besitzer, die Besitzerin den Ratschlag meiner Mutter beherzigt hat und sehr gut auf dieses Büchlein aufpasste. Sein Schutzumschlag ist perfekt erhalten, nur ziemlich vergilbt, weil die ersten Manesse-Bände mit sehr schlechtem Papier produziert wurden. Wir dürfen es nicht vergessen: Der Krieg war gerade vorbei und Papier ein seltener Rohstoff.
Auch ich werde sorgfältig mit den Meistererzählungen von Tschechow umgehen. Und irgendwann wird dieses Buch dann weitergegen an eine neue Generation von Lesern, wenn die dann überhaupt noch Interesse haben an einem Buch des Jahres 1947. Musste Emmely einen großen Teil ihres Tagesverdienstes investieren, hat es mich gerade noch den Gegenwert eines Espresso gekostet. Meine Nachfolger werden vielleicht nicht einmal mehr willens sein, überhaupt etwas für dieses Buch zu bezahlen.