Wer die Schrift „Über die Gefahr des politischen Gleichgewichts in Europa“ geschrieben hat, wissen wir nicht. Der Auftraggeber dagegen, ist ziemlich schnell gefunden. Die 1790 anonym in London in deutscher Sprache veröffentlichte Schrift wurde von Gustav III. von Schweden in Auftrag gegeben, also von jenem absolutistischen König, der ein Jahr vor Ludwig XVI. sterben sollte, und zwar nicht auf dem Schafott, sondern während eines Maskenballs. Wir erzählen die Geschichte von einem, der das Gleichgewicht in seinem Land zu seinen Gunsten verändern wollte.
Artikeltext:
Das Gleichgewicht der Kräfte
Fragen wir uns doch erst einmal, was versteht man in der Politik überhaupt unter einem Gleichgewicht? Meyers Großes Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1908 definiert den Begriff folgendermaßen: „... ein derartiges Machtverhältnis nebeneinander bestehender Staaten, vermöge dessen kein einzelner von ihnen die Selbstständigkeit oder die wesentlichen Rechte des anderen, ohne wirksamen Widerstand zu finden und mithin Gefahr für sich selbst befürchten zu müssen, auf die Dauer zu beeinträchtigen imstande ist.“
Mit anderen Worten: Gleichgewicht herrscht dann, wenn kein Mächtiger so viel Macht auf sich vereint, dass er nicht durch ein Bündnis seiner Gegner in die Schranken gewiesen werden kann. Doch genau das hatte Gustav III. getan, nicht in der Außen-, sondern in der Innenpolitik.
Das Gleichgewicht der Kräfte in Schweden
Gustav III. hatte 1772 in einem Staatsstreich die Macht des Reichsrats zu seinen Gunsten stark beschnitten. In diesem Reichsrat hatten seit dem Tod Karls XII. die Adligen, die Geistlichen, die Bürger und die Bauern gemeinsam mit ihrem König die Kompromisse ausgehandelt, die den Wohlstand und vor allem den Frieden Schwedens erhielten. Damit war es jetzt vorbei.
Gustav veränderte im Eilverfahren sein Land. Nicht alles war schlecht. Schließlich war der neue König ein Anhänger der Aufklärung. Er schaffte die Folter ab und führte die Pressefreiheit ein. Er förderte Industrie, Landwirtschaft und Geldwesen. Er gründete die Schwedische Akademie und holte eine Reihe von ausgezeichneten Künstlern an den Hof. Ja, er beabsichtigte sogar ein schwedisches Kolonialreich zu errichten und gründete zu diesem Zweck eine Aktiengesellschaft, die sich auf den einträglichen Sklavenhandel spezialisierte.
Und spätestens an dieser Stelle wird klar: Gustav III. war nicht an dem Wohl der Menschheit interessiert, sondern daran, aus Schweden einen reichen Musterstaat zu machen, der einen Platz unter den europäischen Führungsmächten einnehmen sollte.
Das Gleichgewicht der Kräfte in Europa
Natürlich kosteten all diese Neuerungen Geld. Und den vielen Nutznießern standen wie bei allen Veränderungen auch Opfer gegenüber. Das interessierte den König nicht. Er hatte nicht die Geduld, Schweden langsam zu reformieren. Und als Staatsverschuldung und Unzufriedenheit seiner Untertanen zu groß geworden waren, begann er einfach einen Krieg, immer ein probates Mittel, um von innenpolitischen Mängeln abzulenken.
Ende Juni 1788 schickte er Truppen nach Russland, um ordentliche Landgewinne verbuchen zu können. Seine spektakuläre Idee war es, St. Petersburg zu überrumpeln und damit die Zarin zu zwingen, von ihr kontrollierte Gebiete an Schweden abzutreten. Der Überfall scheiterte kläglich.
Ja, es kam noch schlimmer: Die adligen Offiziere weigerten sich, Gustavs Befehl zur Eroberung der finnischen Grenzfestung Frederikshamn auszuführen. Die meuternden Truppen boten auf eigene Faust Russland den Frieden an. Außerdem trat Dänemark in den Krieg ein, und spätestens jetzt wurde es für den schwedischen König richtig brenzlig.
Über die Gefahr des politischen Gleichgewichts in Europa
Und zu diesem Zeitpunkt erschien eine Schrift zeitgleich in verschiedenen Metropolen und verschiedenen Sprachen. In französischer Sprache hieß das in London und Stockholm erschienene Buch „Du peril de la balance politique, ou exposé des causes, qui l’ont altéré dans le Nord depuis l’avenement de Catherine II au Throne de Russie“. Zeitgleich publizierte es ein Drucker in London in englischer Sprache: „The danger of the political balance of Europe, translated from the French of the King of Sweden“. Deutsche Ausgaben, von denen eine in der Bibliothek des MoneyMuseums zu sehen ist, entstanden ebenfalls im Jahre 1790, und zwar in London und Hamburg.
Wer der Autor war? Wir wissen es nicht, aber der König von Schweden hatte mit Sicherheit seine Finger im Spiel. Schließlich präsentierte er sich in der englischen Ausgabe als Übersetzer aus dem Französischen, eine Tätigkeit, die nicht allzu viele Monarchen je ausgeübt haben dürften...
Gustav III. nutzte die damals hoch moderne Form des politischen Journalismus, um mit dieser Wahrheit und Verleumdung mischenden Streitschrift seine Gegnerin zu denunzieren, Katharina II. von Russland. Sie habe ihren Gatten, einen idealen Herrscher, betrogen und verraten, als sie ihn ausschaltete, um selbst die Macht zu übernehmen. Seitdem habe sie ein Gebiet nach dem anderen erobert, Kurland und natürlich Polen. Ja, der Autor stellt sogar die gewagte These auf, dass Katharina II. von Russland hinter der Opposition gegen Gustav III. in Schweden stecke.
An wen sich die Schrift richtet, geht aus dem letzten Kapitel hervor: Dänemark solle sich anrühren lassen und seine Unterstützung für Russland beenden. England und Preußen mögen Dänemark dazu bewegen. Tatsächlich griff Dänemark nicht mehr in den Krieg ein, so dass sich Gustav III. auf die innenpolitischen Gegner und Russland konzentrieren konnte.
Und noch einmal: Das Gleichgewicht der Kräfte in Schweden
Gustav schaltete die prorussischen Offiziere aus und nutzte den Vorwand, um gleich noch eine Verfassungsreform mit dem schönen Namen „Vereinigungs- und Sicherheitsakte“ auf den Weg zu bringen. Mit diesem Erlass verlor der Reichsrat sämtliche Befugnisse, mit denen er dem König hätte gefährlich werden können.
Gustav III. hatte so mit einem Schlag alle ehemals einflussreichen Adligen und Politiker ausgeschaltet. Der entscheidende Sieg über Russland gelang noch im gleichen Jahr.
Damit hatte Gustav die alleinige Macht in Schweden. Er sollte sie nicht allzu lange behalten. Denn schon verschworen sich einige Adlige gegen ihn, um den Tyrannen zu morden. Während eines Maskenballs in der Nacht vom 16. auf den 17. März 1792 gelang es Jacob Johan Anckarström den König mit einer Pistole tödlich zu verwunden.
Gustav III. quälte sich fast zwei Wochen, ehe er endlich starb. Ob er es auf dem Totenbett bereut hat, dass er das Gleichgewicht seines Landes ins Schaukeln gebracht hat?
Den gesamten Text der Denkschrift finden Sie bei Google.
Giuseppe Verdi hat dieses Ereignis in eine große Oper verwandelt. Wenn Sie sie sehen wollen, bietet Youtube eine Aufführung der Wiener Staatsoper von 1986 an.
Wikipedia offeriert einen Überblick, welche Parallelen die Oper zum tatsächlichen Geschehen des Attentats auf Gustav III. hat.