Wann haben Sie das letzte Mal ein Skelett gesehen? Als Maske bei Halloween? in einem etwas angestaubten Gruselfilm? Das Skelett spielt als Personifikation des Todes in unserer westlichen Kultur kaum noch eine Rolle. Die Faszination, die menschliche Überreste auf die Menschen der vergangenen Jahrhunderte ausübten, können wir nicht mehr nachvollziehen. Das Memento Mori - gedenke, dass Du sterblich bist, ist selbst in Zeiten von Corona einer Verdrängung des Todes gewichen. Ja, gerade heute findet Sterben allein im Krankenhaus statt, und nur wenige Menschen haben in ihrem Leben jemals einen Leichnam gesehen.
Deshalb ist uns der Totentanz fremd geworden. Es handelt sich um ein künstlerisches Motiv, das um 1400 entstand. Ein Skelett als Personifikation des Todes führt die Angehörigen der verschiedenen Stände als Tanzpartner im Reigen. Jahrhundertelang galt der Totentanz als eine Erinnerung daran, dass jedes Leben einmal enden muss und dass während des Jüngsten Gerichts darüber entschieden wird, ob der Verstorbene ein gutes oder ein schlechtes Leben geführt hat.
Lassen wir uns also vom Skelett nicht ablenken. Es geht in den Totentänzen nicht eigentlich um den Tod. Der Totentanz spricht vom Leben. Was kann man als ein gutes, gelungenes, was als ein schlechtes, gescheitertes Leben bezeichnen?
Belohnte ein allmächtiger Gott im Denken der frühneuzeitlichen Menschen das gute Leben mit dem Paradies, das schlechte mit der Hölle, haben wir heute die Angst vor einer Bestrafung nach dem Tod längst verloren. Und trotzdem erzählen uns Sterbebegleiter, dass anscheinend diejenigen leichter und zufriedener gehen, die mit sich selbst und ihrem Leben im Reinen sind.
Was bedeutet das für unser Leben? Können uns am Ende die uralten Totentänze immer noch die Botschaft vermitteln, wie man ein gutes Leben führt?
Artikeltext:
Oh du verfluchte Gier!
Nein, nein, mit Gold lass ich mich nicht bestechen.
Was sperrst du dich so sehr?
spricht der Tod zum Kaufmann.
Der Künstler hat die eindringliche Szene mit geradezu psychologischer Beobachtungsgabe eingefangen. Wie hochmütig tritt der befehlsgewohnte Kaufmann dem Tod gegenüber! Kein moderner Manager könnte es ihm an Selbstbewusstsein gleichtun! Der Tod steht etwas unterhalb und blickt dem Mann aufmerksam und ruhig ins wütende Angesicht. Er hat seine Sense und sein Stundenglas fallengelassen, um den Kaufmann umso fester zu ergreifen. Wir wissen, der Kaufmann hat keine Chance, auch wenn er sich noch so sehr wehrt.
Und vielleicht ist da auch ein kleiner Hauch Schadenfreude, wenn wir die Szene beobachten. Wie der Kaufmann sich empört:
Ich, der ich mein Gold und Gut
durch Trug und List erreichte,
werde jetzt wie die armen Leute
des kalten Todes nackte Beute.
Das ist doch das tröstliche für uns alle, die wir es nicht zu großem Reichtum gebracht haben. Am Ende ist jeder nur ein sterblicher Mensch!
Ja, mit dem reichen Kaufmann möchte in dieser Situation niemand tauschen, so sehr man ihn vielleicht noch ein paar Tage vorher beneidet hat. Denn wenn er fragt
Wo kommt mein Reichtum hin?
dann sind wir uns alle bewusst, dass man sich mit Geld zwar ein sehr angenehmes Leben machen kann, dass aber die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht mit Geld zu bezahlen sind. Sein Geld wird ihm kein längeres Leben bescheren!
Damit illustriert der Totentanz eigentlich nichts anderes als die sehr moderne Frage nach der Work-Life-Balance. Wie viel Lebensqualität sind wir bereit, für wie viel Geld aufzugeben? Es ist eine sehr persönliche Frage, die jeder für sich anders beantworten wird. Und ein gutes Leben ist verbunden mit der richtigen Antwort auf die Frage: Was ist mir in meinem Leben wirklich wichtig?
Der Kaufmann, den der Tod hier am Limmathafen der Stadt Zürich so überraschend aus seinen Geschäften reißt, scheint sie falsch beantwortet zu haben.
Vom zweifelhaften Glück ein Vermögen zu erben
Fast noch schlimmer als den Kaufmann trifft es den Wucherer, also den Mann, der nicht von seiner Hände Arbeit lebt, sondern davon, dass er sein Geld für sich arbeiten lässt. Das zeigt uns der Künstler des Totentanzes überdeutlich.
Der Wucherer sitzt in einem Palast. Er ist wohl genährt, trägt ein teures Gewand und hohe Stiefel. Der Tisch, auf dem er sein Geld zählt, ist mit einem exquisiten Damast-Tuch bedeckt. Im Hintergrund schmückt ein kostbares Gemälde den Raum. Natürlich etwas Weltliches: Eine unbekleidete Dame zeigt für die damalige Zeit schamlos ihre Nacktheit. Und sehen Sie, wie das Geld sich in den Mittelpunkt drängt. Es ist auf dem Tisch gehäuft, lagert in Säcken und Truhen unter dem Tisch, ja sogar an der Wand hängen prall gefüllte Geldbeutel, nicht zu vergessen die Geldkatze, die der Mann an seinem Gürtel trägt. Wie dieser Wucherer zu Lebzeiten gedacht hat, sagt uns der Text des Totentanzes:
Ich leb’ in stolzer Ruh
und schließ die Kisten auf und zu!
Ich sehe gut, wo man gewinnt,
nicht wenn man Gott, wenn man dem Gelde dient.
Der Pfarrer, dieser arme Narr,
sagt, dass Schätze die Hoffnung von Narren sind.
Na, das werden wir dann sehen.
Er sieht es tatsächlich: Der Tod kommt geradezu spielerisch zu ihm, rauft ihm den Bart, ergreift einen der Geldbeutel und nutzt ihn, um dem Wucherer den Schädel einzuschlagen. Was danach mit dem Mann geschieht, dafür braucht es keine Phantasie: Schon sitzt auf der Schulter des Wucherers ein Teufel, und ein weiterer Teufel - man beachte die Bocksfüße - schaufelt die Münzen, die auf dem Tisch liegen, in seinen eigenen Beutel. Der Tod bemerkt dazu:
Gold ist dein Gott.
Lass sehen, ob er dir helfen kann.
Nun, auch wenn wir heute den Begriff des Wuchers noch benutzen, ist das, wofür er steht, weit entfernt von seinem frühneuzeitlichen Äquivalent. Den kirchlichen Autoritäten war die Macht des Geldes unheimlich. Sie war in der Lage, den Stand eines Menschen zu verändern. Plötzlich hingen Kaiser und Könige von diesen Bürgern mit ihren dicken Geldkatzen ab. Deshalb musste man Gebote erlassen, Gebote, die von Adligen, Kirchenangehörigen und Bürgern mit der Nonchalance übertreten wurden. Nicht umsonst hatten so viele Bürger damals so schreckliche Angst vor der Hölle.
Für uns ist es heute nicht mehr verwerflich, für unser erspartes Geld Zinsen zu erhalten. Im Gegenteil. Dass wir demnächst Negativzinsen auf Spargeld zahlen sollen, empört uns zutiefst.
Was also kann uns dieses Bild noch sagen? Vielleicht dass es nicht gut ist, für sein Geld nie gearbeitet zu haben. Dass es ungesund ist, wenn einer schon bei seiner Geburt weiß, dass er auf Grund des familiären Vermögens nie wird arbeiten müssen? Schließlich, so weiß der Volksmund, macht Geld nicht glücklich. Und wir kennen das Schicksal einer Christina Onassis, wissen um die Abstürze einer Lisa Maria Presley. Und wie sie alle heißen, die keine Geldsorgen kennen.
Könnte es sein, dass diejenigen, die sich nicht um die Notwendigkeit kümmern müssen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, es wesentlich schwerer haben, einen Sinn in ihrem Leben zu entdecken?
Profit ohne Skrupel
Nein, niemand fühlt sich gerne als Verbrecher, und das tut wohl auch der Wirt nicht, dem der Tod da so übel mitspielt. Der Wirt, der aus einem noblen Gasthaus getreten ist, um den Gast zu begrüßen, wird von dem geradezu außer Rand und Band geratenen Tod misshandelt. Er tritt ihn, er rauft ihm die Haare, er schlägt ihm sein Gepäck um den Kopf und ahmt damit eine Wirtshausschlägerei nach, wie der Wirt sie wohl schon allzu oft miterlebt hat, wahrscheinlich allerdings eher als Beobachter denn als Teilnehmer.
Und damit sind wir einem angekommen, der selbst zwar nichts Böses getan hat, aber bestens daran verdient, dass er anderen die Möglichkeit gegeben hat, so richtig die Sau rauszulassen. Oder wie er selbst dem Tod gegenüber bekennt:
Für Gold erlaubt ich wie die Skythen,
ja wilder als ein Tier zu wüten.
Kein Laster kann so gräulich sein,
ich ließ es zu, bei Spiel und Wein. ...
Ach, ach, wie ist nun mein Gewinn
dahin! Dahin!
Tatsächlich können wir diesen armen Wirt wohl wirklich gut verstehen. Was kann er dafür, wenn die Männer das Saufen nicht vertragen und hinausgehen, um zu raufen und Frauen zu vergewaltigen? Was kann die Tabakindustrie dafür, dass Kettenraucher an Lungenkrebs sterben? Ist es nicht die Freiheit jedes Menschen, Risiken einzugehen? Warum soll der Staat nicht an Online-Spiel-Portalen verdienen, indem er an jedem Verlust, den ein Spielsüchtiger macht, durch die Steuer mitverdient? Und selbstverständlich ist es uns nicht zuzumuten, dass wir überprüfen, welche Firmen der Aktienfond unterstützt, der da die höchste Rendite bietet.
Die Frage ist: Wie lange kann man es verdrängen, dass andere für unseren Profit leiden? Macht es eine Schuld kleiner, wenn wir wissen, dass nicht nur wir, sondern viele andere dieselbe Schuld tragen?
Sparsam auf Kosten der Armen
Während wir mit leichtem Mitgefühl den schrecklichen Tod des Wirts beobachten, können wir uns am Tod des Mannes, den wir auf diesem Bild sehen, so richtig freuen: Der Künstler des Totentanzes präsentiert uns den Zürcher Schaffner und Waisenvogt, den Vorsteher des frühneuzeitlichen Sozialamts sozusagen. Der würdige Herr mit seinem prächtigen Bart ist wohl genährt, sitzt in einem eindrucksvollen Büro und trägt natürlich ein teures Gewand. Schauen Sie genau hin: Der Raum ist gut geschützt. Ein eisernes Gitter verhindert, dass jemand von außen eindringen kann. Das ist wichtig, denn hier lagern die Zürcher Gelder, die für die Armenfürsorge vorgesehen sind.
Was aber tut der Waisenvogt? Sehen wir ihn beim Austeilen von Münzen an notleidende Bittsteller? Nein, sie scheinen vergebens zu diesem hartherzigen Beamten gekommen zu sein. Und dafür rächt sich nun der Tod: Er schlägt dem Waisenvogt seine Bestattungsurkunde ums Maul, klettert dazu getrieben von Wut geradezu über den Tisch. Das Ende dieses Beamten wird nicht friedlich sein!
Und doch tut er nur seine Pflicht. Er schont die Staatskasse. Selbst lebt er gut von seinem Amt, das Wohl der ihm Anvertrauten interessiert ihn dagegen nicht.
Kommen uns bei diesem Bild nicht die anklagenden Blicke afrikanischer Flüchtlinge in den Sinn, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um einen kleinen Anteil an unserem Wohlstand zu erhaschen? Müssen wir nicht vielleicht daran denken, dass wir für sie nichts erübrigen können, während große Unternehmen für viele Milliarden immer mal wieder vom Staat gerettet werden?
Es ist eben eine Frage der Prioritäten. Und der Zürcher Waisenvogt hat anscheinend die falschen gesetzt.
Verantwortung im Amte
Ein Amt bedeutet eben nicht nur Macht, sondern auch Verantwortung. Wie schön, dass uns der Totentanz auch Menschen zeigt, die mit ihrer Verantwortung sinnvoll umgegangen sind. Dieses Bild präsentiert uns einen Richter inmitten seines Gerichtssaales. Sie sehen die hölzerne Verkleidung der Stube, wie wir sie aus vielen alten Zürcher Häusern kennen. Auf einem erhöhten Richtstuhl sitzt unser Richter unter einem vornehmen Baldachin. Und trotzdem scheinen die Armen sich ihm vertrauensvoll zu nähern. Viele stehen da, Männer und Frauen, Alte und Kinder, Adlige und Bürger. Sie alle warten geduldig, bis der Richter sich ihrer Angelegenheit widmen kann.
Doch das wird er nicht mehr tun. Geradezu zärtlich zeigt ihm der Tod die abgelaufene Stundenuhr und nimmt ihm sanft den Richtstab, Zeichen seines verantwortungsvollen Amtes, aus der Hand. Und der Richter ist froh:
Wie gut, ich vergaß es nicht,
dass ich selbst muss vor Gericht.
Ich half der Unschuld aus der Not,
nun hoffe ich, es hilft mir Gott.
Wir können es nachvollziehen. Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Das Bewusstsein, ein Amt zum Wohle aller auszuüben, vermittelt eine tiefe Befriedigung. Und das sieht auch die moderne Psychologie so. Einzig auf seinen Eigennutz zu sehen, schafft wesentlich unzufriedenere Persönlichkeiten.
Erfolg im Scheitern
Denn merkwürdigerweise scheint der Erfolg der eigenen Mission für die persönliche Zufriedenheit nicht so wichtig zu sein als die Überzeugung das richtige zu tun. Wer weiß, dass er im Recht ist, kann auch mit Fehlschlägen umgehen. Und genau diese Botschaft vermittelt uns auch der Totentanz. Er assoziiert sie mit dem Kurfürsten, einem von sieben hohen Adligen, die in der frühen Neuzeit das Recht besaßen, den Kaiser zu wählen. Nicht dass sie danach die kaiserliche Politik hätten entscheidend beeinflussen können. Stellen wir uns vor, wir hätten da keinen altmodischen Kurfürsten vor uns, sondern einen überzeugten Politiker, der für seine Überzeugung - welche auch immer sie sei - einzutreten bereit ist.
Und dieser Kurfürst-Politiker sagt nun:
Wie gern verlass ich Amt und Leben.
Mir wird ein bessres Los gegeben!
Mein Herz sagt mir, dass ich getreu
dem Vaterland gewesen sei.
Und dass ich, trotz der ungerechten Macht,
der Pflicht gehorcht, des Reiches Wohl vollbracht.
Das heißt eigentlich nichts anderes, als dass all die politischen Märtyrer der Moderne, all die Martin Luther Kings oder die Emily Davisons, die überzeugt ihr Leben einer Sache gewidmet und vielleicht sogar hingegeben haben, im Sinne unseres Totentanzes ein erfolgreiches Leben geführt haben, auch wenn die realen Umstände im bürgerlichen Sinn nicht erfolgreich genannt werden können.
Und das sehen wir heute doch eigentlich genauso.
Schleckermäuler
Aber genug von Amt, Verantwortung und Geldgier, schauen wir doch lieber auf eine kleine Schwäche, die wir alle in dieser Wohlstandsgesellschaft teilen. Was sind wir doch für Schleckermäuler! Und wie gerne bedient eine ganze Industrie unsere genußsüchtigen Gaumen, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste - sei es für unsere Gesundheit, sei es für eine nachhaltige Umweltpolitik.
Essen und Trinken sind nämlich schon seit Jahrhunderten Teil des gesellschaftlichen Status. In der frühen Neuzeit war es der fette Braten oder die Wildschweinkeule, an denen man erkannte, dass man sich in einem wohlhabenden Haushalt befand. Heute unterliegt das Status-Essen der Mode, so dass der hausgebeizte Lachs einem frisch zubereiteten Carpaccio oder einem teuren Sushi samt edlem Wein Platz gemacht hat.
Auch im Zürich der frühen Neuzeit hatten die Reichen und Schönen ihre Lieblingsgerichte - und die sehen wir alle versammelt auf dem Arbeitsplatz, den unser fetter Koch jetzt vom Tod gezwungen verlassen muss: Edle Fische, zarte Hasen, Geflügel, das galt damals als eine Statusangelegenheit. Gemüse, Getreide oder gar Pilze, die einfache Kost der Bauern, sucht man hier vergebens. Schön in den Blick gerückt werden durch die ausgestreckte Hand des Kochs zwei an der Schrankwand befestigte Gefäße, die mit teuren Gewürzen und Salz gefüllt gewesen sein dürften. Zwiebelzöpfe, Küchengerät, im Hintergrund der Topf mit einer fetten Suppe, damals Basis jegliches Gerichts: Man sieht, die Zürcher wussten zur Zeit der Entstehung des Totentanzes, wie man gutes Geld in gutes Leben verwandelt.
Und so klagt und jammert der Koch:
Niedlich kochen für reiche Gäste,
damit ich mich selbst hier mäste,
war mein Denken spät und früh.
Neu erfundne Leckerbissen,
vom Bittern, Sauern, Süßen,
dies Geschäft vergaß ich nie.
Die Sattheit wieder zu erfrischen,
und Essenslust dem Ekel aufzutischen,
war meine liebste Müh,
wie gut bezahlt man sie.
Mit anderen Worten, der Koch kochte nicht, damit der andere satt wurde, sondern um die Satten dazu zu bringen, noch mehr zu essen - ohne Rücksicht auf Verluste. Er verdiente gut, und seine Kunden dürften mit gesundheitlichen Problemen bezahlt haben. Denn dass ständiges Überfressen nicht gut gehen kann, davon legen Bluthochdruck, erhöhter Cholesterinspiegel, Fettleibigkeit und Herzinfarkt auch heute noch ein beredtes Zeugnis ab.
Die Angst vor dem Unbekannten
Eigentlich, so möchte man meinen, müssten ältere Leute vertrauter mit dem Tod sein als jüngere. Schließlich haben sie nicht mehr so viel vom Leben wie die Jungen, könnten diejenigen denken, die noch viele Jahrzehnte bis zur Rente haben. Unsere alte Frau auf diesem Bild ist ein gutes Beispiel. Sie sitzt mit ihrer Krücke auf einem Stuhl, weil sie ohne Hilfe nur noch ein paar wenige Schritte hinken kann. Links von ihr steht eine Suppe, denn sie hat keine Zähne mehr, um anständige Nahrung zu beißen. Und überhaupt, Hunger scheint sie auch nicht mehr zu haben, denn die Mahlzeit ist kaum angerührt. Nur zwei Hunde leisten der alten Frau Gesellschaft. Sie ist allein, ausgeschlossen vom Leben, und doch hat sie nicht die geringste Lust, die Welt zu verlassen.
Und in der Tat, gerade ältere Menschen hängen manchmal mehr am Leben als die jungen. Der Tod unseres Totentanzes weiß warum:
Doch, ich seh’ deutlich ein, Madam,
den Grund von Widerstand und Gram:
Was man nicht kennt, das wünscht man nicht,
auf Erden seid Ihr eingericht’.
Euch ist der Himmel nur bekannt
beim Nam’ und ein entferntes Land.
Und so muss auch die alte Frau dem Tod folgen. Geradezu liebevoll nimmt er sie am Arm, um sie ins Jenseits zu führen.
Es gibt keine Sicherheit
Während wir den Tod eines alten Menschen für akzeptabel halten, gilt bei uns der Tod eines Kindes als das schlimmste gilt, was Eltern widerfahren kann. Das war in der frühen Neuzeit anders. Es gehörte zum Alltag, einen großen Teil der eigenen Kinder während der ersten Lebensjahre zu verlieren. Im Mittelalter starb jedes zweite Kind vor dem Erreichen des 14. Lebensjahres - und in der frühen Neuzeit wurde das nicht besser, sondern wegen der vielen Missernten und Kriege eher schlechter.
So spricht der Tod dem kleinen Kind, das er aus den Händen seiner Mutter reißt, Trost zu.
Du nicht das Eigentum der Eltern und der Zeit,
Du schöne Blum’ ins Nichts verwehet,
so bald ein Wind vorüber gehet,
verwelk’ und blüh’ der Ewigkeit.
Diese mitleidvolle Haltung zeigt auch ein zweiter Tod im Hintergrund. Er spielt liebevoll mit dem kleinen Wiegenkind, das er gleich hochheben und aus dem Leben wegtragen wird.
Was uns dieses Bild noch mitteilen kann? Dass es keine Garantie auf das Leben gibt, in keinem Lebensalter. Wir haben keinen Anspruch darauf, das Durchschnittsalter zu erreichen. Ist es eine Antwort, deshalb bitter zu werden, wenn der Tod anders kommt, als wir es gerne hätten? Oder verschwenden wir mit dieser Bitterkeit die wenigen Stunden, die wir noch leben dürften?
Wir haben nie gesagt, dass der Totentanz nur freundliche Wahrheiten kundtut. Im Gegenteil, seine Aussagen sind ein Stachel in unserem satten, zufriedenen Leben. Und als das war der Totentanz auch gedacht!
Wie sollen wir also in einer Welt leben, in der es diesen erbarmungslosen Tod gibt? In der jede Stunde unsere letzte sein kann?
Eigentlich ist es ganz einfach: Der Totentanz mahnt dazu, dass vor dem Tod das Leben steht und dass wir jede Stunde unseres kostbaren Lebens nutzen sollen, um die Dinge zu tun, die uns wirklich wichtig sind.
Und das ist doch eine Botschaft, die kein Psychologe besser hätte formulieren können.