Wer heute ein Schloss besucht, soll den Eindruck haben, den altehrwürdigen Ort genau so vorzufinden, wie er „früher“ aussah. Ganz so einfach ist das natürlich nicht. Das fängt schon damit an, dass es ja nicht das eine „früher“ gibt. Die meisten Schlösser haben eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Räume wurden immer wieder neu eingerichtet, es wurde umgebaut, modernisiert und manche Schlösser zeitweise als Munitionslager, Gefängnis. Schule oder Hospital genutzt. Kriege und Revolutionen haben noch deutlichere Spuren hinterlassen. Um den heutigen Besuchern also einen halbwegs realistischen Eindruck vermitteln zu können, wie Schlossräume zu Zeiten eines bestimmten Bewohners aussahen, ist viel Recherche und Wiederherstellungs-Arbeit nötig. Bei der großen französischen Residenz Versailles ist dieser Restaurierungsprozess untrennbar mit dem Namen des Konservators Pierre de Nolhac (1859-1936) verbunden. Seine Entscheidungen vor über 100 Jahren bilden bis heute die Leitlinie der dortigen Erhaltungsmaßnahmen. Auch mit seinen Werken zu dem Schloss machte er sich einen Namen. In unserer Bibliothek haben wir eines seiner Bücher über Versailles zu Zeiten seines glanzvollen Erbauers, des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Wenn man dieses Buch liest und Versailles so vor Augen hat, wie wir es heute sehen, fragt man sich unwillkürlich: Wie hat Nolhac Versailles geprägt?
Artikeltext:
Nolhac, der Konservator
Als der 28-jährige Pierre del Nolhac 1886 als Museumsmitarbeiter nach Versailles kam, war das Schloss in einem desolaten Zustand. Der Großteil der früheren Einrichtung war bereits zu Revolutionszeiten verloren gegangen. Nach der Französischen Revolution wurde Versailles kaum noch als Residenz genutzt. Der Renovierungsaufwand war so hoch, dass kein König und erst recht kein Präsident Frankreichs die riesige Residenz der Bourbonenkönige wieder bewohnbar machen wollte. Stattdessen konzentrierte man sich auf einige repräsentative Räume wie den Spiegelsaal, um sie Staatsgästen zu präsentieren. In den 1830er Jahren ließ der „Bürgerkönig“ Louis Philippe in einem Teil des Schlosses ein Nationalmuseum zur Geschichte Frankreichs einrichten. Zu diesem Zweck kam es zu umfassenden Umbauarbeiten, denen die historische Raumaufteilung weichen musste. Doch danach verfiel das Schloss immer mehr. Der letzte Sargnagel war dann der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, als das Schloss von den Deutschen als Lazarett und Armeehauptquartier benutzt wurde – und hier Wilhelm I. von Preußen zum deutschen Kaiser proklamiert wurde.
Um Versailles also seinen ehemaligen Glanz zurückzugeben, war ein ungeheurer Aufwand nötig, den auch Nolhacs Vorgesetzter nicht angehen wollte. 1892 wurde der junge Mann selbst zum Konservator des Schlosses ernannt und arbeitete die kommenden 20 Jahre unermüdlich daran, den vorrevolutionären Zustand des Schlosses wiederherzustellen.
Versailles auch nur zu renovieren war ein Mammutprojekt. Dazu sollten Teile der Umbauarbeiten für das Museum in den 1830er Jahren rückgängig gemacht werden und die ursprüngliche Raumfolge der königlichen Apartments wieder hergestellt werden. Der bauliche Zustand war aber nicht alles. Ein Kernthema waren für Nolhac die originalen Einrichtungsgegenstände, denn die waren zumeist entweder zerstört oder kursierten auf dem Kunstmarkt, wo echte Möbel aus Versailles bereits damals stolze Preise erzielten. Nolhac arbeitete ausdauernd daran, originale Möbel anzukaufen und ihren alten Platz ausfindig zu machen.
Für all das reichte das staatliche Budget natürlich nicht aus, daher setzte Nolhac im großen Maßstab auf Geldgeber aus dem In- und Ausland, die seine Vision eines wiederauferstandenen Versailles teilten. Der wohl größte Erfolg dabei war, dass wenige Jahre nach Nolhacs Abschied aus Versailles John D. Rockefeller Jr. insgesamt etwa 60 Millionen Francs für die Restaurierung des Schlosses zur Verfügung stellte, was heute etwa 30 Millionen Dollar entsprechen würde. Trotzdem waren diese Arbeiten ein langsamer Prozess, der sich im Prinzip bis heute hinzieht. Was Nolhac nicht selbst umsetzen konnte, plante er. Er konzipierte einen Generalplan zur Wiederherstellung des Schlosses. Als Nolhac 1920 nach über 30 Jahren Dienst im und am Schloss in den Ruhestand ging, konnte er zufrieden zurückblicken. Denn in diesen Jahren hatte das Schloss an Popularität gewonnen. Es wurde nun als großes Kulturerbe Frankreichs statt als Symbol der Unterdrückung des Volkes wahrgenommen – als ein erhaltenswertes Stück Geschichte.
Nolhac, der Autor
In seiner Zeit in Versailles und vor allem in den Jahren danach verfasste Nolhac zahlreiche Bücher. Er forschte zur italienischen Renaissance, seine Arbeiten über Petrarca wurden viel beachtet. Doch sein Herzensthema blieb auch hier Versailles und die Geschichte des Schlosses, von der er profundeste Kenner seiner Zeit gewesen sein dürfte. Eines dieser Bücher haben wir in unserer Bibliothek. Er veröffentlichte es im Jahr 1925. Drei Jahre zuvor wurde er zum Mitglied der prestigeträchtigen Académie française gewählt– eine Ehre, auf die auch gleich auf der Titelseite hingewiesen wird. Es handelt sich um eines von 10 zusammenhängenden Büchern über Versailles als Sitz des französischen Könighofes. In unserem Band geht es um die Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV., des Erbauers von Versailles.
Nolhac schöpfte hier aus all dem, was er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat, beschrieb das Schloss und das höfische Leben im Zentrum der Macht, einem Mikrokosmos mit einem strengen Zeremoniell. in dem sich der Rang einer Person über seine Nähe zur Sonne – dem König – definierte. Er beschreibt, wofür welche Räume gedacht waren und wie diese Räume eingerichtet waren, wozu er über Jahre ausgiebig geforscht hatte. Es ist die Verschriftlichung seines Vermächtnisses.
Und schön anzusehen ist dieses Werk dabei auch. Es ist kein engbedruckter Wälzer, sondern ein großzügig gesetztes Lesebuch. Gelungene Stiche füllen die Räume von Versailles mit Leben, zeigen Ausstattung und das Leben der Schlossbewohner.
Wer nicht regelmäßig mit alten Büchern umgeht, würde bei dem Versuch, unser Exemplar zu lesen, eine Überraschung erleben. Denn einige der Seiten hängen vorne zusammen und lassen sich nicht daher öffnen! Das hat nicht etwa damit zu tun, dass ein Vorleser klebrige Finger hatte. Das Papier der Seiten ist tatsächlich nicht voneinander getrennt, was zu dieser Zeit halbwegs normal für frisch ausgelieferte Bücher war, besonders in Frankreich. Der Experte spricht dabei von unaufgeschnittenen Seiten. Erst ein Buchbinder oder der Leser selbst trennten die noch zusammenhängenden Seiten. Dass das bei unserem Buch bis heute nicht passiert ist, heißt, dass dieses Buch in den hundert Jahren seiner Existenz noch nie vollständig gelesen wurde. Das ist natürlich in gewisser Weise traurig, ist aber für uns eine gute Gelegenheit, ein eher unbekanntes Stück Buchgeschichte zu zeigen.
Was Sie sonst noch interessieren könnte
Online scheint es dieses Buch noch nicht frei zugänglich zu geben.
Auf dem YouTube-Kanal von Versailles gibt es einen kurzen Film über Nolhac und sein Wirken am Schloss.
In diesem Artikel geht es um das Hofzeremoniell im Barock.
Und in diesem Artikel erfahren Sie, warum der Sonnenkönig und seine Zeitgenossen wirklich Perücke trugen.