Die meisten von uns werden den Begriff „laut Knigge“ immer mal wieder gehört und benutzt haben. Zum Beispiel: Laut Knigge sollte man zu einer Einladung pünktlich oder bis zu fünf Minuten zu spät erscheinen, jedoch nie zu früh. Dabei wissen nur die wenigsten, dass die typischen ‚Benimmregeln‘ zum Gebrauch mehrerer Gabeln oder zur Frage, wer wem die Hand gibt, in Wahrheit nichts mit dem Ur-Knigge zu tun haben. Mit ‚Ur-Knigge‘ ist das Buch „Über den Umgang mit Menschen“ von Adolph Freiherr Knigge gemeint, erschienen im Jahr 1788.
Wer das Buch einmal selbst zur Hand nimmt, wird überrascht sein, wie wenig es auf Anlässe und vielmehr auf Menschen ausgerichtet ist. Knigge beschreibt darin, wie man sich gegenüber seinen Mitmenschen verhalten sollte und wie man auf sein Gegenüber eingehen kann. Das Werk ist in 26 Kapitel unterteilt; jedes davon ist einer bestimmten sozialen Gruppe gewidmet. So schreibt Knigge etwa über den Umgang mit Freunden, mit Frauenzimmern, mit Nachbarn, Eltern, Geistlichen, aber auch über die Verhältnisse zwischen Wirt und Gast oder zwischen Eheleuten. Zuletzt geht es sogar um den Umgang mit Tieren und mit der Erde.
Essentiell ist dabei, dass Adolph Freiherr Knigge (1752-1796) keinen Katalog anlegen wollte, der zu einer Reihe von Umgangsformen verpflichtet. Stattdessen geht es um ein menschliches Miteinander. Um Anstand, nicht aus Prinzip, sondern weil es moralisch richtig ist. Knigges Buch sollte seine Leser lehren, „sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger Schmeichelei herabzulassen.“
Seine Erfahrungen im sozialen Umgang mit verschiedenen Menschen hatte der Autor übrigens selbst gesammelt. Der junge Knigge kam ursprünglich aus einem alten Adelsgeschlecht und begann nach seinem Jurastudium, an verschiedenen deutschen Höfen zu arbeiten. Laut Eigenaussage hatte er über die Jahre mit Menschen aus verschiedensten Ständen zu tun und war so zu etwas geworden, was wir heutzutage vielleicht als Sozialpsychologe bezeichnen würden.
Doch auch wenn Knigge eine interessante historische Figur darstellt und er mit seinem Buch etwas sehr Nobles versucht hat, ist die wahre Frage nun: Lohnt es sich, den Ur-Knigge zu lesen? Und die Antwort ist ja. Denn das Werk berührt den modernen Leser auf zwei Weisen: Es führt einen zurück zu der wichtigsten aller Grundideen, nämlich einem humanen, respektvollen Umgang mit unseren Mitmenschen und vor allem lässt es uns auf wirklich peinliche Weise der eigenen Umgangsformen gewahr werden.
Denn wenn man sich der aktuellen Politik oder - noch schlimmer - der modernen Online-Kommunikation zuwendet, scheint es oft, als hätten wir sämtliche Umgangsformen über Bord geworfen. Man muss sich nur irgendeine zufällige Kommentarspalte unter einem Zeitungsartikel ansehen und wird Zeuge davon, wie fremde Menschen sich wüst beschimpfen. Irgendwie scheint uns vor allem in schriftlichen Unterhaltungen die Idee abhandengekommen zu sein, dass man sein Gegenüber mit Respekt behandeln sollte. „Über den Umgang mit Menschen“ demonstriert uns genau das. Und vielleicht braucht es tatsächlich die Realisierung, dass Menschen im Jahr 1788 teils zivilisierter gewesen sind als wir, dass wir unseren Anstand wieder finden.