„Heute ist der Tag des Herrn, heut nehm’ ich eure Kohle gern!“, brüllt auf dem Strelitzer Wochenmarkt der deutschlandweit bekannte Wurst-Achim, der 2013 deutscher Meister im Marktschreien wurde. Das ist kein Scherz! In unserer heutigen Buchvorstellung geht es um eine ganz besondere Tradition des englischen Marktschreiens, die, ich kann sie beruhigen, etwas weniger plump ist als der Wurst-Achim.
Aber fangen wir von vorne an. Fahrende Händler und Hausierer, die in den Straßen der großen Städte ihre Waren feilbieten, gibt es natürlich schon seit Menschengedenken. In England begann man sich aber im Mittelalter verstärkt für die sogenannten street cries zu interessieren, also die Ausrufe, mit denen die Waren angepriesen wurden. Die Händler begannen nämlich aus den Sprüchen kurze Verse zu dichten und melodisch zu unterlegen. Diese wiederum wurden mit zunehmender Begeisterung von Musikern und Dichtern aufgenommen, die daraus richtige Liedchen schrieben, etwa den cry der Milchmagd oder des Fischweibs. So wurden aus Verkaufsargumenten echte Lieder, die Straße zur Bühne und das Anpreisen der Ware zur Theatervorstellung.
Die London cries sind bis heute ein geschätztes Kulturgut und ein wertvolles Zeugnis des damaligen Alltags. Wir stellen Ihnen hier eine gedruckte Sammlung ausgewählter London cries vor.
Artikeltext:
„Mit einem Haufen charmanter Bilder“
Mit der zunehmenden Beliebtheit der cries begann man diese im Mittelalter zu sammeln und zu verschriftlichen. Die ersten gedruckten Ausgaben aus Paris entstanden um 1500, in London um 1600. Die Ausgabe des MoneyMuseum stammt von 1885, ist also relativ spät entstanden. Dementsprechend handelt es sich auch um keine originelle Sammlung, sondern vielmehr um eine kommentierte Kompilation der bekanntesten alten und neuen cries. Die Titelseite wirbt damit, dass das Buch „einen Haufen charmanter Bilder“ enthalte. Das entsprach ganz dem üblichen Format solcher Sammlungen, die häufig Bilderbuchcharakter hatten und Illustrationen mit kurzen Versen darunter abdruckten.
Rüben und Kohl
Links sehen wir einen Messerschleifer, rechts einen Gemüsehändler. Unter dem Titel „Messer zu schleifen!“ heißt es etwa:
„Werte Herren hört mir gut zu,
Und bringt all eure Messer herbei;
Auch Barbiermesser schleifen will ich nu;
Oder Hausweibers Scheren, ’s ist mir einerlei!“
Nebenan hält ein anderer Händler Kohl und Rüben feil, kostenlose Rezeptempfehlungen gibt es obendrauf:
„Rüben machen sich zu Lamm gar fein;
Mit Rind und Möhren gibt’s nie Langeweil’;
Weißkohl macht Fleisch im Sommer rund,
Wirsing hingegen zu Winter’s Stund.“
Die Verse sind nicht nur unterhaltsam, sie stellen auch ein wunderbares Zeugnis des historischen Londoner Alltags dar. Betrachten Sie zum Beispiel die Liste der cries hier als eine Art Einkaufsliste! Was haben die Leute damals gekauft? Brot und Fleisch, Würste, Feigen, Strumpfbänder, Schuhe, Geldbörsen, Kerzen – soweit dürfte uns das noch bekannt sein. Was aber verbirgt sich hinter „tosting iron“ oder „a dish a flounders“? Das toasting iron ist tatsächlich der historische Vorgänger des Toasters. Stellen Sie sich eine eiserne Halterung für Brotscheiben vor, die man mit Hilfe eines langen Griffs in die Nähe des Feuers bugsieren konnte. „A dish a flounders“ ist etwas umgangssprachlich: Das „a“ ist eine Verkürzung des Wörtchens „of“. Und „flounders“ sind Flundern. Hier wurde also ein Fischgericht angeboten.
Bei dem Lärm kann ja keiner schlafen!
Heute sind die Engländer mächtig stolz auf die lange und bunte Tradition ihrer London cries. Sie werden in Videos nachgestellt, auf Spielkarten gedruckt oder tauchen in Musical-Hits auf. Doch nicht alle Zeitgenossen fanden die singenden Händler derart charmant, wie wir es vielleicht heute tun. Der englische Dichter und Journalist John Addison schrieb 1711: „Es gibt nichts, was den Fremden mehr erstaunt und den Junker vom Lande mehr in Furcht versetzt als die Marktschreier in London. Mein guter Freund Sir Roger hat ein ums andere Mal erklärt, dass er sie während der ersten Woche in der Stadt nicht aus dem Schädel kriegt oder ihretwegen nicht einschlafen kann.“
Künstlerische Bearbeitungen dieses lautstarken Stadttreibens findet man zum Beispiel in Theaterstücken oder in dem oben abgebildeten satirischen Kupferstich von William Hogarth. Hier beschwert sich der „enraged musician“, also der wütende Musiker, über das Straßenvölkchen, das ihn beim Musizieren stört. Wir sehen etwa links eine Bänkelsängerin mit ihrem schreienden Baby und ein Mädchen mit Rassel; mittig eine Milchmagd mit Bottich auf dem Kopf oder rechts einen Steinsetzer, der die Straße pflastert.
Ich muss gestehen: So spannend die Geschichte der London cries aus der historischen Distanz ist, ich hätte wohl auch kein Auge zugetan mit einem derartigen Auflauf unter meinem Fenster…
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Hören Sie sich die street cries in diesem Video selber an.
Auch in viktorianischen Romanen wie Oliver Twist spielen die Lieder der Straßenhändler eine große Rolle. Hier sehen Sie eine Darbietung des Lieds „Who will buy?“ aus dem Musical Oliver!.
Dieser Artikel im Guardian beschäftigt sich ausführlich mit der spannenden Tradition der cries.