Als Scholem Alechjem im Jahr 1916 in New York beerdigt wurde, hatten alle jüdischen Geschäfte der Stadt geschlossen. Tausend und abertausende von Menschen wohnten seinem Trauerzug bei. Vor allem seine Geschichten um „Tewje, den Milchmann“, hatten Alejchem in kurzer Zeit zu einem der bedeutendsten Autoren der jiddisch-sprachigen Literatur gemacht.
Die Handlung der Erzählungen „Tewje, der Milchmann“ (veröffentlicht 1895-1914), die später zu einem Roman zusammengefasst wurden, klingt zunächst fast wie ein Märchen. Es geht um den gutmütigen, jüdischen Milchmann Tewje, der mit seiner Frau Golde und seinen sieben Töchtern in dem Dorf Bojberik wohnt. Die meisten der insgesamt acht Episoden drehen sich um die Vermählungen seiner Töchter. Dabei geht es um Heirat aus Liebe statt Geld, Standes- oder Religionsunterschiede und andere Irrungen und Wirrungen. Oft geht Tewje mit List gegen seine Frau oder andere Dorfbewohner vor; das Werk ist durchzogen von Humor und den religiösen Weisheiten Tewjes. Doch nicht immer enden die Geschichten glücklich. Eine Tochter begeht Selbstmord aus Liebeskummer, eine andere wird von Tewje verstossen, und je weiter das Werk voranschreitet, desto deutlicher wird die Verfolgung der Juden im polnischen Raum. Am Ende muss Tewje schliesslich das Dorf verlassen und in die märchenhaft anmutenden Erzählungen tritt die bittere Realität.
Scholem Alejchem (1895-1916) verfasste die Geschichten, als würde Tewje selbst sie ihm berichten, damit er etwas zu schreiben habe. Allein dadurch bekommen die Geschichten zunächst eine humoristische Note. Auch viele der Heiratsgeschichten werden mit Einfühlsamkeit und Witz erzählt, sodass es nicht weiter verwunderlich ist, dass der Stoff mehrmals verfilmt wurde und als Grundlage für die komische Oper „Anatevka“ gedient hat.
Noch interessanter ist jedoch Alejchems Darstellung der jüdischen Kultur in Osteuropa. Sein Held Tewje ist zwar „nur“ ein Milchmann, ist aber religiös sehr gebildet und bestreitet schwierige Lebenslagen mit Hilfe jüdischer Texte wie der Tora, dem Talmud und dem Midrasch. Bei der Lektüre des Romans wird dem Leser immer mehr klar, dass es sich bei der Figur Tewje um einen Stellvertreter für eine ganze Kultur handelt.
Alejchem zeigt hier schrittweise, wie das Leben der jüdischen Bevölkerung in Polen bzw. Osteuropa um die Jahrhundertwende zunehmend schwieriger und schliesslich für viele unmöglich wurde. Der einstmals gut integrierte Tewje wird am Ende der Handlung von seinem Dorf ausgegrenzt und bedroht. Auf diese Weise bebildert der Autor mit einer nahbaren Hauptfigur die Tragödie einer ganzen Kultur, der er auch selbst angehörte. Alejchem emigrierte 1914 nach New York und wohnte dort bis zu seinem Tod.
Sein Roman „Tewje, der Milchmann“ verbindet somit eine autobiographisch geprägte Kulturgeschichte mit märchenhaften Stilelementen und einer tragikomischen Schreibweise. Es ist ein einzigartiges Werk, das bis heute immer wieder neu übersetzt und aufgelegt wird. Nach wie vor helfen dem Leser Einzelschicksale, wie das Tewjes, Prozesse von kultureller Ausgrenzung nachzuempfinden – denn dieser Prozess ist oftmals ein schleichender. Genau wie in Tewjes Dorf scheint es auch in unserer Gesellschaft oft so, als wären Fälle von Diskriminierung einer Gruppe bloss einzelne Vorfälle, Ausnahmen innerhalb einer sonst integrierten Gesellschaft. Doch es sind genau diese Prozesse, auf die wir aufmerksam werden müssen, um Schlimmeres zu verhindern, ehe es zu spät ist. Es bleibt zu hoffen, dass Alejchems „Tewje, der Milchmann“ uns dies auch in Zukunft lehren wird.