Obgleich einem Leser beim Wort "Stopfkuchen" erst einmal das Wasser im Munde zusammenlaufen mag, handelt es sich bei Wilhelm Raabes Romantitel nicht um eine Speise, sondern um eine einzigartige "See- und Mordgeschichte", wie uns bereits der Untertitel verrät. Stopfkuchen ist der ehemalige Rufname der Hauptfigur Heinrich Schaumann, über deren Leben der Erzähler Eduard in "Stopfkuchen" sinniert.
Eduard befindet sich gerade auf der Heimreise von Deutschland nach Südafrika. An Bord des Schiffes beschließt er, die Geschichte von Stopfkuchen niederzuschreiben. Er berichtet dann sowohl über den jüngsten Besuch in seinem Heimatort als auch über seine Kindheit, die er dort verbracht hat. Im Vordergrund steht dabei sein ehemaliger Kamerad Heinrich Schaumann, der stets aufgrund seiner Körperfülle, seiner angeblichen Faulheit und Dummheit gehänselt wurde. Nun im Erwachsenenalter schafft Schaumann (ehemals 'Stopfkuchen') es zu einer angesehenen Position im Dorf ˗ nicht zuletzt deshalb, weil er eine Mordgeschichte aufklären kann, die bereits viele Jahre zurück liegt. Denn es scheint als habe bisher ein Unschuldiger seinen Kopf für den Mord am Viehhändler Kienbaum hinhalten müssen.
Wilhelm Raabe (1831-1910) fordert seine Leser im Roman "Stopfkuchen" auf zwei verschiedene Arten. Zum einen präsentiert er eine äußerst komplexe Mischung verschiedener Zeit- und Raumebenen. Der Leser muss sich selbst durch die Geschichte finden und sich klar werden, was wann passiert ist. Denn während Eduard selbst auf dem Schiff ist, springt er in seinem Bericht zwischen Ereignissen vom frühen 19. Jahrhundert und neuen Eindrücken seiner alten Heimat hin und her. Zusätzlich rekapituliert er noch die Ereignisse des letzten Abends seines Besuchs, als er von Schaumann erfuhr, wer der wahre Mörder Kienbaums war. Jedoch sind all diese Erzählteile kompliziert miteinander verwoben. Raabes kunstvolles Narrativ wirft den Leser in einen aufregenden Zeitstrudel in dem er selbst navigieren muss.
Doch zeitgleich mit dem Versuch, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen und sich in der Mordgeschichte zu recht zu finden, merkt der Leser, dass der Roman noch eine tiefere Ebene hat. "Stopfkuchen" befasst sich eingehend mit dem Einfluss der Masse auf den Einzelnen. So wurde etwa Andreas Quakatz' Leben durch die falschen Mordanschuldigungen völlig ruiniert. Sein Hof und seine Familie wurden gemieden und sein Leben verpfuscht.
Ebenso verhält es sich mit Stopfkuchen selbst, der seine gesamte Kindheit lang gehänselt wurde, was sein Leben nachhaltig beeinflusste. Obgleich Schaumann später Quakatz' Unschuld beweist und diesen rehabilitiert, wird er selbst nicht etwa als Märtyrer gezeigt; vielmehr will er sich nach all den Jahren der Demütigung an seiner Stadt rächen und sie vorführen. Die Häseleien der Masse haben ihn abgestumpft und verbittert. Die Aufklärung des Mordfalls erfolgt daher aus wesentlich komplexeren Motiven als man vermuten könnte. Nach und nach wird dem Leser gewahr, was für ein Mensch Schaumann durch seine schwere Kindheit geworden ist. Somit entwirft Raabe das tiefgründige Profil einer tragischen Identität, die sich dem Leser erst im Laufe der Geschichte eröffnet.
Es ist nicht leicht, die Vielschichtigkeit von Raabes Werk in wenigen Worten zusammen zu fassen. Die Faszination liegt wahrlich in der Art und Weise, wie Raabe seine See- und Mordgeschichte erzählt. Doch oft sprechen ja Taten lauter als Worte. Und die Tatsache, dass "Stopfkuchen" bereits 1948 in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur erschienen ist und im Jahre 2010 erneut in der Reihe aufgelegt worden ist, spricht, wie ich finde, sehr deutlich.