Nicht das sonnige Sansibar, sondern das graue Ostseestädtchen Rerik bildet den Schauplatz für das zufällige Treffen von fünf Menschen, deren Schicksale sich an diesem eisigen Herbsttag 1937 eng verknüpfen. Das Leben aller ist geprägt von einem System des Terrors und der Repression. Verantwortlich dafür sind „die Anderen“. Die Nationalsozialisten, wie sich dem Leser im Laufe des Buches erschließt.
Der Gedanke an Flucht beschäftigt jeden der Protagonisten auf eine eigene Weise. Der desillusionierte Jugendfunktionär Gregor will sich durch Flucht nach Schweden dem Auftrag der Kommunistischen Partei entziehen, in Rerik den Widerstand neu zu organisieren. Den kommunistischen Fischer Knudsen hält von seiner Flucht nur der Gedanke an seine Frau Bertha ab. Als geistig Verwirrte muss sie unter den Nazis um ihr Leben fürchten. Knudsens Fischerjunge, ein namenlos bleibender 15-Jähriger, träumt sich von seinem konservativen Elternhaus ins utopische Sansibar. Dem Ortspfarrer Helander würde die Fahrt über die Ostsee schon reichen, um die als „entartete Kunst“ klassifizierte Plastik „Lesender Klosterschüler“ vor den Nazis zu retten. Und auch die Jüdin Judith Levin will fliehen, um so der drohenden Deportation zu entgehen.
Der Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ des gebürtigen Münchners Alfred Andersch stieß bei seiner Veröffentlichung 1957 bei Kritikern wie Lesern auf ein positives Echo. Weniger gut hatte man seinen 1952 erschienenen autobiografischen Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ aufgenommen. In diesem hatte er sein eigenes Verhalten während des Naziregimes bis zu seiner Fahnenflucht 1944 reflektiert. Zu frisch war bei weiten Teilen des Publikums noch die Erinnerung an das Dritte Reich und das eigene Tun.
Die Frage, inwieweit der Einzelne wirklich frei entscheiden und handeln kann, durchzieht das gesamte Werk des Autors und streitbaren Gründers der „Gruppe 47“. Bis heute gilt Alfred Andersch als einer der wichtigsten Vertreter der Literatur der Stunde Null im Deutschland der Nachkriegszeit. Symbolreich, doch in einfacher Sprache formuliert, hat sich „Sansibar oder der letzte Grund“ fest im Kanon der Schulbuchliteratur etabliert. Als Lehrstück dient es dazu, den Blick zu schärfen. Dafür, was Menschlichkeit im Angesicht des Terrors ausmacht. Dafür, was man mit Geld eben nicht kaufen kann.