Manchmal frage ich mich, warum literarische Meisterwerke wie die Fleurs du Mal solche Skandale auslösen konnten. Ich denke mir dann, dass die Zeitgenossen von Charles Baudelaires durchaus etwas toleranter hätten sein können. Nach der Lektüre von Rima kommt mir das nun ziemlich überheblich vor, denn auch ich konnte die literarische Qualität dieses Romans nicht würdigen, weil die darin vermittelten Werte nicht in unsere heutige Zeit passen.
Rima. Die Geschichte einer Liebe aus dem Tropenwald ist der bekannteste Roman des argentinisch-britischen Autors und Ornithologen William Henry Hudson. Der gilt in Argentinien als Nationaldichter und wurde in der Vergangenheit von Schriftstellern wie Joseph Conrad und Ernest Hemingway bewundert.
Schon der Plot von Rima passt nicht mehr in unser Weltbild: Abel sucht, nachdem all seine Bemühungen gescheitert sind, Geld oder wenigstens Ruhm zu gewinnen, die Einsamkeit des Gran Chaco auf. In diesen Wäldern lebt er bei einem indigenen Stamm, bis er Rima trifft, ein Mädchen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Rima lebt mit einem alten Spanier ganz allein in ihrem eigenen kleinen Paradies. Dort stellt sie die Regeln auf, verbietet den Genuss jeglichen Fleisches, weil sie den Tod von Tieren nicht ertragen kann. Abel – der nicht umsonst wie der biblische Brudermörder heißt, dessen Tieropfer Gott nicht gefällig war – mag auf Fleisch nicht verzichten, genauso wie der alte Spanier und die benachbarten Guarani. Voll Leidenschaft für die unberührbare Rima dringt Abel in ihre Idylle ein und zerstört sie – Idylle und Rima gleichermaßen – durch seine Neugier und seine egozentrische Taktlosigkeit. Rima stirbt von der Hand der Guarani, weil die in ihrem wildreichen Wald jagen wollen. Abel rächt die Geliebte, indem er selbst einen Guarani umbringt und das Nachbardorf aufhetzt, seine ehemaligen Gastgeber auszumerzen, was sie auch tun. Nichts als Asche und Knochensplitter bleiben von Rima, dem Spanier und den Guarani, während Abel wieder in die Zivilisation zurückkehrt.
Könnte man die Geschichte gerade noch ertragen, würde Abel auch nur ein kleines bisschen Reue zeigen, bereiten einem Hudsons Schilderungen der „Wilden“ geradezu Übelkeit. Die großzügige Gastfreundschaft, die Abel zuteilwird, nimmt der gar nicht wahr. Obwohl Hudson die Guarani durchaus unterschiedlich charakterisiert, verpasst er ihnen allen die Etiketten „Wilder“, „primitiv“ und „unterlegen“. Dies ist umso verwunderlicher, wenn man weiß, dass der Autor viele Indigene persönlich gekannt und ihre Hilfe empfangen haben muss. Er durchstreifte nämlich vor seinem Umzug nach Großbritannien die unerforschten Weiten Argentiniens, um Vogelbälge für den Verkauf zu sammeln. Deshalb sind seine Naturschilderungen so detailliert, so naturalistisch und teilweise geradezu empathisch.
Während sich der bekannte Ornithologe in das Wesen der Vögel und Falter einfühlen kann, gehören für ihn die Menschen in Schubladen. Da ist auf der einen Seite Rima, die Heilige, die Vollkommene, die Überirdische, die alles verkörpert, was an der Menschheit gut ist. Selbstverständlich hat sie weiße Haut. Schließlich ist sie das letzte Mitglied eines lang verlorenen Stammes. Ihr gegenüber steht der Spanier, auch er weiß, aber ein Verbrecher, der Buße tut und trotzdem weiter sündigt, indem er wider Rimas Gebot Tiere tötet und ihr Fleisch heimlich verspeist. Und dann natürlich die „Wilden“, für die Rima ein Dämon mit übernatürlichen Kräften ist, der sie davon abhält, in den Wald einzudringen.
Zuletzt haben wir da noch Abel, den Erzähler, der doch eigentlich unser Mitgefühl erringen sollte und uns nur abstößt mit seiner Arroganz und Selbstbezogenheit. Munter zerstört er das komplexe Gleichgewicht, das zwischen Rima, dem Spanier und den Guarani bestand. Sein Handeln führt zur Katastrophe, eine Schuld, die nicht thematisiert wird, im Gegenteil: Abel wird zum einzigen, der Rima wirklich verstand.
Für mich, aufgewachsen mit den Werten unserer heutigen Zeit, war es eine Qual, dieses Buch zu lesen. Immer wieder habe ich mich gefragt, was Joseph Conrad und Ernest Hemingway daran so bemerkenswert fanden. Die einfühlsamen Schilderungen der Natur waren an mich verschwendet, vielleicht genauso wie die wunderschöne Sprache der Fleurs du Mal an ihre bürgerlichen Zeitgenossen. Wahrscheinlich war für sie Prostitution genauso schockierend wie für mich Überheblichkeit gegenüber indigenen Völkern.
Und genau hier setzt meine Form von Toleranz ein. Sie hat mich gezwungen, das Buch zu Ende zu lesen. Es hat mir nicht gefallen. Ich teile die Ansicht seines Autors über indigene Völker nicht. Aber ich habe seine abweichende Meinung ertragen. Denn nichts anderes bedeutet Toleranz. Schließlich kommt dieses Wort vom lateinischen tolerare, dem Begriff für ertragen, aushalten, erdulden.
Hätte ich die Chance gehabt, William Henry Hudson persönlich kennenzulernen, hätte ich gerne mit ihm diskutiert, um ihm meine Meinung zu sagen. Und vielleicht hätten wir bei dieser Diskussion beide gelernt, einander besser zu verstehen.