Im September 1732 spielte sich eine ungewöhnliche Szene auf dem Leipziger Roßmarkt ab. Tausende zerlumpte Gestalten trafen in der Stadt ein. Die Leipziger hatten schon von ihnen gehört, denn das ganze Reich sprach damals von diesen armen Menschen. Es waren Glaubensflüchtlinge – Protestanten, die der Erzbischof von Salzburg aus seinem und ihrem Land vertrieben hatte. Nun waren sie auf dem Weg nach Preußen, wo ihnen der König Land versprochen hatte. Unter den Leipzigern war der protestantische Pfarrer Christoph Sancke. Er beschloss wenig später, ein Buch über das Schicksal der Salzburger zu schreiben, denn diese Geschichte war gut – sie handelte von einem tyrannischen Erzbischof, unmenschlichen Katholiken und einem gnädigen und menschenfreundlichen protestantischen Herrscher, der sich den Verzweifelten annimmt – genau das, was man in den protestantischen Landesteilen gerne las. Eine gute Gelegenheit also für ein Buch, dass der protestantischen Sache diente und einen hübschen Gewinn erwarten ließ. Wir haben es in unserer Bibliothek. Von Anfang an.
Artikeltext:
Wes der Fürst, des der Glaub
1731 war das Zeitalter, in dem in Deutschland Glaubensfragen zu Kriegen führten, lang vorbei. Im Augsburger Religionsfrieden 1555 und im Westfälischen Frieden 1648 hatte man sich mühsam auf Regelungen verständigt, die für einen Ausgleich zwischen Protestanten, Katholiken und Calvinisten sorgen sollten. Das Grundgerüst der komplexen Beschlüsse hat ein Jurist wie folgt auf den Punkt gebracht: Cuius regio, eius religio – wes der Fürst, des der Glaub. Sprich: Der Landesherr legte fest, welche Religion seine Untertanen haben müssen. Freilich, mit Religionsfreiheit hat das nichts zu tun. Dennoch führte diese Reglung zur Entspannung der Lage.
Als der Erzbischof von Salzburg 1731 erfuhr, dass viele seiner Untertanen heimliche Protestanten waren und sie deshalb aus dem Land verbannte, war das im Kern also rechtens. Doch die Art, wie er dies tat, sorgte in den protestantischen Teilen des Reiches für einen Sturm der Entrüstung. Er ließ kaiserliche Soldaten nach Salzburg holen und zwang die Protestanten, zum Teil innerhalb weniger Tage das Land zu verlassen – das war ein Bruch der Bestimmungen des Westfälischen Friedens. Mehr als 20.000 Menschen mussten in den folgenden Monaten Salzburg verlassen, ohne das ihnen genügend Zeit gelassen wurde, ihre Häuser und Geschäfte zu verkaufen oder all ihr Hab und Gut mitzunehmen. Man geht davon aus, dass ein Viertel von ihnen im Zuge der Vertreibung umkam.
Der Soldatenkönig ergreift die Chance
Die protestantischen Fürstentümer waren empört, die Geschichte wurde zu einem medialen Großereignis der Zeit. Der preußische König erkannte darin eine Chance. Friedrich Wilhelm I. erließ im Februar 1732 das Preußische Einladungspatent und ließ es durch Gesandte bei den Flüchtlingen verbreiten. Wer von den Salzburger bereit wäre, sich in Preußen niederzulassen, würde dort Privilegien, Land zum Siedeln und Baumaterialien vom Staat erhalten. Drei Jahre lang bräuchte man keine Abgaben zu bezahlen. Außerdem würde jeder, der sich dazu bereit erklärte, sofort als preußischer Untertan betrachtet werden. Man versprach Schutz und Unterstützung bei der Reise sowie dringend benötigte Verpflegung. Für die verzweifelten Flüchtlinge, die einer ungewissen Zukunft entgegensahen, war dieses Angebot unwiderstehlich. Fast alle von ihnen zogen quer durch das Reich nach Preußen und wurden in Ostpreußen angesiedelt.
Blühende Landschaften
Natürlich war dieses Unterfangen kein reiner Akt der Barmherzigkeit des Königs. Wie schon sein Großvater, der 50 Jahre zuvor die französischen Hugenotten in Brandenburg aufnahm, war Friedrich Wilhelm I. nicht dumm. Er wusste genau, dass diese Menschen eine Bereicherung für sein Land waren. Große Pestwellen hatten Ostpreußen in den vergangenen Jahrzehnten entvölkert, ausreichend Land für die Siedler war also vorhanden. Außerdem waren viele talentierte Handwerker unter den Glaubensflüchtlingen, die einen erheblichen Zugewinn für jeden Herrscher darstellten. Die Kosten der gewährten Unterstützung für 20.000 Menschen waren beträchtlich, doch würden sie sich rentieren, meinte der König. Und damit behielt er recht: Ostpreußen blüht auf, sechs neue Städte und 332 neue Dörfer sollen damals entstanden sein. Die Provinzhauptstadt Königberg profitierte von den fähigen Handwerkern, die sich vor allem mit der Textil- und Holzverarbeitung gut auskannten.
Und dann war da natürlich noch der Gewinn an Reputation. Der König stand bei den Protestanten als Menschenfreund und guter Christ da, der schnell und beherzt gehandelt und keine Kosten gescheut hatte – ein Image, dass er auch selbst gern bestärkte.
Protestantische PR
Die ganze Geschichte rief ein enormes mediales Echo in der protestantischen Welt hervor. Medaillen und Flugblätter berichteten von der schrecklichen Vertreibung und erlösenden Aufnahme der Salzburger in Preußen. Natürlich erschienen auch Bücher zu dem Thema. Das bekannteste von ihnen ist die Ausführliche Historie derer Emigranten oder vertriebenen Lutheraner aus dem Erz-Bisthum Salzburg. Der Verfasser beschreibt das Salzburger Land, die Geschichte der dortigen Protestanten, die Umstände der Vertreibung und den Zug der Flüchtlinge nach Ostpreußen. Dabei legt er die Sachlage gut recherchiert dar – wenn auch nicht besonders neutral. Laut dem Titelblatt sei „alles aus glaubwürdigen Historien-Schreibern und … Acten heraus gezogen.“ Diese Zusammenstellung der Ereignisse gilt bis heute als eine der wichtigsten Quellen über die Salzburger Protestanten.
Der Verfasser Christoph Sancke (1700-1752) hatte 1732 selbst einen Zug der Flüchtlinge in Leipzig gesehen. Er war Diakon der Leipziger Thomaskirche – ja, genau, die mit dem Thomanerchor und mit Johann Sebastian Bach, der auch exakt zu dieser Zeit dort als Kantor tätig war.
Kurze Zeit später ließ Sancke sein Werk zu den Salzburger Protestanten anonym veröffentlichen. Das Thema war in aller Munde, ein guten Absatz war also zu erwarten. Das Buch wurde aufwendig gedruckt und mit schönen Stichen und ausklappbaren Karten versehen. Unser Exemplar von 1733 stammt bereits aus der dritten Auflage, es muss sich also tatsächlich gut verkauft zu haben.
Die Aussicht auf guten Gewinn wird ein Grund für die Veröffentlichung des Buches gewesen sein – der andere war konfessioneller Natur. Denn der protestantische Pfarrer ließ es sich nicht nehmen, seinen Lesern im Vorwort von den guten Protestanten und den bösen Katholiken zu predigen:
„Man sieht hieraus, wie die Papisten gegen die Evangelischen gesinnet seyn, und was diese von jenen zu erwarten haben.“ Die Beschlüsse des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens „fängt man jetzo an, über einen Hauffen zu werffen, und gänzlich mit Füßen zu treten“ … „Wo hat es sich wohl zugetragen, daß ein christlicher Bischof so viel tausend Christen fortgejaget … da sie doch nichts Böses begangen, als daß sie sich zu einer solchen Religion bekannt, welche im Heiligen Römischen Reich allenthalben geduldet wird?“ … „Wir können an ihnen (den Flüchtlingen, Anm. d. Verf.) verstehen, wie Gott diejenigen nicht verlässt, welche sich mit gesamten Herzen auf ihn verlassen und ihn als Nothelfer annehmen.“
Und die Moral?
Der Kaiser jedenfalls hatte aus dieser Geschichte etwas gelernt, auch wenn man daran zweifeln mag, ob es das richtige war: Als 1734 erneut 4.000 Protestanten aus dem Alpenraum vertrieben werden sollten, ließ er sie direkt in das Randgebiet seines eigenen Herrschaftsgebietes zwangsumsiedeln: nach Siebenbürgen im heutigen Rumänien. So sollten nicht wieder Untertanen an protestantische Herrscher verloren gehen…
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