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Die Kernaussage
Eigentlich ist Webers Idee ganz einfach: Er sah um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts, dass die Länder mit protestantischer Tradition wesentlich erfolgreicher waren, als die katholisch geprägten Nationen.
England boomte, während Spanien sich von Wirtschaftskrise zu Wirtschaftskrise hangelte. Die USA schickten sich an, eine Weltmacht zu werden, während es in Lateinamerika nicht einmal eine funktionierende Infrastruktur gab. Preußen verfügte über eine blühende Industrie, und zur Sommerfrische reisten die Fabrikanten ins ländliche Bayern reisten. Was hatten England, die USA und Preußen gemeinsam? Richtig, sie waren protestantisch! Und Spanien, Lateinamerika, Bayern? Die waren dagegen katholisch. Und daraus schloss Weber, dass die Religion im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen müsse.
Natürlich steckte da nicht so etwas wie Gottes Gnade dahinter! Max Weber war vielleicht kein Atheist, aber sicher Agnostiker. Mit anderen Worten, das Jenseits ließ sich nicht beweisen. Aber vielleicht war es auch nicht irgendein Gott, der auf den Erfolg seiner Gläubigen einwirkte, sondern eine Lebensanschauung, eine Art der Religion verbundene Ethik. Und tatsächlich, im Lehrgebäude Calvins fand sich etwas.
Calvin lehrte nämlich, dass die vor Gott Gerechtfertigten bereits in diesem Leben erfolgreich sein werden. Man bezeichnet das als die Prädestinationslehre. Dieses Wort ist vom lateinischen praedestinare (= im voraus bestimmen) abgeleitet. Calvin setzte darin zwei allgemein anerkannte Eigenschaften Gottes miteinander in Verbindung: Gott ist allwissend, und Gott ist gerecht. Da Gott nun allwissend ist, weiß er, welche Gläubigen sich bewähren werden, und da er gerecht ist, wird er ihnen bereits auf Erden ein gutes Leben schenken.
So eine Behauptung musste doch Auswirkungen haben auf jeden Gläubigen!
Wenn sich mein Seelenheil danach bemisst, wie gut es mir geht, muss ich doch alles daran setzen, dass ich dieses gute Leben erreiche!
Diese Lebensphilosophie verband Weber mit den Hugenotten, den Calvinisten, den Methodisten, mit Quäkern, Baptisten und Pietisten. Sie – so postulierte er – gingen ganz anders mit den neuen Möglichkeiten des Frühkapitalismus um als Katholiken. Dafür spräche, so Weber, dass es in vielen, vom protestantischen Glauben geprägten Ländern Wörter wie „Beruf“ gibt, englisch „vocation“. Beruf hängt eng mit Berufung zusammen. Und das englische „vocation“ steht sowohl für den Beruf als auch für die Berufung. Mit anderen Worten: Das Verdienen seines Lebensunterhalts durch eine professionell ausgeübte Tätigkeit wurde von den Mitgliedern dieser Glaubensrichtungen Gottesdienst gleichgestellt.
Und dazu kam nun, dass die Protestanten nichts für den katholischen Prunk übrig zu haben schienen. So gaben sie ihr Geld nicht für unnütze Gegenstände und Vergnügungen aus, sondern häuften es an und speisten es als Kapital in den Markt ein. Damit standen für Großunternehmen jeder Art Ressourcen im Übermaß zur Verfügung. Die investierten kleinen Vermögen wurden zu großen Vermögen. Und die protestantisch geprägten Nationen stürmten die wirtschaftliche Weltspitze.
Natürlich sind Webers Thesen heute längst widerlegt. Und zwar in jeder nur erdenklichen Art und Weise. Dennoch gehört Weber noch heute zu den am meisten zitierten Soziologen, wenn es darum geht, zu erklären, warum ein kleiner Teil der Menschheit reich geworden und der größte Teil der Menschheit arm geblieben ist.
Wer war dieser Max Weber?
Max Weber wurde 1864 in eine Familie hineingeboren, die sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite von Hugenotten abstammte. Mit anderen Worten, wenn Max Weber die protestantische Arbeitsethik beschreibt, dann hat er Ideale im Kopf, mit denen er selbst aufwuchs. Seit Vater war Jurist und seit 1872 Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. Schon der Achtjährige lauschte also bei Familienessen aufmerksam Diskussionen über die Tagespolitik.
Er hörte vor allem, was das wohlhabende Bürgertum vom Staat erwartete. Sein Onkel Carl David war einer der größten und erfolgreichsten Feinleinenhersteller Deutschlands. Er produzierte im relativ risikolosen Verlagssystem Tischdecken, Servietten und Bettbezüge, die in die ganze Welt exportiert wurden.
Für die Familie Weber stand im Sinne von Adam Smith die Wirtschaft im Mittelpunkt des Staatswesens. Armenfürsorge gehörte dazu, sollte aber vom Staat nicht zu streng geregelt werden. Carl David Weber etwa finanzierte ein Krankenhaus und unterstützte den Bau einer Synagoge. Und das zeigt uns bestens, wie wohlhaben die Familie war, aus der Max Weber stammte.
Für ihn war gesorgt. Er hätte sich ganz entspannt zurücklehnen können, um in Ruhe vom väterlichen Vermögen zu leben. Aber dem stand seine Erziehung entgegen. Und die kannte keinen sinnvollen Müßiggang. Max Weber studierte in Heidelberg, Straßburg, Göttingen und Berlin Jura, Nationalökonomie, Philosophie, Theologie und Geschichte. Mit 25 machte er seinen Doktor. Mit 28 habilitierte er sich so glänzend, dass er sofort zum Privatdozenten ernannt wurde. Mit 29 erhielt er eine außerordentliche Professur an der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität. Im gleichen Jahr wurde er in den Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik gewählt, trat dem Altdeutschen Verband bei und heiratete. Neben seinen familiären und universitären Pflichten engagierte sich Weber also auch noch politisch. Sein Tag dürfte mehr als ausgefüllt gewesen sein. Mit 30 wurde er nach Freiburg, mit 32 nach Heidelberg berufen. Und mit 34 konstatierte der Heidelberger Psychiater Emil Kraepelin das, was man heute vielleicht einen Burnout nennen würde. 1898 sprach man von „Neurasthenie aus jahrelanger Überarbeitung“. Weber nahm erst einige Auszeiten, kurte und gab 1903 seine Lehrtätigkeit für fast zwei Jahrzehnte auf.
Natürlich bedeutete das nicht, dass er nichts mehr getan hätte. Er reiste für drei Monate in die Vereinigten Staaten. Nicht zur Erholung. Zur Bildung. Er interessierte sich sehr für das, was protestantische Unternehmer auf die Beine gestellt hatten. Er besuchte aber nicht nur die Schlachthöfe von Chicago. Er traf einen ehemaligen Studenten wieder, der ihm ein ganz anderes Amerika zeigte.
W. E. B. Du Bois war schwarz, väterlicherseits der Nachfahre eines französischen Hugenotten und seiner haitianischen Sklavin. Und er war brillant. So brillant, dass Max Weber seine bisher vehement vertretene Theorie von der Überlegenheit der arischen Rasse in die Tonne trat. Er besuchte Indianerschulen und die Tuskegee University, die älteste afroamerikanische Bildungseinrichtung der USA. Und dort erlebte er, dass nicht die Hautfarbe Bildung und Erfolg eines Menschen bestimmt. Es musste also etwas anderes sein!
Kein großer Wurf kommt aus dem Nichts!
Um die Jahrhundertwende suchte nicht nur Max Weber den Grund, warum es dem Okzident zustand, die Führung der Welt innezuhaben. Anders als heute begriff man zu seiner Zeit die Kolonisation nicht als eine Vergewaltigung fremder Völker, sondern als eine historische Aufgabe. Die Geschichte verpflichtete sozusagen den Überlegenen dazu, all die anderen Völker mit seiner Überlegenheit zu beglücken. Ganz ähnlich wie Darwins überlegene Rassen es sich nicht aussuchen können, ob sie eine andere Rasse verdrängen oder nicht.
Max Weber war ein überzeugter Anhänger Großdeutschlands und seiner Kolonien. Er verurteilte Bismarcks Zurückhaltung in der Weltpolitik und hätte die deutsche Flotte am liebsten auf allen Weltmeeren gesehen.
Und so war Weber nicht der erste, der einen Zusammenhang zwischen protestantischen Glaubensgemeinschaften und dem Aufstieg des Abendlandes herstellte. Das taten vor ihm Werner Sombart und Ernst Troeltsch.
Den Anstoß zu Webers epochalem Werk gab aber nicht nur seine USA-Reise, sondern eine Untersuchung, die einer seiner Studenten veröffentlichte. Martin Offenbacher publizierte 1900 eine Studie zur wirtschaftlichen Lage von Katholiken und Protestanten in Baden. Er wies nach, dass in diesem Großherzogtum die Protestanten über mehr Einkommen und Bildung verfügten als die Katholiken. Er zeigte statistisch und damit unwiderlegbar, dass Protestanten häufiger führende Positionen in der Großindustrie einnahmen, häufiger kaufmännische Tätigkeiten ausübten und in größerer Zahl im Beamtenapparat vertreten waren. Katholiken fand er dagegen eher in den handwerklichen Berufssparten. Eine Frage der persönlichen Arbeitsethik? Ja, sagte Max Weber – und ignorierte dabei völlig, dass der Badische Kulturkampf erst eine Generation zurücklag. In ihm hatten sich die Katholiken erstmals gegen ihre systematische Benachteiligung durch die staatliche Institutionen Badens aufgelehnt.
Wie auch immer, Max Webers Ideen wuchsen nicht im luftleeren Raum. Aber er fasste die herumschwirrenden Gedanken übersichtlich und überzeugend in zwei viel beachteten Abhandlungen zusammen. Beide umfassten insgesamt nur rund 160 Seiten – und bekanntlich erhöht die Kürze einer Arbeit die Wahrscheinlichkeit, dass sie gelesen wird.
1904 erschien Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Teil I: Das Problem in Band 20 der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 1905 folgte Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Teil II: Die Berufsethik des asketischen Protestantismus in der gleichen Zeitschriftenreihe.
Zweifelhafte Ideale
Nun, zunächst wurde Webers Werk außerhalb der Wissenschaft gar nicht so groß wahrgenommen. Natürlich debattierten die Professoren über seine These, aber die breite Öffentlichkeit nahm den Heidelberger Professor eher als leidenschaftlichen Kommentator zur Tagespolitik wahr. Weber befürwortete vehement imperialistische Ideale und die Kolonialpolitik. Dafür trat er ein, in Leitartikeln für viel gelesene Tageszeitungen, auf evangelischen Kirchenkongressen und in seinen Vorlesungen. Ja, seit 1918 arbeitete er wieder im Lehrbetrieb. Zunächst in Wien, seit 1919 in München.
Doch was er dort zum Teil von sich gab, kann man heute nur noch bedenklich finden. So verteidigte er den Mord am bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner als tapfere Tat. Allerdings fand er, dass man seinen Mörder hätte erschießen müssen. Nicht zu Strafe oder als Abschreckung, sondern um ihn zum Märtyrer zu machen und nicht den jüdischen Sozialdemokrat Eisner.
Max Weber, der selbstverständlich nicht das Elend der Schützengräben gesehen hatte, träumte bis zuletzt von Größe und Adel der deutschen Nation. Er war ein vehementer Revisionist. Lehnte den Versailler Friedensvertrag ab. Er starb 1920. Und man darf sich durchaus fragen, wie die Wissenschaft seine Arbeit heute bewerten würde, hätte er bis zur Machtergreifung gelebt. Zumindest einige Ideale des Nationalsozialismus hätte er wahrscheinlich geteilt.
Marianne Weber
So aber starb der Wissenschaftler mit 56 Jahren an einer Lungenentzündung. Er hinterließ seine 50-jährige Witwe, Marianne Weber, geborene Schnitger. Und die war eine ganz besondere Frau. Hochintelligent. Von einem ähnlichen Arbeitsethos besessen wie ihr Mann. Und der ermöglichte ihr etwas, was die damalige Gesellschaftsordnung eigentlich noch gar nicht vorsah: Sie studierte sie ab 1896 an der Uni Freiburg Philosophie und Nationalökonomie. Als Gasthörerin selbstverständlich, und ohne die Möglichkeiten, irgendwelche Prüfungen abzulegen.
Stattdessen publizierte sie und engagierte sich in der Frauenrechtsbewegung. Sie arbeitete im Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine und richtete eine Rechtsschutzstelle für Frauen ein. Nach dem Krieg kam die politische Gleichberechtigung und Marianne Weber ließ sich für den Badischen Landtag aufstellen. Sie wurde gewählt. Ihre Rede im Jahr 1919 war die erste Rede einer Frau vor dem badischen Landtag.
Aber natürlich war sie in erster Linie Ehefrau. Das war frau damals. Und deshalb gab sie ihr Mandat sofort zurück, als ihr Ehemann den Ruf nach München erhielt. Dort starb er, und Marianne Weber machte mit der gewohnten Effizienz seinen Nachruhm zu ihrem Anliegen.
Sie sammelte sein Werk und veröffentlichte es so, dass es für alle leicht zugänglich zur Verfügung stand. Dafür – nicht für ihre eigenen Leistungen(!) – wurde ihr 1922 die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg verliehen. Sie veröffentlichte 1926 eine einflussreiche und idealisierende Biographie von Max Weber, an deren Wahrheitsgehalt erst im letzten Jahrzehnt Kritik geübt wurde.
Das Nachleben der Thesen Webers
Und dann kam der 2. Weltkrieg. Die USA etablierten sich als die Führungsnation. Und in God’s Own Country gab es einige Soziologen, die Webers Thesen nur zu gerne übernahmen. Talcott Parsons, der zwischen 1925 und 1927 an der Universität Heidelberg Nationalökonomie studiert hatte, übersetzte Webers Protestantische Arbeitsethik nach dem 2. Weltkrieg ins Englische. Er gilt heute als der einflussreichste Theoretiker der Soziologie dieser Epoche.
Webers Thesen passten zu gut in die Nachkriegszeit. Dem American Dream, durch die eigene Leistung vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, wurden so historische Wurzeln verpasst. Der American Way of Life musste doch mit der Protestantischen Arbeitsethik in Verbindung stehen! Talcott Parson brachte seine Weberverehrung zurück nach Deutschland, wo 1964 der Heidelberger Soziologentag dem Werk Webers gewidmet wurde.
Heute gehört Webers These zum Allgemeinwissen. Dass sie schon längst widerlegt ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Wikipedia postuliert sogar, bei Webers Werk würde es sich wohl um die am meisten erörterte wissenschaftliche Einzelleistung im Bereich von Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften handeln. Wissenschaftler haben Webers Methoden kritisiert, ihn mit historischen Fakten widerlegt und seine Auffassungen in seine Biographie und den zeitlichen Hintergrund eingeordnet.
Und nichtsdestotrotz hören sich Webers Überlegungen immer noch verführerisch schlüssig an. Aber so ist das bei populistischen Thesen: Sie klingen umso logischer, je weniger man sich damit aufhält, sie an ALLEN verfügbaren Fakten zu messen.