Reisen bildet. Vielleicht nicht gerade der All-inclusive-Urlaub am Pool im umzäunten Robinson Club. Aber ein Zimmer in einer kleinen Pension der Pariser Innenstadt und schon spüren wir den französischen Esprit um uns herum. Lautes Rufen am Abend? Ach, so ist er halt, der Franzose. Aber was, wenn der vermeintliche Franzose nur ein anderer Tourist ist …? Derartige Schlaglichter auf Ausländer im Paris um 1840 finden wir in dem Buch „Les Étrangers à Paris“. Dieser Band führt uns in eine dramatische Zeit des aufstrebenden Bürgertums, als Paris ein Pulverfass war, an dem die Lunte schon fast abgebrannt war …
Artikeltext:
Revolution liegt in der Luft
Am 24. Februar 1848 ging das Pulverfass in die Luft, Frankreichs Revolutionäre fegten die bürgerliche Monarchie nach kurzem Straßenkampf hinweg. Louis-Philippe hatte begonnen als liberaler König, der das Bürgertum unterstützte. Doch mit den Jahren hatte er sich immer mehr an Österreichs Fürst von Metternich orientiert und war entschlossenen Schrittes rückwärts marschiert zu einer Restauration der alten Ordnung vor der Französischen Revolution.
In diesen Jahren konservativer Politik hing der Geruch von Revolution in der Luft und die Nerven lagen blank. Als der Journalist und Verleger Charles Philipon eine Karikatur des Königs als „Birne“ veröffentlichte (die Zensoren hatten sie übersehen), endete er nach kurzem Prozess im Gefängnis. Doch das Bürgertum liebte bissige Satiren und spöttische Karikaturen. Für die Verleger war es eine Gratwanderung zwischen Auflagenrenner und Kerkerzelle. Bis zur Revolution von 1848 und der Begründung der Zweiten Republik, in der politische Satire möglich war, verlegten sich viele Journalisten daher auf eine weniger gefährliche Spielart des Witzes: die gesellschaftliche Kritik am Spießbürgertum.
Paris anno 1844: Spießer und Touristen
Natürlich erkannte jeder nur seine Mitmenschen in den Karikaturen der konformistischen und drögen Industriellen und Bürger ohne eigene Ideen und Rückgrat. Und so lachten die Leser und kauften fleißig die Schriften. Karikatur und Satire blühten auf, es entstanden zahlreiche Zeitschriften wie der „Punch“ in England und die „Fliegenden Blätter“ in München. Und mit dem Erstarken der Nationalstaaten ergab sich ganz automatisch ein Nebengebiet: Länderklischees. Der deutsche Michel, der englische naserümpfende Aristokrat, der heißblütige Italiener … Doch wie es mit Klischees ist: Sie verraten mindestens ebenso viel über uns wie über die Karikierten. Auf den ersten Blick unpolitische, gleichzeitig aber kurzweilige Themen wie „Pariser Sittenschilderungen“ waren Erfolgsgaranten.
Und hier setzt unser Buch an! Wie viele seiner Kollegen arbeitete auch Louis Desnoyers mehrgleisig: als Journalist und Schriftsteller. Und als Herausgeber eines satirischen Journals, Le Charivari, und anderer Projekte. Was heute Blogs und Twitterkanäle sind, waren damals intellektuelle Bulletins und Sociétés. Gut vernetzt wie er war, versammelte Desnoyers illustre Kollegen für ein Buchprojekt: Theaterkritiker, Journalisten und Schriftsteller wie Louis Huart und Jules Janin. Das Ergebnis erschien 1844: „Les Étrangers à Paris“, also „Die Ausländer in Paris“.
Es handelt sich um eine Sammlung von literarischen Essays aus der Feder verschiedener Autoren. Jeder Text ist einem Typus Ausländer gewidmet: „Der Engländer“, „Der Deutsche“, „Der Schweizer“, „Der Chinese“ usw. Desnoyers beschrieb in seiner Einleitung das Gesamtprojekt. Früher oder später, so meint er, musste dieses Buch geschrieben werden. Schließlich sei ja „Paris die Stadt der Ausländer par excellence, und am wenigsten begegnet man dort Parisern.“
Aber was sind das für „Touristen“, die in dem Buch porträtiert werden? Ein deutscher Philosophiestudent, der in seinem Studium nicht weiterkommt, dem seine Eltern aber diese Art Erasmus-Aufenthalt aus eigener Tasche finanziert haben. Auf „Tiroler Art“ schmettert der Möchtegern-Philosoph bei Tag „Freischütz“-Arien und trötet bei Nacht auf dem Flageolett (einer Art Flöte) Beethoven. Sein (ausländischer) Nachbar vermerkt genervt in seinem Notizbüchlein, dass „die Franzosen“ den Fehler hätten, des Nachts Flageolett zu spielen, ja „alle Franzosen“ täten das. Der skrupulöse Beobachter fragt sich fassungslos, wie dieses Volk bloß lange Zeit als heiterstes Volk Europas habe durchgehen können … Das Buch quillt über vor Platitüden und Klischees!
Die Texte illustrieren Karikaturen, wie wir sie aus den zeitgenössischen Zeitschriften kennen oder aus den Romanen von Charles Dickens. Teils realistisch, teils brutal überzeichnet führen sie den Engländer mit arrogant hoch erhobener Nase vor Augen, wie er Pariser Gebäck begutachtet. Natürlich kein Vergleich zu englischen Kuchen …!
Teils sind die Geschichten in der ersten Person aus der Sicht des Ausländers erzählt, teils mit Blick durch das Mikroskop des Beobachters auf sein ausländisches Studienobjekt. Der Engländer entrüstet sich im Gespräch mit einer Bekannten über die vermeintliche Sittenlosigkeit in Frankreich, wo Liebschaften und offene Beziehungen an der Tagesordnung seien, der Italiener schätzt nur die Frauen seines eigenen Landes. Eine davon, Prinzessin Léonora, fragt sich blasiert, wozu die Ehe wohl überhaupt gut sei, wenn sie einer Frau nicht erlaube, ihren Interessen nachzugehen. In ihrem Fall heißt das: mein Fächer, mein Pferd, meine Musik.
Und wenn man das liest, muss man heute fragen: Wie unpolitisch kann das Politische in einer Zeit gewesen sein, als die französische Gesellschaft innerlich kochte und brodelte und der Thron des Ex-Liberalen Louis-Philippe so stabil stand wie ein Schaukelstuhl?
Reiseliteratur und Massentourismus
Doch diese Touristen in Paris sind auch ein Zeitphänomen, das es eine Generation zuvor nicht gegeben hatte. 1844 war das Bürgertum der neue Adel. Zumindest wollten die Bürger das sein. Und wie? Indem sie die Sitten des Adels übernahmen: Man gründete öffentliche Theater, wie es sie einst nur an fürstlichen Höfen gegeben hatte, man „kultivierte“ sich: Die Töchtern spielten Klavier, die Jungen lernten Sprachen und studierten. Und man reiste!
1827 hatte Konrad Baedeker einen Verlag gegründet für seine Bücher, mit denen er Reisenden praktische Tipps für den Urlaub im Ausland an die Hand gab. 1841 hatte Thomas Cook in England den Massentourismus begründet. Eigentlich wollte er seine Landsleute von der Ginflasche wegbekommen und bot ihnen stattdessen Tee und Kekse an. Um diese Entziehungskur schmackhafter zu machen, setzte er sie in Eisenbahnen und zeigte ihnen die Schönheiten Englands. Und von da an war kein Halten mehr. Einst hatte der Adel seine Grand Tour gemacht, nun gab sich die wohlhabende Bürgerschicht adelig und bildete sich durch Reisen. Tourismus war anfangs eine gleichsam politische Äußerung.
In den 1860er Jahren sollte Mark Twain in „The Innocents Abroad“ mit kritischem Blick die Länder porträtieren, die er bereiste – und sich damit eine goldene Nase verdienen. Spätestens da war auch Paris touristisch überlaufen.
Desnoyers schrieb – entgegen seinen eigenen Worten – noch vor der Zeit des Massentourismus. Ihm dienten die Fremden in der Frühform des Tourismus als perfekte Objekte für Karikaturen, die seine Mitbürger mit Ausländerklischees unterhielten. Und ihnen vielleicht auch ein wenig einen Spiegel vorhielten, um sie zum Nachdenken anzuregen.
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Das Buch selbst ist nicht digital verfügbar. Was Sie hingegen lesen können, ist Mark Twains „The Innocents Abroad“.