Wir schreiben das Jahr 1900. Der industrielle Fortschritt rast, die Städte werden immer voller, das Leben schneller. Auch das Bankengeschäft erlebt im späten 19. Jahrhundert ein starkes Wachstum, sieht zahlreiche Neugründungen und Konsolidierungen. Zur Jahrhundertwende befinden sich die Großbanken – Deutsche Bank, Commerzbank und Dresdner Bank – in Berlin und machen die Stadt zum größten Börsenplatz Deutschlands.
Dieser Großstadttrubel ist für den deutschen Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858–1918) der Inbegriff der modernen Gesellschaft. Als Soziologe interessiert er sich für die Wechselwirkungen von sozialen Beziehungen. Insbesondere möchte er verstehen, wie diese Beziehungen in der Zeit konstituiert sind, in der er lebt. Mit Der Philosophie des Geldes, einem 800-Seiten schweren Wälzer, bietet er eine mögliche Antwort an. Geld wird zum zentralen Symbol des gerade anbrechenden neuen Jahrhunderts. Denn Simmel meint: Wenn wir verstehen wollen, wie die Gegenwart funktioniert, müssen wir zunächst verstehen, wie Geld funktioniert.
Simmels Zugang zu dem Thema ist damals neu. Zwar wurden im 18. und 19. Jahrhundert viele einflussreiche ökonomische Theoriewerke verfasst, in der Regel jedoch aus dem Blickwinkel der Nationalökonomie. Denker wie Adam Smith, David Ricardo oder Thomas Malthus schrieben darüber, wie Preise entstehen, wie Märkte reguliert werden und wie Waren in einem System zirkulieren. Simmel hingegen bezieht bewusst einen philosophischen Standpunkt. Er will dem Wesen des Geldes nachspüren, will wissen, welche Qualität Geld im Kern auszeichnet und wie diese Qualität sich auf die Menschen auswirkt, die tagtäglich damit umgehen.
Artikeltext:
Geld als soziales Medium
Drei wesentliche Eigenschaften des Geldes sollen hier genannt werden. Erstens: Geld hat keinen Wert an sich. Zweitens: Geld ist soziologisch. Und drittens: Geld ist in gewisser Weise neutral, qualitätenlos. Den ersten Satz kann man mehr oder weniger abstrakt verstehen. Einerseits bedeutet er, dass (Geld-)Werte immer nur relational sind, das heißt sie werden durch andere Werte ausgedrückt. Zum Beispiel sind 100 US-Dollar am heutigen Tag 94 € wert. Der eine Geldwert wird durch den anderen Geldwert bestimmt. Konkreter wird es, wenn wir morgens zum Bäcker gehen und Brot kaufen. Hat man vor fünf Jahren den Laib Brot noch für rund 3€ bekommen, muss man heute vielleicht schon 4€ auf die Theke legen. Die 3€ von vor fünf Jahren sind heute weniger wert als damals. Hier bestimmt sich der Wert nicht aus der Relation zu einem anderen Wert (zum Beispiel einer anderen Währung), sondern in Relation zu einem Tauschobjekt. Wir tauschen unser Geld gegen Brot. Treibt man den Gedanken weiter, wie Simmel es tut, kann man sagen, Geld ist nur dann etwas wert, wenn man es gegen etwas eintauschen kann. Gibt es nichts zu tauschen, ist das Geld auch nichts wert. Man denke an Robinson Crusoe, der mit seinen vom Schiff geretteten Silber- und Goldmünzen auf seiner Insel leider gar nichts anfangen kann:
„Kurz, Natur und Erfahrung lehrten mich, bei genauer Betrachtung, daß alle guten Dinge dieser Welt nicht mehr Werth für uns haben, als in so weit wir sie gebrauchen können. […] Ich war, wie ich früher erwähnt habe, im Besitz eines Beutels voll Geld, das aus Silber und Gold ungefähr im Werth von sechsunddreißig Pfund Sterling bestand. Aber, du lieber Gott! da lag nun das schlechte, erbärmliche, unnütze Zeug; ich hatte keine Art von Verwendung dafür, und oft dachte ich bei mir, wie gern ich eine Handvoll davon für eine Anzahl Tabakspfeifen oder für eine Handmühle, um mein Korn damit zu mahlen, geben würde. Ja, das Ganze hätte ich mit Freuden hingegeben für ein wenig englischen Runkelrüben- und Mohrrübensamen oder für ein Häuflein Erbsen und Bohnen und eine Flasche voll Tinte.“
Die zweite Eigenschaft des Geldes, seine soziologische Natur, leitet sich in gewisser Weise aus der ersten ab. Wenn Geld nur dann etwas wert ist, wo es getauscht werden kann, benötigt man mindestens zwei Menschen, die etwas tauschen können. Mit diesem Tauschvorgang setzt Geld als Medium zwei Menschen miteinander in Beziehung; vervielfacht man diese Beziehungen, eine ganze Gesellschaft.
Geld, der „fürchterlichste Nivellierer“?
Die dritte Eigenschaft des Geldes bei Simmel ist die interessanteste. Er behauptet, damit Geld als Umrechnungsmedium für alle anderen Objekte mit unterschiedlichsten Qualitäten genutzt werden kann, dürfe es selbst keine Qualitäten haben. Geld rieche nicht, es schmecke nicht, es habe keine Geschichte. Es mache alles gleich, nivelliere alle Unterschiede und beraube die einzelnen Dinge ihres spezifischen Charakters.
Dass Geld selbst eigenschaftslos sein muss, damit in ihm als Medium umgerechnet werden kann, scheint schlüssig. Ein Büchersammler und ein Liebhaber von Kuckucksuhren etwa haben völlig unterschiedliche Begehren; was für den einen wertvoll ist, hat für den anderen keinen oder nur einen sehr geringen Wert. Dank des Geldes können sie ihre Begehren trotzdem sinnvoll umwandeln. Der Büchersammler kann dem Kuckucksuhrenliebhaber eine alte Uhr verkaufen, die er auf seinem Dachboden gefunden hat und mit dem damit erhaltenen Geld bei einem Antiquar ein neues Buch für seine Sammlung erwerben.
In diesem Sinne bedeutet Geld Freiheit. Gäbe es kein Geld, könnten Büchersammler und Uhrensammler nur direkt Gegenstände miteinander tauschen und das auch nur, wenn der eine hat, was der andere begehrt. Das Geld ermöglicht in diesem Falle für jeden die Freiheit, seinen persönlichen Interessen und Begehren nachzugehen. Es bedeutet ein Mehr an individueller Freiheit.
Dieser Zugewinn an individueller Freiheit durch die Verbreitung von Geldsystemen ist für Simmel eine zentrale Errungenschaft der Moderne. Gleichzeitig sieht er in der Tatsache, dass Geld die unterschiedlichsten Dinge miteinander vergleichbar macht, auch eine negative Entwicklung. Er schreibt:
„indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“
Geld steht also nicht nur größere Freiheit, sondern in Simmels Augen auch für eine gewisse Verflachung der erlebten Welt, für eine unerwünschte Gleichmachung der Dinge. Aber wie tragbar sind seine Thesen? Die größte Kritik an Die Philosophie des Geldes ist, dass Simmel lediglich einen winzigen Ausschnitt der Geldgeschichte betrachtet und dabei bewusst ausklammert, wo Geld herkommt, wie es entsteht und welche Formen es in seiner langen Geschichte bereits durchlaufen hat. Damit handelt er sich viele Probleme ein, wie die Diskussion ein paar ausgewählter Beispiele zeigt.
Die Rationalisierung des Alltags?
Die Allgegenwart des Geldes und die Dominanz der Geldwirtschaft führt, so Simmel, zu einer Rationalisierung des Alltags. Dass der Wert eines jeden Dings in Geld ausgedrückt werden kann führt dazu, dass Dinge nur noch als Quantität einer Geldmenge gedacht werden. Diese kalte Rationalität des Geldes dringe sogar in den Bereich der Liebe vor. Ein kurzer Blick in die Geschichte des Geldes, etwa in die frühe Neuzeit, zeigt zunächst, dass Geld schon lange zum Alltag vieler Gesellschaften gehörte.
In den Dramen William Shakespeares zum Beispiel sind Geldmetaphern omnipräsent. Menschen/Münzen sind wahr oder gefälscht; man möchte erst wissen, aus welchem Metall jemand gemacht ist, bevor man ihn heiratet; man heiratet, weil man hinter der Mitgift her ist; die Marktleute singen davon, wie viel Brot und Fisch kosten. Auch der Theaterbesuch zu Shakespeares Zeiten war ein durch und durch wirtschaftliches Unterfangen, für alle Beteiligten. Theaterbesucher zahlten für die Fähre über die Themse, den Eintritt und gegebenenfalls Bier und Snacks. Shakespeare selbst war zu Lebzeiten ein außerordentlich erfolgreicher Geschäftsmann, der mit seiner Schauspieltruppe Anteile am Theater besaß, in dem sie auftraten. Seine Gewinnbeteiligung führte auch dazu, dass er die Geschmäcker des Publikums durchaus in seiner Stoffwahl miteinbezog und so kommerzielle Bedenken auch beim kreativen Schreiben nicht außer Acht ließ. Kurz: Schon im 16. Jahrhundert dachten die Leute den lieben langen Tag an Geld. Das ist gewiss nicht neu.
Es gibt aber auch Entwicklungen in der Moderne, bei denen zunehmend soziale durch ökonomische Relationen ersetzt werden. Auch wenn es nicht von Simmel selbst stammt, sind die Veränderungen unserer Gesundheits- und Pflegesysteme ein gutes Beispiel hierfür. Die Versorgung von armen, alten und kranken Menschen war jahrhundertelang durch soziale Strukturen in der Gesellschaft geregelt. Diese Menschen wurden von Angehörigen, kirchlichen oder anderen karitativen Trägern gepflegt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich dies mit der Einführung gesetzlicher Sozial-, Kranken- und Rentenversicherungen. Hier wurde also die private Fürsorge in staatliche Hände gegeben.
Inzwischen sehen wir wiederum krasse Veränderungen im Bereich, der heute auch Care Arbeit genannt wird. Weil staatlichen Systeme überlastet sind oder abgebaut werden, fällt die Care Arbeit doch häufig wieder auf Familienmitglieder. Da diese häufig selbst berufstätig sind und keine Kapazitäten haben, die Care Arbeit selbst zu machen, werden externe Pflegekräfte angeheuert. Diese kommen häufig aus dem Ausland und lassen dort nicht selten ihrerseits Familienmitglieder zurück, die dann niemanden mehr haben, der sie pflegt. So entstehen care chains oder auch globale Betreuungsketten. Eine deutsche Familie könnte eine osteuropäische Pflegerin zur Betreuung der demenzkranken Mutter engagieren, während die Osteuropäerin wiederum eine noch günstigere Pflegekraft, etwa aus Asien oder Afrika, dafür bezahlt, sich um ihre eigene Mutter zu kümmern. Im Angesicht einer derart ökonomischen Durchdringung des Sozialen und einer dem globalen Kapitalismus geschuldeten Verkettung ökonomischer Relationen scheint Simmels These von der kalten Rationalität des Geldes doch nicht mehr so weit hergeholt.
Geldwirtschaft als Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart?
Ein weiterer kontroverser Punkt in Simmels gedanklichem Grundgerüst ist seine Entscheidung, Geld als das zentrale Symbol der modernen Gesellschaft zu betrachten. Denn selbst wenn das Bankenwesen um 1900 stark wuchs, war es doch bei Weitem nicht die einzige gravierende gesellschaftliche Veränderung zu dieser Zeit. Es gibt auch Denker und Künstler, die andere Entwicklungen als mindestens genauso prägend, wenn nicht prägender, empfanden. Den technologischen Fortschritt durch die Verbreitung der Eisenbahn, die neue Schnelligkeit der Fortbewegung, die eben auch eine Beschleunigung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Oder die Einführung der Greenwich Mean Time als gesetzlicher Standardzeit in Großbritannien im Jahr 1880, die das menschliche Leben normierte und durchtaktete. Ist der Eindruck, den Simmel vom modernen metropolitischen Leben in Berlin hat, nicht vielmehr ein Konglomerat aus all diesen Entwicklungen? Hier, wie an anderer Stelle, fehlt eine schlüssige Argumentation, um zu zeigen, dass die Geldwirtschaft prägender ist als die anderen genannten Aspekte des modernen Lebens. Es war wohl nie Simmels Absicht, eine hieb- und stichfeste philosophische Abhandlung zu schreiben, weswegen man ihm hier keinen Vorwurf machen kann. Allerdings ist es schade, weil eigentlich hochspannende Ideen oft nicht ausreichend nachvollzogen werden können.
Klassischer Kulturpessimismus
Das gemischte Gefühl, dass der Mangel einer historischen Einordnung in Der Philosophie des Geldes hinterlässt, wird stellenweise von Allgemeinplätzen über den generellen kulturellen Verfall weiter getrübt. Etwa moniert Simmel: „Die gesprochene und geschriebene Sprache ist im Lauf der Zeit immer inkorrekter und nichtssagender geworden. Die privaten und gesellschaftlichen Unterhaltungen sind uninteressanter und flacher als noch vor 100 Jahren.“ Solche Aussagen werden in der Menschheitsgeschichte mit großer Regelmäßigkeit getätigt, weshalb wir ihnen mit einer gesunden Portion Skepsis gegenübertreten sollten. Pflichtet man ihnen bei, gäbe es das Internet nicht, Johannes Gutenberg hätte am besten den Buchdruck erst gar nicht erfunden (Informationsflut!!) und wir würden alle nur händisch Manuskripte schreiben.
Allerdings lassen sich nicht alle von Simmels fortschrittspessimistischen Thesen ganz so leicht von der Hand weisen. Seine Behauptung etwa, bis ins frühe 19. Jh. seien die Wohnungen schlichter und mit weniger Gegenständen ausgestattet gewesen, die Objekte dauerhaft haltbarer und von besserer Qualität. Einerseits möchte man das gleich relativieren. Man denkt vielleicht an den Barock und an Versailles, an dem ja nun wirklich nichts schlicht und einfach war und dann wiederum an die funktional-minimalistischen Wohnkonzepte des Bauhaus in den 1920er und 30ern. Bei einer solchen Einordnung scheint einem eine derart teleologisch gestrickte Behauptung nach der historisch alles immer schlechter wird, nicht haltbar. Die Geschichte entwickelt sich eben oft nicht linear (zum Guten oder Schlechten), sondern in Pendelbewegungen.
Andererseits geistert seit Jahren eine (nicht belegte) Zahl durchs Internet, die besagt, jeder deutsche Haushalt besäße im Durchschnitt 10.000 Dinge. Im Vergleich dazu seien es vor 100 Jahren nur 180 pro Haushalt gewesen. Zwar ist die Zahl nicht in der Form nachweisbar, aber seien wir ehrlich, ob es am Ende 10.000 oder doch nur 5.000 Gegenstände pro Haushalt sind, ist doch egal. Beides wäre ein absurd hoher Anstieg. Jedes Jahr werden knapp 60.000 Tonnen Altkleider, Ergebnis der sogenannten „fast fashion“ Industrie, in der Atacama-Wüste in Chile verbrannt. Sechzigtausend Tonnen. Und da muss man Simmel eben doch wieder beipflichten: Wir haben durchaus heute viel mehr Zeug als noch vor 100 oder 200 Jahren. An diesem Beispiel zeigt sich etwas, das für Simmels gesamtes Werk gilt. Obwohl es oft schwer verständlich ist und viele seiner Thesen nicht in Gänze haltbar sind, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit seinen Gedanken auch heute noch.
Geld als Selbstzweck?
Einer der überzeugenderen Punkte, die Simmel in seinem Text macht, betrifft eine interessante Eigendynamik des Geldes. Einerseits hat Geld, wie bereits ausgeführt, keinen absoluten sondern lediglich einen relativen Wert. Es ist ein Mittel zum Zweck, zum Beispiel indem ich mit meinem Geld Essen kaufe oder ins Kino gehe. Gleichzeitig bewirkt die Tatsache, dass wir den Wert von Dingen immer in Geld angeben, dass sich dieses Verhältnis verdreht: Wir begehren Dinge, weil sie entweder besonders teuer sind (Gier) oder weil sie besonders günstig sind (Geiz). Außerdem wird aus dem relativen Wert des Geldes in gewisser Weise ein absoluter, Geld wird vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck. Menschen wollen große Geldmengen besitzen, obwohl wir eigentlich mit der Prämisse begonnen haben, dass das Geld selbst Wert hat, sondern nur die Dinge, die man damit kaufen kann.
Interessant ist auch, dass sich in den Industrienationen in Westeuropa und Nordamerika in den letzten Jahren das Verhältnis jüngerer Generationen zu Geld diesbezüglich zu ändern scheint. Immer mehr Arbeitnehmer wünschen sich mehr Freizeit und sind dafür bereit, auf Gehalt zu verzichten. In Simmels Bild gesprochen hieße das, dass Geld zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen wieder stärker als Mittel zum Zweck gesehen wird. Man kauft sich Zeit – für Familie, Freunde, Hobbies – und bezahlt damit mit einem Teil seines Lohns. Diese Präferenz können gerade ältere Generationen nicht immer nachvollziehen, sind sie selbst doch mit anderen Werten aufgewachsen. Man könnte auch sagen, sie sind anders sozialisiert worden. Denn Geld ist – und hier kann man Simmel beipflichten – immer auch ein soziologisches Phänomen und wichtiger Spiegel unserer Gesellschaft.