Im Jahr 1687 erschien in der angesehenen venezianischen Druckerei Girolamo Albrizzi ein Buch, das nüchtern als „Genaue Beschreibung der Peloponnes“ betitelt ist. Tatsächlich führt der Druck den Leser systematisch durch die Gegenden und Orte der griechischen Halbinsel, ist mit zahlreichen Kupferstichen illustriert und beschreibt Geschichte, Geographie und politische Situation dieser Region. Die Veröffentlichung fällt in eine dramatische Zeit und ihr politischer Gehalt offenbart sich erst vor dem historischen Hintergrund. Denn Albrizzis Buch ist alles andere als ein kultureller Reiseführer für pensionierte Griechischlehrer …
Artikeltext:
Peloponnes: Zankapfel zwischen Osmanen und Venezianern
Öffnen wir also das Tableau: Seit Jahrhunderten lagen die christlichen Reiche Europas mit dem muslimischen Nachbarn am Bosporus, dem Osmanischen Reich, im Krieg. 1683 belagerten die Osmanen Wien, die Hauptstadt des Habsburgischen Reichs. Im folgenden Jahr schlossen sich das Heilige Römische Reich, Polen und Venedig zur Heiligen Allianz zusammen – im Kampf gegen die „Ungläubigen“ durfte es nicht weniger hochtrabend sein. Während sich die Heere auf dem ganzen Balkan umkreisten, belagerten und abschlachteten, nutzten die Venezianer den Moment der Stunde und schlugen auf einem Nebenschauplatz zu: in Griechenland.
Griechenland war damals tiefste Provinz, es gab keine kunstsinnigen Fürsten wie in Italien, keine einigende politische Hand. Die kulturelle Großmacht der Antike war eine kleine Provinz des osmanischen Reichs, die immer wieder gegen venezianische Vorstöße verteidigen werden musste. Denn für die Handelsmacht Venedig lagen Griechenland und die zahlreichen Ägäisinseln strategisch günstig und stellten eine ständige Verlockung dar. Gleichzeitig durfte man den Bogen nicht überspannen, schließlich kontrollierte die Hohe Pforte die Handelswege in den Orient und den Fernen Osten, auf die Venedig angewiesen war.
1684 aber warben die Venezianer Soldaten in Hannover und Sachsen an und schickten eine Flotte unter Leitung ihres Generals Francesco Morosini über die Adria. Während die Hauptverbände der Osmanen anderweitig gebunden waren, eroberte Morosini in den nächsten fünfzehn Jahren die Peloponnes und weite Teile Festlandgriechenlands.
Reiseführer, Wirtschaftsregister, Propagandaschrift?
Bereits 1687 war die komplette Peloponnes fest in venezianischer Hand. Genau in diesem Moment publizierte Girolamo Albrizzi seine „Genaue Beschreibung der Peloponnes“. Er nennt keinen Autor (unterstellen wir daher der Einfachheit halber, er selbst habe den Text beigesteuert) und hüllt sich in Schweigen, was seine Quellen angeht. Gewidmet ist die Schrift Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth, der sich militärisch vor Wien hervorgetan hat. Ob er den Druck mitfinanzierte? Wir wissen es nicht. Möglicherweise sollte auch die enge Verbindung zu den deutschen Alliierten betont werden. Denn ganz offensichtlich verfolgte Albrizzi politische Ziele.
Sein Werk ist systematisch angelegt. Nach einem kurzen historischen Abriss über die Geschichte der Peloponnes stellt er die einzelnen Verwaltungsbezirke der Halbinsel vor, Stadt für Stadt. Er listet auf, welche wirtschaftliche Leistung die jeweilige Region erbringt, Oliven, Seide, Leinen und vieles mehr. Stellenweise gerät Albrizzi ins Schwärmen über die Reichtümer der Peloponnes, bzw. der Morea, so der in den romanischen Sprachen übliche Name. Illustriert sind die Kapitel mit zahlreichen detaillierten Stichen von Festungen und Dörfern, Häfen und Türmen, aber auch dramatische Kriegsszenen fehlen nicht.
Eingeflochten sind dabei tagesaktuelle Beschreibungen, so brandaktuell wie es das Medium Druck nur erlaubte. Hier zeigt sich wohl Albrizzis Ader als Zeitungsverleger. Er firmierte für mehrere Journale, die weit über Venedig hinaus kursierten und im Stil von Flugblättern als Twittervorläufer schnell und wohl kaum objektiv über die neuesten geopolitischen Vorfälle informierten. Schon im Untertitel betont er, dass er die „neuesten Eroberungen vom Jahr 1684 bis zum heutigen Tage“ darstelle.
Und natürlich kommen die Venezianer in diesem Buch gut weg, um es zurückhaltend zu formulieren. Gleich in der Einleitung wurde die Stoßrichtung klar angelegt: Die Griechen freuten sich, dass ihnen endlich das osmanische Joch von den Schultern genommen wurde und sie nun aufbrechen durften in Zeiten der Freiheit und des Wohlstandes.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die ganze Schrift liest sich wie ein Propagandadruck, der den Venezianern vor Augen führte, wie wichtig der Krieg war, der in Griechenland geführt wurde und um welche Reichtümer es dort ging. Und natürlich auch wie erfolgreich General Morosini die Interessen der Serenissima vertrat.
Morea: Königreich ohne König
Albrizzi setzte damit aufs richtige Pferd. Morosini war so erfolgreich, dass er 1688 zum Dogen von Venedig gewählt wurde. Ein paar Jahre später erhielt er ganz im Stil der glorreichen römischen Feldherrn und Kaiser den lateinischen Titel „Peloponnesiacus“, also etwa „Unterwerfer der Peloponnes“.
In der Tat trifft der Titel die Situation der Peloponnes sehr gut. Von wiedergewonnener Freiheit konnte nämlich keine Rede sein. Die muslimischen Bewohner waren geflohen, erste Zählungen im Jahr 1691 kamen auf rund 97.000 Bewohner im neugegründeten Königreich Morea; vor der „Befreiung“ sollen dort mehr als doppelt so viele Menschen gelebt haben. Das vermeintlich unabhängige „Königreich“ war eine Farce; es gab keinen, gar griechischen, König, nur einen venezianischen Generalstatthalter (provveditore generale) und eine straffe Organisation, mit der die Serenissima die Halbinsel wie eine Kolonie auspresste. Gleichzeitig schlugen Venedigs Versuche, die Wirtschaft anzukurbeln, fehl, und bald flohen so viele griechische Untertanen über die Grenze ins Osmanische Reich, dass die Venezianer die Grenze bewachen mussten, um nicht alle ihre Knechte zu verlieren.
Die Griechen waren vom Regen in die Traufe gekommen. Dieselben griechischen Guerillakämpfer, die vor kurzem die Venezianer von innen heraus gegen die Osmanen unterstützt hatten, wandten sich nun an der Seite ihrer alten Herren gegen die neuen. 1714 überrannte ein 70.000 Mann starkes osmanisches Heer die kaum 5.000 Mann umfassenden Besatzer und schloss die Morea wieder an.
Was blieb von der venezianischen Zeit? Die Reste des Parthenon, den ein tatkräftiger deutscher Kanonier 1687 zerstörte, indem er mit einem Volltreffer das dort stationierte Pulverlager der Osmanen in die Luft jagte – und mit ihm das Aushängeschild der griechischen Antike; eine verarmte Provinz; und ein Buch, das von den wirtschaftlichen Reichtümern der Peloponnes träumte und deren politische Freiheit in bunten Bildern malte, bevor die Träume platzten.
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Die Bayerische Staatsbibliothek bietet das komplette Digitalisat von Albrizzis „Genauer Beschreibung der Peloponnes“.