Im Jahr 1880 publizierte der berühmt-berüchtigte Sozialist Paul Lafargue in der Zeitschrift L’Égalité seine Streitschrift Le droit à la paresse, zu Deutsch, Das Recht auf Faulheit. Darin postulierte er, die Arbeiter hätten es selbst in der Hand, ihre Lebensumstände zu verbessern. Schuld an ihrem Elend sei ausschließlich ihre bürgerliche Arbeitsethik. Heutzutage, wo sogar Job-Ausschreibung das Schlagwort „Work-Life-Balance“ thematisieren, fragt man sich, ob die Thesen von Paul Lafargue in den Köpfen der Arbeitnehmer angekommen sind.
Artikeltext:
Wer war Paul Lafargue und wann lebte er?
Paul Lafargue (1842-1911) gehört zu den Berufsrevolutionären des 19. Jahrhunderts, die das Los der arbeitenden Klasse zu ändern versuchten, ohne je selbst körperlich gearbeitet zu haben. Seine Eltern ermöglichten ihm ein Medizinstudium in Paris. Doch Lafargue interessierte sich mehr für den Sozialismus als für Vorlesungen.
Eine leidenschaftliche (und vielleicht unbedachte) Rede während eines Studentenkongresses in Belgien trug ihm auf Lebenszeit die Verbannung von allen französischen Hochschulen ein. So bezahlten die Eltern eben das Studium in London. Dort suchte Lafargue wieder Kontakt zu revolutionären Kreisen. Dabei lernte er u. a. Friedrich Engels, Karl Marx und dessen Tochter Jenny besser kennen. Er heiratete sie, was ihm die großzügige finanzielle Unterstützung von Engels eintrug. So musste Lafargue nie praktizieren, sondern konnte sich unbeschwert von Geldsorgen auf die Agitation konzentrieren.
Sein Buch La droit à la paresse veröffentlichte er 1880 als Beitrag für eine sozialistische Zeitschrift. Es war sein erster eigenständiger Lösungsvorschlag hinsichtlich der Arbeiterfrage. Lafargue überarbeitete den Text während eines Gefängnisaufenthalts im Jahr 1883 und publizierte ihn als Monographie. Wenig später wurde Das Recht auf Faulheit bereits in die deutsche Sprache übersetzt. Dieses unterhaltsam geschriebene Büchlein wurde Paul Lafargues bekanntestes Werk.
Noch höheren Bekanntheitsgrad erlangte der Sozialist übrigens durch sein Ende: Er nahm sich und seiner Frau Jenny in der Nacht vom 25. auf den 26. November 1911 das Leben. Er hinterließ einen Brief, in dem er der Welt mitteilte, dass er sich vorgenommen habe zu sterben, wenn er der sozialistischen Sache nicht mehr von Nutzen sei. Mehr als 15.000 Menschen sollen damals dem Sarg gefolgt sein, darunter auch Lenin.
Die bürgerliche Arbeitsethik
Man kann Paul Lafargues Werk nicht verstehen, ohne sich vorher mit dem bürgerlichen Arbeitsethos zu beschäftigen. Das war im 19. Jahrhundert noch ziemlich neu. Durch die Bankrotterklärung der Standesgesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts, bei der die Geburt den Stand eines Menschen definierte, hatte sich eine neue Gesellschaftsform etabliert, die wesentlich durchlässiger war. Nun spielte das Geld die entscheidende Rolle. Wer auf Grund seiner eigenen Leistung genug Geld verdiente, konnte gesellschaftlich aufsteigen.
Paul Lafargues Eltern sind ein gutes Beispiel dafür, was diese „Leistungsgesellschaft“ ermöglichte: Die Arbeit auf ihrer kubanischen Kaffeeplantage verschaffte ihnen das Geld, um nach Frankreich zu gehen, als wohlhabende Rentiers zu leben und ihrem Sohn eine hervorragende Ausbildung zu finanzieren. Notwendig gewesen war für ihren Erfolg harte Arbeit, Fleiß, Geschick, Durchhaltevermögen und ein hoher Grad an Eigeninitiative, eben die Eigenschaften, die das bürgerliche Arbeitsethos verherrlichte.
Theoretisch stand jedem, der über diese Tugenden verfügte, der Aufstieg offen. Vom Tellerwäscher zum Millionär! Auch wenn dieses Bild erst Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten formuliert wurde, waren die damit verbundenen Möglichkeiten schon im 19. Jahrhundert attraktiv. Deshalb forderten die bürgerlichen Politiker nicht soziale Veränderungen, sondern Chancengleichheit. Sie hielten das für ausreichend, da so scheinbar jeder, der sich dem bürgerlichen Arbeitsethos unterwarf, die Möglichkeit zum Aufstieg hatte.
Die Arbeitssucht
Theoretisch galt diese Möglichkeit auch für Mitglieder der Arbeiterklasse. Praktisch war der Prozentsatz derer, die den Aufstieg schafften, verschwindend klein. Paul Lafargue thematisiert nun in seinem Buch die Gefahren, die eine Verinnerlichung der bürgerlichen Arbeitsmoral für den Fabrikarbeiter mit sich bringt. Er stellt dem Recht auf Arbeit (und Aufstieg) das Recht auf Faulheit gegenüber.
Dabei postuliert Paul Lafargue, dass die ganze Arbeiterschicht von etwas ergriffen sei, das er als Arbeitssucht bezeichnet. Diese Indoktrination sei durch „die Priester, Ökonomen und die Moralisten“ verbreitet worden, die „die Arbeit heiliggesprochen“ hätten. Dadurch sei es den Kapitalisten gelungen, die Arbeiter derart zu verblenden, dass „die Proletarier 1848 mit den Waffen in der Hand“ ihr Recht auf Arbeit „forderten“.
Damit hätten sie sich selbst geschadet. Zu viel Arbeit mache nämlich krank. Er vergleicht die bleichen und gebeugten „Maschinenmenschen“ Englands, der Auvergne und Oberschlesiens mit den „kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusiern“ in Spanien und mit den „stolzen Wilden“, die noch nicht „durch Christentum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpiert“ worden seien.
Er erinnert daran, dass es bei den freien Griechen einst nur den Sklaven „gestattet“ war zu arbeiten, und dass es gerade in den fortschrittlichsten und am meisten industrialisierten Regionen den Arbeitern am schlechtesten gehe.
Überproduktion als Grund der Kolonisation
Mag man auch den ersten Teil von Lafargues Buch für romantisierend und weltfremd halten, ist der zweite Themenkomplex hoch spannend und aktuell. Der Autor konstatiert, dass Überproduktion eine Folge aus der Kombination von unternehmerischer Gewinnsucht und Arbeitssucht der Fabrikarbeiter sei. Mit anderen Worten: Um möglichst viel Gewinn zu erzielen, müsse der Unternehmer möglichst viel produzieren. Dies sei aber nur möglich, weil ein Heer von arbeitssüchtigen Arbeitern bereit stehe.
Überproduktion zieht nicht nur fehlende Absatzmöglichkeiten – und dadurch hervorgerufen finanzielle Probleme für den Unternehmer – nach sich, sondern auch einen Mangel an Rohstoffen. Beides sei, so Lafargue, dafür verantwortlich, dass sich die westlichen Industriestaaten einen Wettlauf um Kolonien liefern würden. In den Kolonien hofften sie, gleichzeitig ihre überflüssigen Produkte zu verkaufen und zusätzliche Rohstoffe zu erwerben.
Lafargue schreibt dazu: „...sie schreien nach Handelskolonien am Kongo, sie verlangen die Eroberung Tongkings, sie zwingen ihre Regierung, die Mauern Chinas zu zertrümmern, nur damit sie ihre Baumwollartikel absetzen können. In den letzten Jahrhunderten kämpften England und Frankreich ein Duell auf Leben und Tod, wer von beiden das ausschließliche Privileg haben werde, in Amerika und Indien zu verkaufen.“
Faulheit als Motor der Innovation
Weil nun die Arbeiter nach Arbeit süchtig sind und dementsprechend günstig arbeiten, hat es der Unternehmer nicht notwendig, die menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Oder anders herum: Nur wo die Arbeit teuer ist, kommt es zu innovativem Denken. Er schreibt: „In Amerika bemächtigt sich die Maschine aller Zweige der Ackerbauproduktion, von der Butterfabrikation bis zum Getreidejäten. Warum? Weil die Amerikaner, frei und faul, lieber tausend Tode sterben, als das Viehleben eines französischen Bauern zu führen. Die im glorreichen Frankreich so mühsame, mit so vielem Bücken verbundene Arbeit ist im Westen Amerikas ein angenehmer Zeitvertreib in freier Luft, den man sitzend genießt und dabei gemütlich seine Pfeife raucht.“
Dieses faule Leben will Lafargue für alle Arbeiter. Die durch die Maschine gewonnene Zeit soll deshalb nicht genutzt werden, um noch mehr überflüssige Produkte herzustellen, sondern um dem Arbeiter mehr Freizeit zu schenken. Er schreibt: „Wenn denn ... die von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge notwendigerweise durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber gleichmäßig auf die 12 Monate verteilen und jeden Arbeiter zwingen, sich das Jahr über täglich mit fünf oder sechs Stunden zu begnügen, anstatt sich während sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben.“
Und damit leitet Lafargue über zu seiner Utopie einer großartigen Zukunft, in der die Menschen weniger arbeiten und in Eintracht das von ihnen Produzierte verzehren.
Der Denkfehler
Eigentlich scheinen die Ideen von Paul Lafargue auf den ersten Blick bestechend. Nur noch das produzieren, was die Welt wirklich braucht, das Produzierte gerecht verteilen und in Frieden und Freude gemeinsam verzehren. So müsste das Paradies auf Erden aussehen.
Das Problem dabei ist, dass die Bewohner dieses irdischen Paradieses keine Engel sind, sondern Menschen, denen ihr eigenes Wohlergehen am wichtigsten ist. Denken wir an den nationalen Egoismus. Wir erleben gerade wieder, wie unwillig selbst die Bürger der wohlhabendsten Nationen reagieren, wenn sie ihren Reichtum mit einigen wenigen anderen teilen sollen.
Man stelle sich vor, eine Weltregierung würde die westlichen Nationen dazu zwingen, ihren Überfluss mit den Bewohnern des globalen Südens zu teilen. Wir könnten nicht mehr reisen, müssten auf das Auto verzichten, und in der Freizeit würden wir Bibliotheksbücher lesen statt shoppen zu gehen. So eine Umverteilung wäre einvernehmlich nicht durchführbar, und zwar selbst wenn alle Menschen auf der Welt danach genau gleich viel Arbeit mit genau gleich viel Output leisten würden.
Denn da stehen wir vor dem nächsten Problem: Arbeit ist in unserer Welt nicht gleichmäßig verteilt. Und anders als Lafargue postulierte, geht es nicht denen schlecht, die in hochindustrialisierten Ländern leben, sondern im Gegenteil. Daran ändert sich seit Generationen nichts, und das obwohl unsere Ministerien für Entwicklungshilfe mit Hochdruck daran arbeiten, diese Situation zu verbessern.
Deshalb wirken Paul Lafargues idealistische Ideen sehr, sehr weltfremd. Sie erinnern mich ein wenig an das Perpetuum Mobile, das theoretisch durchaus funktionieren sollte - in einer perfekten Welt ohne Reibung. Aber weil es diese perfekte Welt nicht gibt, sind Lafargues Überlegungen für den Alltag genauso unbrauchbar wie das Perpetuum Mobile.
Was hat Paul Lafargue mit unserer Work-Life-Balance zu tun?
Aber, so könnte man widersprechen, wollen wir nicht die wunderbaren Ideen von Lafargue wenigstens für unsere eigenen Länder übernehmen? In Deutschland, der Schweiz, in Frankreich und vielen anderen Nationen Europas sollte es doch möglich sein, dass alle weniger arbeiten!
Nun, das tun wir doch schon. Wir leben in einer Welt, in der es selbstverständlich geworden ist, sich die Arbeit auszusuchen. Natürlich nicht irgendwelche Schwerarbeit: Für die Müllabfuhr und den Schlachthof holen wir uns unsere Ausländer ins eigene Land. Alles andere ist wir ausgelagert. Unsere Billig-T-Shirts werden in Billig-Lohnländern produziert. Wie unsere Nahrungsmittel hergestellt werden, wollen wir eigentlich gar nicht so genau wissen. Hin und wieder entrüsten wir uns über Blutdiamanten und Kinderarbeit und vergessen sofort, wer unseren Elektroschrott recycelt.
Eigentlich hatte Lafargue dafür exakt das richtige Bild: Wie die freien Griechen sich ihre politische Teilhabe nur deshalb leisten konnten, weil Sklaven für sie die Arbeit taten, leben wir im Luxus, weil unsere Sklaven im globalen Süden nicht das Glück hatten, in unserer Leistungsgesellschaft mit Aufstiegsmöglichkeiten zu leben.
Denn eines hat Lafargue natürlich nicht ahnen können: Dass die industrielle Revolution den Wohlstand der westlichen Welt so sehr heben würde, dass heute ein Arbeiter besser lebt als im 19. Jahrhundert ein wohlhabender Bürger.
Zur Nachwirkung von Paul Lafargues Recht auf Faulheit
Übrigens, es ist durchaus spannend, dass gerade der real existierende Sozialismus so gar nichts mit Lafargues Recht auf Faulheit anfangen konnte. In der UdSSR und der DDR waren seine Werke zwar nicht verboten, wurden aber auch nicht gedruckt oder übersetzt. Überraschend bei einem Schwiegersohn von Karl Marx, der zu seiner Zeit ein so bekannter Sozialist war.
Größere Aufmerksamkeit fanden Lafargues Thesen erst, als sich die Jugend der 1968er Jahre aufmachte, mit Blumen im Haar nach San Francisco zu ziehen, während ihre Eltern für sie die Brötchen verdienten.