Oh Du Fröhliche Weihnachtszeit: Charles Dickens Weihnachtserzählungen
Charles Dickens gehört noch heute zu den beliebtesten Autoren der englisch sprachigen Welt. Das liegt an seinen wunderbaren Charakteren. Sie geben dem Leser die Illusion, durch die Identifikation mit den liebenswürdigen Armen auf der richtigen, der guten Seite zu stehen. Charles Dickens ist Wohlfühlliteratur vom Feinsten, gerade in der Weihnachtszeit.
Es ist rund ein halbes Jahrhundert her, dass meine Mutter und ich in der Münchner Fußgängerzone unsere Weihnachtseinkäufe machten. Aber ich erinnere mich gut, dass sie an keinem der unzähligen Bettler vorbei gehen konnte, ohne ihm wenigstens 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Diese Gewohnheit hatte sie von ihrem Vater. Er war 1901 geboren und damit viel zu jung, um während des Ersten Weltkriegs an die Front geschickt zu werden. Diese Tatsache erfüllte ihn mit Dankbarkeit und einem schlechten Gewissen. Er lehrte meine Mutter, all den unglücklichen Kriegsversehrten, die nach dem Ersten Weltkrieg in den Straßen bettelten, wenigstens eine Kleinigkeit zu geben.
Jahrelang folgte ich brav und ein wenig ängstlich, wenn meine Mutter mich schickte, um dem Bettler seine 20 Pfennige in den Hut zu werfen. Und dann kam die Pubertät. Ich machte mir so meine eigenen Gedanken und fühlte mich bald weit erhaben über solch nutzlose Symptombekämpfung! Ich diskutierte stattdessen in politischen Arbeitskreisen bei Cola und Salzstangen darüber, wie wir die Bauern in Nicaragua unterstützen und die Hungersnot in Äthiopien mildern könnten.
Weder die 20 Pfennig meiner Mutter, noch meine leeren Worte haben irgendwas gegen das Elend der Welt ausgerichtet. Aber sowohl sie als auch ich haben uns dabei als etwas bessere Menschen gefühlt. Und genau diese Sehnsucht nutzen heute unzählige NGOs für ihre Spendenkampagnen, nutzte vor rund anderthalb Jahrhunderten Charles Dickens, um seine Weihnachtsgeschichten zu verkaufen.
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Das Geschäftsmodell von Charles Dickens
Charles Dickens war nämlich nicht nur ein Autor; er war auch ein hervorragender Geschäftsmann, für den Geld eine entscheidende Rolle spielte. Das lag in seiner Kindheit begründet. Er stammte aus einer bürgerlichen Familie, doch die Sorglosigkeit seines Vaters in Gelddingen brachte die ganze Familie ins Schuldgefängnis und lastete dem 12-jährigen Charles die Verantwortung auf, zum Familienunterhalt beizutragen. Er musste die Schule verlassen, um in einer Fabrik für sechs Shilling die Woche Etiketten auf Schuhpolitur zu kleben. Nur eine glückliche Erbschaft verhütete es, dass der kleine Bub aus der Schicht der Bürger in die der Arbeiter abrutschte. Durch die Erbschaft kam der Vater aus dem Schuldgefängnis frei, Charles wurde wieder in die Schule geschickt und vergaß sein Leben lang nie mehr, dass nur ein geregeltes Einkommen soziale Sicherheit bietet.
Und genau dieses geregelte Einkommen war selbst für einen erfolgreichen Schriftsteller nicht ganz einfach zu erzielen, vor allem wenn er wie Charles Dickens einen großen Haushalt mit Frau und zehn Kindern sowie eine Schar armer Verwandter zu versorgen hatte. Deshalb erfand der Erfolgsautor eine völlig neue Form des Publizierens. Statt einen Roman erst zu schreiben, um ihn dann zu veröffentlichen, publizierte Charles Dickens in Teilen. Er ließ die einzelnen Teile in Zeitschriften drucken oder auf eigene Kosten billige Broschüren drucken, die für wenige Pence auch der einfachste Bürger kaufen konnte. Danach erst erschien das fertig gebundene Buch, das eher die reicheren Bürger erwarben.
Diese Form des Schreibens Dickens zusätzlich die Möglichkeit, Einblick in das Kaufverhalten seiner Leser zu gewinnen. Welche Geschichten liefen besonders gut? Welche verkauften sich schlecht, brauchten also noch einen zusätzlichen emotionalen Spin in der Handlung? Dickens lieferte, was seine Leser wünschten.
Wovon man zu Weihnachten träumen will
Und er kannte diese Leser genau. Er wusste, dass eine ordentliche bürgerliche Familie an den langen, kalten Winterabenden vereint im Salon saß und versuchte, sich die gepflegte Langeweile irgendwie gemeinsam zu vertreiben. Eine Geschichte vorzulesen, war da ein wunderbarer Zeitvertreib. Und so erschien A Christmas Carol punktgenau zu Weihnachten 1843.
Die Geschichte war so konzipiert, dass man zwischen den einzelnen Kapiteln Lunch und Tee einnehmen konnte. Sie war familienfreundlich und ihr Inhalt verärgerte nicht einmal die sittenstrengste Tante, die das Weihnachtsfest vom Land in die Stadt getrieben hatte. Der Plot war passend in die Weihnachtszeit eingebettet und stellte mit einer Variante zum reuigen Sünder ein anrührendes Thema dar, das jeden Leser überzeugte, dass die Welt letztendlich doch nicht ganz schlecht ist.
Denn die Protagonisten von A Christmas Carol kannten die Leser nur zu gut aus ihrem eigenen Alltag: Den gnadenlosen Menschenhasser Scrooge, für den zu Beginn der Geschichte nur sein Einkommen zählt, den armen, aber loyalen Sekretär Fezziwig, der trotz redlicher Arbeit nicht genug Lohn erhält, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu bestreiten. Seinen kleinen Sohn Tiny Tim, der eine Krankheit hat, die unbehandelt tödlich endet, aber mit nur etwas Geld besiegt werden kann. Da sind die wohlmeinenden Bürger, die in der Vorweihnachtszeit von Haus zu Haus ziehen, um für die Armen milde Gaben zu sammeln. Und da ist dieser so freundliche Neffe, der seinen einsamen und ziemlich unleidlichen Onkel zur heimatlichen Weihnachtsfeier einladen will.
Ach, was ist diese Geschichte doch für ein wunderbarer Balsam auf die wunde Seele! Die Armen sind geduldig und ertragen ihr Schicksal Gott ergeben. Ausbeuter Scrooge ist gar nicht so schlimm und sieht sofort seine Fehler ein, als man sie ihm eindringlich vor Augen stellt. Mit anderen Worten: Die Welt ist gut, exakt das, was man zu Weihnachten hören möchte. Am Ende sind alle glücklich und rufen lauthals durcheinander Fröhliche Weihnachtszeit!
Dickens Weihnachtsgeschichten: Ein finanzielles Erfolgsmodell
A Christmas Carol kam an. Es wurde ein einzigartiger finanzieller Erfolg. Bereits vor dem Weihnachtsfest 1843 waren 6.000 Exemplare davon verkauft! Und damit war die Nachfrage noch lange nicht befriedigt. A Christmas Carol wurde zu einem Longseller, der unsere Vorstellungen von Weihnachten nachhaltig beeinflusst hat.
So gab Dickens auch im folgenden Jahr eine Weihnachtsgeschichte heraus. Sie hieß Chimes – Die Glocken von London und war so traurig, dass die Leser sie nicht mochten – und nicht kauften.
Und das bedeutete für Dickens, dass seine nächste Weihnachtsgeschichte Das Heimchen am Herd wieder all das bieten musste, was man schon aus A Christmas Carol kannte: Eine entzückende arme Kranke, die ihr Leid geduldig erträgt. Einen reuigen Sünder und lauter wohlmeinende Leute, die den Geist der Nächstenliebe um sich herum verbreiten. Das traf ins Schwarze. Das Heimchen am Herd verkaufte sich nicht nur wie die sprichwörtlichen warmen Wecken, sondern siebzehn verschiedene Londoner Theater adaptierten es für die Bühne – und zwar innerhalb eines Monats nach Erscheinen des Buchs!
Auch wenn Dickens noch mehrere Weihnachtsgeschichten passend zum Datum ablieferte, kamen sie weder literarisch noch finanziell an A Christmas Carol und Das Heimchen am Herd heran. So wurden die beiden Geschichten immer wieder aufgelegt, und als Charles Dickens öffentliche Lesungen als einträgliche Geldquelle entdeckte, wurde A Christmas Carol sein Renommierstück.
Realität oder Märchen: An Weihnachten erlauben wir uns zu träumen
Natürlich weiß jeder Leser von A Christmas Carol, dass es sich dabei um ein Märchen handelt! Und trotzdem ist die Vorstellung, dass die Welt besser werden kann, zu schön, um sie aufzugeben. Besonders an Weihnachten träumen sogar eingefleischte Atheisten davon, dass Aschenputtel den Prinzen heiratet, der kleine Lord die Lebensumstände einer Grafschaft verbessert und Ebenezer Scrooge vom Ausbeuter zum Wohltäter wird.
Wir brauchen Geschichten wie diese, um angesichts der Realität nicht zu verzweifeln. Wir brauchen diese Geschichten genauso wie wir die kleinen Gesten der Mildtätigkeit brauchen: Die Gabe an den Bettler und das Reden darüber, wie man die Welt verbessern könnte. Aber wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Geschichten, kleine Gaben und wohlmeinende Reden nur uns selbst helfen, uns besser zu fühlen. Die Welt verändern, erfordert ein wenig mehr Anstrengungen.